Kapitel 2
Verrat im Stillen.
Maurices Sicht
„Vater! Bitte … wach auf!“, schrie ich und rüttelte ihn immer wieder, doch sein Kopf sank nur schlaff gegen meinen Arm.
Blut floss aus seinem Mundwinkel, warm und dunkel auf meinen Händen.
„Nein! Verlass mich nicht!“, rief ich mit zitternder Stimme, Tränen rannen mir über die Wangen.
Jasper stürzte vor. „Geht beiseite!“, schrie er und ließ sich neben uns fallen.
Er presste seine Finger an Vaters Hals, und sein Kiefer verkrampfte sich.
„Sein Puls … er wird schwächer! Ruft den Arzt!“
Selena keuchte hinter mir und drückte ihren Sohn fest an sich. „Oh Gott …“, flüsterte sie, ihr Blick fiel auf das Blut, das unter Vaters Kinn hervorquoll.
„Wie konnte das passieren?“
Ich konnte nicht antworten, meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich konnte ihn nur festhalten und beten, dass er die Augen öffnete.
„Vater, ich bin’s, bitte, es wird alles gut“, rief ich, aber er rührte sich nicht.
Der Rudelarzt kam mit zwei Assistenten angerannt. Sie knieten sich schnell hin und versuchten, ihn wiederzubeleben, doch nach einer Minute sah einer von ihnen Jasper an und schüttelte den Kopf.
„Kein Herzschlag“, sagte der Arzt leise.
Ich erstarrte. „Was … was meinen Sie mit keinem Herzschlag?“, flüsterte ich.
„Ihm ging es doch gut! Er hat doch noch vor wenigen Minuten gesprochen!“
Der Arzt antwortete nicht, sondern senkte respektvoll den Blick. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Brust. „Nein! Sie lügen!“
Ich stieß den Arzt von mir und presste mein Ohr an Vaters Brust, verzweifelt darauf bedacht, irgendetwas zu hören, doch da war nichts, keine Wärme, kein Atem, nur Stille.
Ich schrie, bis meine Stimme versagte. „Bitte! Jemand muss ihm helfen!“
Jasper packte meine Arme und zog mich sanft weg. „Maurice, hör auf … bitte, du tust dir weh!“
„Lass mich los!“, schrie ich und wehrte mich heftig.
„Er ist mein Vater! Fass mich nicht an!“
In der Halle herrschte Chaos. Die Rudelmitglieder flüsterten, einige weinten, andere wichen ängstlich zurück. Ich hörte die Worte „Gift“ und „Fluch“ durch die Menge flüstern, aber sie ergaben keinen Sinn.
Als sie Vaters Leiche wegtrugen, war mein Gesicht von Tränen überströmt. Ich konnte kaum stehen. Jasper führte mich in mein Zimmer, aber ich nahm kaum wahr, wohin wir gingen. Alles um mich herum fühlte sich leer und unwirklich an.
Als Jasper endlich gegangen war, saß ich zitternd neben dem Bett. Der Geruch des verschütteten Weins hing noch immer an meinen Händen.
Stunden vergingen, ich schlief nicht. Immer wieder spielte sich der Moment in meinem Kopf ab: Vater lächelte, hob den Becher und fiel dann zu Boden. Meine Brust schnürte sich zusammen, bis ich kaum noch atmen konnte.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür.
„Lady Maurice“, sagte ein Wächter.
„Der Ältestenrat wünscht Ihre Anwesenheit.“
Mir stockte der Atem. „Warum?“
Er antwortete nicht, sondern blickte nur zu Boden.
****
Die Spannung im Ratssaal war zum Greifen nah. Fünf Älteste saßen an einem langen Tisch. Jasper stand in ihrer Nähe, die Arme verschränkt, sein Gesichtsausdruck undurchschaubar.
Ich versuchte, ruhig zu atmen, als Ältester Victor als Erster sprach. „Maurice Xander, Tochter des verstorbenen Alpha. Wir haben Fragen zum plötzlichen Tod Ihres Vaters.“
Ich schluckte schwer. „Natürlich.“
Victors Blick war durchdringend. „Es wurde berichtet, dass Sie Ihrem Vater kurz vor seinem Zusammenbruch sein Getränk eingeschenkt haben.“
„Ja“, sagte ich leise.
„Er fragte mich, ob die Flasche aus dem Keller käme. Ich habe sie selbst geöffnet.“
„Wer hat den Wein geholt?“
„Ich.“
Er nickte langsam. „Also hat ihn sonst niemand angefasst?“
„Niemand.“
Ältester Rowan beugte sich vor. „Ist Ihnen bewusst, dass Sie damit die letzte Person sind, die das berührt hat, was ihn getötet hat?“
Ich erstarrte. „Woran hat er sich gestorben?“
„Der Arzt glaubt, es war Gift“, sagte Rowan unverblümt.
„Und da Sie ihm sein Getränk eingeschenkt haben …“
„Das heißt nicht, dass ich es war!“ Ich unterbrach ihn, Wut und Ungläubigkeit stiegen in mir auf.
„Ich würde meinem Vater niemals etwas antun!“
Ältester Victor klopfte auf den Tisch. „Wir haben auch mit mehreren Mitarbeitern des Rudelhauses gesprochen, die behaupteten, dass du und dein Vater euch Anfang der Woche gestritten habt.“
„Was?“, fragte ich fassungslos.
„Einer von ihnen sagte, er habe dich schreien hören“,
fügte Rowan hinzu. „‚Das wirst du bereuen, Vater. Kommt dir das bekannt vor?‘“
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „Das ist eine Lüge! Wir haben über die Finanzen des Rudels gesprochen; es war kein Streit.“
Victors Blick verhärtete sich. „Drei Leute haben dasselbe gesagt, Maurice. Lügen sie alle?“
„Ja!“, meine Stimme brach. „Jemand verdreht die Tatsachen!“
Die Ältesten wechselten Blicke, und mein Herz hämmerte mir in der Brust. Ich konnte sehen, wie sich Zweifel unter ihnen ausbreiteten, ihre Gesichter verfinsterten sich vor Verurteilung.
Victors Stimme durchbrach die Stille. „Bringt die Beweise herein.“
Zwei Wachen traten vor und trugen eine kleine Holzkiste. Darin lag die Weinflasche, die ich am Abend zuvor geöffnet hatte.
„Die Analyse weist Spuren von Eisenhut auf“, sagte Rowan.
„Hochkonzentriert.“
Mir wurde eiskalt. „Das kann nicht sein.“
„Doch“, erwiderte er emotionslos.
„Haben Sie eine Erklärung?“
Ich schüttelte hilflos den Kopf. „Ich … ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Die Flasche war versiegelt!“
Endlich sprach Jasper. „Maurice“, sagte er leise.
„Wenn du etwas weißt, sag es bitte jetzt. Mach es nicht noch schlimmer für dich.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Glaubst du, ich habe das auch getan?“
Er wandte den Blick ab. „Ich versuche dir zu helfen.“
„Nein“, flüsterte ich und trat näher. „Du versuchst, dich selbst zu schützen.“
Sein Kiefer spannte sich an, doch er sagte nichts.
Plötzlich öffneten sich die Türen des Zimmers, und Selenas Stimme ertönte.
„Wartet! Ich habe etwas.“
Alle drehten sich um. Sie ging zum Tisch, ihre Hände zitterten leicht, und stellte ein kleines Aufnahmegerät vor die Ältesten.
Victor runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Etwas, das ich heute Morgen in meiner Tasche gefunden habe“, sagte sie leise. „Ich wollte es nicht glauben, aber …“
Sie drückte auf Play, und ein Rauschen erfüllte den Raum. Dann ertönte eine Stimme, meine Stimme.
„Er muss bezahlen, Selena. Ich habe es satt zu warten.“
Dann ertönte Selenas aufgezeichnete Stimme:
„Maurice, bitte töte deinen Vater nicht.“
Ein Raunen ging durch den Raum.
Mir wurden fast die Knie weich. „Das bin nicht ich“, flüsterte ich.
„Das ist nicht echt.“
Victors Augen verfinsterten sich. „Willst du etwa leugnen, dass das deine Stimme ist?“
„Ja!“, rief ich.
„Jemand hat es vorgetäuscht! Das bin nicht ich!“
Selena senkte den Blick und schüttelte traurig den Kopf. „Ich wünschte, es wäre wahr, Maurice.“
„Du lügst“, zischte ich.
„Du hast mich reingelegt!“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe deinen Vater auch geliebt“, sagte sie mit leicht zitternder Stimme, die gerade noch glaubwürdig klang.
Jasper trat vor, seine Stimme war fest. „Älteste, wir dürfen uns nicht von unseren Gefühlen leiten lassen. Das Rudel ist im Chaos. Maurice wollte dem Alpha vielleicht nicht schaden, aber der Schaden ist angerichtet, und sie ist nicht geeignet, das Rudel zu führen.“
Ich drehte mich schockiert zu ihm um. „Jasper, wie kannst du so etwas sagen? Du kennst mich besser als jeder andere!“
Er sah mir nicht in die Augen. „Ich weiß, was ich gesehen habe.“
„Du hast nichts gesehen!“, rief ich.
Rowan schlug mit der Faust auf den Tisch. „Genug!“, schrie er, und es wurde still im Raum.
Victor stand auf, sein Blick war kalt und entschlossen. „Maurice Xander, du bist angeklagt, deinen Vater, Alpha Xander, vergiftet und dieses Rudel getäuscht zu haben.“
Tränen verschleierten meine Sicht. „Ich habe nicht …“
Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. „Die Beweislage ist erdrückend, und der Rat befindet dich für schuldig.“
Die Welt schien stillzustehen.
„Auf unsere Autorität“, fügte Rowan hinzu. „Dir wird der Titel als zukünftige Luna dieses Rudels aberkannt.“
Kaum hatte ich die Worte verstanden, da erreichte mich Victors nächster Satz.
„Du wirst hiermit zum Tode durch Steinigung verurteilt, die im Morgengrauen vollzogen werden soll.“
Mir stockte der Atem. Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nicht sprechen. Wachen traten vor und packten meine Arme.