Kapitel Zehn

2263 Worte
Die Uhr zeigte 2 Uhr morgens. Die Suite lag im Dunkeln, erhellt nur vom gedämpften, gefilterten Schein der Straßenlaternen durch einen Spalt in den Vorhängen. Die Wanduhr tickte leise und markierte jede Minute, als sei alles andere stehengeblieben. Sloane schlief nicht. Sie versuchte es nicht einmal mehr. Ihre Schulter pochte. Ihr Körper sollte sich ausruhen—doch jede Zelle trug noch den Abdruck des Tages. Das Training, die Belastung, die Spannung, die Kontrolle … all das pulsierte in ihren Muskeln, als wüssten selbst die Knochen nicht, wie man abschaltet. Sie glitt leise aus dem Bett. Streifte ein langes, ärmelloses graues Oberteil und weiche, dunkle Jogginghosen über und trat barfuß in den Flur. Auf der Sofaecke im Wohnzimmer lagen bereits eine Schiene bereit, dazu einige Elastikbänder, Kältesalbe, beruhigende Creme und eine Armschlinge, die sie hätte benutzen können—wenn sie es allein geschafft hätte. Sie setzte sich vor den Couchtisch, ohne das Licht einzuschalten. Der Straßenlaternen­schein reichte gerade aus. Sie nahm ein Band zwischen die Zähne, versuchte mit der rechten Hand die Schiene unter ihren Arm zu schieben, doch der Druck auf die Schulter ließ sie unwillkürlich aufkeuchen. Die Creme versuchte sie erst gar nicht. Sie saß vornübergebeugt, zur Seite gekippt, das Gesicht angespannt—nicht vor Schmerz, sondern vor Hilflosigkeit. Hilfe zu brauchen hatte nie in ihre Vorstellung von Professionalität gepasst. Aber jetzt … die einzige Hand, die ihr helfen konnte, war die, die sich nicht bewegte. Da öffnete sich die Tür zum Flur. Schritte. Nackte, leise auf dem Boden. Einen Moment später stand Lennox im Türrahmen—oberkörperfrei, nur in dunkler Hose, das Haar unordentlich nach hinten gestrichen. In den Schatten verschmolz er fast mit dem Hintergrund—doch seine Augen glänzten, als er sie sah. Er starrte einen Augenblick. Sagte nichts. „Du schläfst auch nicht?“, fragte er leise. Sloane drehte sich nicht ganz um. Ihre Stimme war kaum hörbar. „Ich hab’s versucht.“ Lennox trat näher. Er fragte nicht, was sie tat. Kommentierte weder ihre Schulter, noch die Schienen oder die Creme. Er ging einfach zu ihr. Langsam, bewusst. Als hätte er sich lange auf diesen Moment vorbereitet. „Funktioniert nicht?“, fragte er sanft, jetzt hinter ihr stehend. Sloane blickte auf. Ihre Blicke trafen sich—und diesmal war da keine Wut, keine Abwehr. Nur ein müder, gespannter Blick, hinter dem ein unausgesprochener Satz stand: Ich schaffe das nicht allein, und ich hasse es, dass ich es nicht schaffe. Lennox hockte sich neben sie, ohne um Erlaubnis zu bitten. „Lass mich sehen.“ Sloane zögerte einen Moment. Dann senkte sie langsam den Arm—und ließ ihn machen. Lennox nahm zuerst die beruhigende Creme. Er drückte etwas auf den Finger und berührte sanft den Rand ihrer Schulter. Ihre Haut war warm, die Muskeln darunter straff. Seine Bewegungen waren langsam, vorsichtig—ohne Aggression, ohne unnötige Kraft. Nur stille Aufmerksamkeit. „Sag mir, wenn es wehtut“, murmelte er, während seine Fingerspitzen die Creme sachte entlang des gespannten Bogens verteilten. Seine Hand war weich, und an seiner Berührung war zu spüren, dass jede Bewegung Absicht hatte. „Es geht“, flüsterte Sloane. „Mach weiter.“ Lennox fuhr fort, arbeitete die gesamte Schulterkurve entlang, bis die Creme verschwunden war. Dann nahm er das Band und fixierte die Schiene mit zwei präzisen Handgriffen. Er hob ihren Arm von unten an und bereitete schließlich die Schlinge vor. „Soll ich sie binden?“ Sloane nickte. Und zum ersten Mal war nicht sie diejenige, die die Kontrolle hatte. Der Mann führte den Stoff langsam, beinahe feierlich, unter ihrem Arm hindurch, band ihn hinter ihrem Nacken fest und achtete darauf, nicht zu stramm zu ziehen. Als der Knoten saß, nahm er die Hand nicht sofort weg. Er ließ sie liegen. Auf ihrer Schulter. „So in Ordnung?“ Sloane sah zu ihm auf. Ihre Augen waren müde. Aber klar. „Ja. Danke.“ Einen Moment lang sahen sie sich einfach an. Die Stille war nicht peinlich. Nur tief. Der Atem im gleichen Rhythmus—wortloses Vertrauen. Dann stand Lennox auf. „Schlaf“, sagte er leise. „Du kannst jetzt ausruhen.“ Sloane nickte. Und als er sie verließ, war das stärkste Gefühl in ihrem Körper nicht mehr Schmerz. Es war etwas anderes. Etwas, das sie nicht zurückzog—sondern an ihrer Seite stand. Lennox war nicht der Typ, der vom Wecker wach wird. Seine innere Uhr hatte längst entschieden, nur einem Rhythmus zu folgen: dem Überleben. Aber an diesem Morgen … wachte er trotzdem früher auf. Das Zimmer war dämmrig, weiches Licht warf Schatten über die Wände. Sein erster Gedanke war nicht Training. Nicht der Ring. Nicht der Plan. Es war Sloane. Die Frau, die vor der Morgendämmerung still auf dem Wohnzimmerboden gesessen hatte, vornübergebeugt, bemüht, sich mit einer Hand den Arm zu schienen. Die Frau, die ihn hatte berühren lassen. Nein—ihm erlaubt hatte. Das würde nicht einfach verblassen. Er setzte sich auf und ging in den Flur. Die Suite war ruhig, nur das leise Brummen der Klimaanlage war zu hören. Barfuß schlich er in die Küche, in der alles unberührt war. Auf der Arbeitsplatte: vorbereitete Boxen—frisches Gemüse, Eier, Roggenbrot, eine Portion über Nacht eingeweichter Hafer. Alles an seinem gewohnten Platz. Präzise. Ganz Sloane. Aber heute würde nicht sie die Erste sein, die Hand anlegte. Lennox hielt inne. Seine Hand lag auf der Arbeitsfläche, die Augen glitten über die Zutaten. Er atmete leise aus. Das war nichts, woran er gewöhnt war. Aber er konnte mit Bewegung umgehen—und mit Aufmerksamkeit. Und gestern hatte er aufgepasst. Er krempelte die Ärmel hoch, öffnete den Kühlschrank, nahm die Eier heraus und machte sich ans Werk. Langsam, vorsichtig—die Bewegungen noch etwas unbeholfen, doch jeder Schritt trug die Absicht: Nichts kaputtmachen. Helfen. Nach einer Weile zischten die Eier leise in der Pfanne, daneben röstete Brot, und die Haferflocken wärmten in einem Topf, mit einem Schuss Mandelmilch, einer Prise Zimt und etwas zerstoßenen Walnüssen. Es war nichts Großes. Nur Frühstück. Aber für Lennox Graves war es die erste Geste, die nicht von Schuld, Zorn oder Anweisung getrieben war. Einfach … sein eigener Wille. Da hörte er Schritte im Flur. Sloanes langsamer, sanfter Gang war leicht zu erkennen. Ihre Bewegungen trugen bereits Müdigkeit, und als sie in der Tür erschien—das Haar zerzaust, in einem schlichten hellgrauen Longsleeve und dunklen Leggings—huschte Überraschung über ihr Gesicht. Sie hielt inne, als sei sie nicht sicher, ob sie träume. „Du … bist hier?“ Lennox drehte sich leicht über die Schulter und nickte. „Dachte, es wird Zeit, dass ich ausnahmsweise zuerst aufstehe.“ Sloane legte den Kopf schief. Ihr Blick war wachsam—aber nicht defensiv. Mehr … aufmerksam. „Und … was machst du?“ „Ich versuche, die Küche nicht in die Luft zu jagen“, erwiderte Lennox und holte den Toast aus dem Toaster. „Und … vielleicht zu helfen.“ Sloane trat langsam näher. Ihr linker Arm noch in der Schlinge, die Bewegung vorsichtig—aber nicht mehr verspannt. „Musstest du nicht. Ich hätte …“ „Ich weiß, dass du es könntest“, fiel Lennox ihr ins Wort. „Aber … heute musst du nicht.“ Die Frau lächelte. Nicht breit—gerade genug, um die Konturen ihres Gesichts zu weichen. „Wird das essbar sein?“ „Keine Ahnung“, sagte Lennox ehrlich. „Aber wenn nicht, übernimmst du wieder. Bis dahin … lass mich versuchen.“ Und Sloane … setzte sich an den Tisch. Zum ersten Mal. Und sagte nichts. Sie sah einfach zu, wie sich jemand um sie kümmerte. Die Eier zischten, die Haferflocken blubberten leise, und Lennox rührte den Löffel mit konzentrierter Unsicherheit. Seine Bewegungen waren nicht linkisch—nur übervorsichtig. Wie jemand, der Gutes tun will und zugleich panische Angst hat zu scheitern. Sloane saß am Tisch, den Arm in der Schlinge abgelegt, und beobachtete von dort. „Gib noch etwas Mandelmilch zu den Haferflocken“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Etwa ein Viertelbecher. Sonst brennen sie an.“ Lennox nickte, griff nach dem Karton, goss nach und rührte weiter. Er blickte zu den Eiern—doch Sloane sprach schon: „Wend sie nicht zu früh. Warte, bis die Oberfläche leicht stockt. Dann hält es. Sonst reißt es.“ „Du redest, als würdest du eine militärische Lagebesprechung halten“, murmelte Lennox, befolgte es aber. „Ist das hier Frühstück oder eine Operation?“ „Beides“, erwiderte sie trocken. „Kochen ist wie Training. Timing zählt. Textur zählt. Das Gleichgewicht zwischen Kraft und Präzision zählt. Und vor allem: Tu es nicht blind.“ Lennox schnaubte, aber das Lächeln, das an seinem Mundwinkel zupfte, war echt. „Klingt sehr, als würdest du über mich sprechen.“ „Vielleicht“, sagte Sloane, ohne es zu bestätigen. Die Haferflocken dickten an und erfüllten die Küche mit ihrem Duft. Lennox hob den Löffel, neigte den Topf leicht und sah sie fragend an. „Soll das so aussehen?“ „Es muss so aussehen“, korrigierte sie sanft. „Jetzt eine Handvoll Walnüsse und eine Prise Zimt dazu. Zweites und viertes Glas, rechte Seite.“ Gehorsam trat Lennox hinüber, fand die Gläser und gab die Zutaten dazu. Seine Bewegungen waren jetzt flüssiger. Kein Zittern, kein Zögern. Nicht, weil er plötzlich kochen konnte—sondern weil ihre Stimme … ihm Richtung gab. „Gut. Jetzt vom Herd nehmen und zwei Minuten ziehen lassen“, instruierte Sloane. „Und die Eier?“ „Jetzt wenden. Eine Bewegung, ohne Zögern.“ Lennox folgte. Die Eier waren unten gerade knusprig genug und drehten sich in einer weichen Bewegung. Er blickte kurz auf, fast wartend auf ein Urteil. Sloane nickte langsam. „Akzeptabel.“ „Das ist von dir beinahe Lob“, bemerkte Lennox. „Gewöhn dich nicht daran“, erwiderte sie—doch in ihrem Blick lag etwas, das gestern nicht da gewesen war. Ein Hauch von Spielfreude. Eine andere Sorte Vertrauen. Lennox servierte. Vorsichtig, aber zielstrebig. Er stellte die Teller hin und setzte sich ihr gegenüber. Sie sahen sich einen Moment an. Die gewohnte Dynamik—Befehl und Widerstand, Anweisung und Trotz—hatte sich verschoben. Es war nicht intim. Nicht sentimental. Aber zum ersten Mal ging es nicht darum, wer die Kontrolle hatte—sondern wie man zusammenarbeitet. Und es war der erste Morgen, an dem nicht nur Nährstoffe auf dem Tisch lagen—sondern eine neue Stufe der Aufmerksamkeit. Sie aßen langsam. Nicht aus Dringlichkeit, sondern in diesem merkwürdig stillen Tempo, das nur an Morgen herrscht, an denen sich etwas ändern wird—auch wenn es noch niemand weiß. Lennox aß. Kein Hast, keine Krümel, kein Grimassieren. Sloane löffelte trotz der einen Hand sorgfältig die Haferflocken. Keiner sprach—doch die Stille war nicht mehr scharf. Eher … unbewachtes Gelände. Ein ruhiger Raum, nicht länger bedroht. Dann öffnete sich die Tür. Vertraute Schritte und klirrende Schlüssel aus dem Flur. Marcus trat ein, die Sporttasche über einer Schulter, das Handy in der Hand, sein Gesicht eine Nuance blasser als sonst. Er blieb im Türrahmen stehen, als er sie am Frühstückstisch sah. Überraschung flackerte. „Du hast gekocht?“, fragte er Lennox misstrauisch. „Vielleicht“, antwortete der Mann. „Und wir leben noch.“ Marcus schnaubte, doch das Lächeln hielt nur eine Sekunde. Dann blickte er wieder aufs Handy, trat näher, die Stimme ernster. „Gerade eine E-Mail bekommen. Aktualisierter Turnierplan. Die Tour … wurde vorgezogen.“ Sloane senkte den Löffel. Lennox sah auf. „Um wie viel?“ Marcus warf einen Blick aufs Display, dann zurück zu Sloane. „Drei Tage.“ Stille. Nicht die friedliche—die, die auf eine Reaktion wartet. Sloane nickte zunächst nur. Ihre Schulter verspannte sich. Ihre Gedanken sprangen sofort auseinander: Reha-Protokoll, angepasster Belastungsplan, Timing der Entzündungshemmer, Reisestress … Sie rechnete in einer Sekunde alles neu, was sie gemanagt hatte. Lennox lehnte sich zurück, der Kiefer wurde hart. „Sicher?“, fragte er leise. Marcus nickte. „Die Veranstalter haben die Daten geändert. Keine anderen Slots für das Eröffnungsmatch. Madrid, in drei Tagen. Das ist der Startpunkt.“ „Und Phase zwei des Vorbereitungsplans?“, fragte Sloane, schon im Profi-Modus. „Fällt aus. Das Hotelgym reicht für Kraft nicht. Wir können dort nur erhalten. Was du willst—jetzt unterbringen“, sagte Marcus angespannt. „Ich weiß, es ist nicht ideal. Aber es gibt keine Alternative.“ Sloane schwieg einen Moment. Ihre linke Hand bewegte sich instinktiv in der Nähe der Schlinge, als prüfe sie, was noch da war. Dann sah sie wieder zu Lennox. „Dann planen wir heute Nachmittag neu“, sagte sie leise. „Wir kriegen es hin. Aber keine Improvisation. Kein selbstauferlegtes Überziehen. Heute braucht dein Körper Schutz und Leistung.“ Lennox nickte nur. Kein Streit. Kein Knurren. Doch sein Blick verdunkelte sich. Drei Tage … zu wenig, um alles zu richten. Marcus stand noch da, seufzte dann und legte sein Handy an den Rand des Tisches. „Ich kümmere mich heute Vormittag um die Logistik. Wir treffen uns nachmittags im Gym. Überlegt euch bis dahin, was ihr noch braucht. Sloane—wenn du zusätzliches Equipment, Medikamente, Kryo—irgendetwas—brauchst, sag mir Bescheid.“ „Ich mache eine Liste“, sagte sie leise. Lennox nahm den letzten Schluck aus seinem Glas, ließ den Blick dann auf Sloanes Gesicht ruhen. Ihre Augen waren nicht mehr ruhig. Aber auch nicht ängstlich. Nur bereit. Zum ersten Mal … bauten sie aufeinander. Und das war mehr wert als drei zusätzliche Tage.
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