Prolog: Der erste Schrei

484 Worte
Rivertown, Juli 1978. Die Felder lagen still unter dem schweren Deckmantel der Nacht. Die Hitze war selbst um diese Stunde noch unerträglich, und die Luft roch nach verbrannter Erde. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, doch sein Laut klang müde, als hätte selbst er keine Kraft mehr, die Stille zu durchbrechen. Eleanor Merritt rannte. Barfuß. Ihr Atem ging keuchend, und die Dornen der trockenen Pflanzen zerkratzten ihre nackten Beine. Blut rann an ihren Waden herab, doch sie spürte es kaum. Ihre Lippen formten ein Wort, immer wieder, ein Name, der nur im Flüstern zu hören war. „Miss Summer…“ Hinter ihr raschelte das Maisfeld. Es war ein Geräusch, das mehr an das Wispern von Stimmen erinnerte als an Wind. Eleanor wagte es nicht, sich umzusehen. Sie wusste, dass es dort war. Sie hatte die Augen gesehen. Schwarze, tiefe Löcher, die jede Wärme verschlangen. Ihr Körper schrie nach Ruhe, aber sie konnte nicht anhalten. Nicht jetzt. Nicht, wo sie spürte, dass die Kälte näherkam. Es war eine Kälte, die sich wie ein Netz ausbreitete, unnatürlich in dieser stickigen Sommernacht. Als sie das Feld verließ und den offenen Boden erreichte, brach sie zusammen. Ihre Knie gaben nach, und sie landete auf den Händen, der Staub klebte an ihrer verschwitzten Haut. Sie drehte sich um und sah es endlich. Die Frau stand am Rand des Maisfelds. Lange, dunkle Haare hingen ihr in wirren Strähnen ins Gesicht, ihre Silhouette war schlank, fast unmenschlich. Ihr Kleid war weiß, doch es schien im Licht des Mondes zu glühen. Und dann war da dieses Lächeln. Es war zu breit, zu perfekt, als ob es mit einem Messer in ihr Gesicht geschnitten worden wäre. „Bitte…“ Eleanor begann zu weinen. „Ich hab’s nicht gewollt… ich hab…“ Miss Summer hob die Hand, und Eleanor verstummte. Ihre Augen wurden weit, als sie sah, dass die Finger der Frau zu lang waren, ihre Haut zu glatt, zu makellos. „Du hast mich gerufen“, sagte sie. Ihre Stimme klang sanft, beinahe liebevoll, aber sie hallte, als würde sie von tausend Zungen gesprochen. „Jetzt ist es Zeit, deinen Preis zu zahlen.“ Eleanor wollte schreien, doch es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Die Frau trat einen Schritt vor, und mit jedem Schritt wurde die Luft um Eleanor schwerer. Sie versuchte, aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. „Bitte! Ich hab’s nicht gewollt!“ rief sie schließlich, ihre Stimme ein ersticktes Schluchzen. Miss Summer lächelte noch breiter, und die Welt um Eleanor verdunkelte sich. Dann kam der erste Schrei. Laut, durchdringend und so voller Schmerz, dass die Vögel in den Bäumen aufschreckten und davonflogen. Am nächsten Morgen fand man Eleanors Schuhe am Rand des Maisfelds. Neben ihnen lag ein Haufen trockener Erde, geformt wie eine Hand – zu groß, um menschlich zu sein. Niemand sprach darüber, aber die Alten in Rivertown wussten Bescheid. Miss Summer war wieder da.
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