Kapitel Vierzehn

2078 Worte
Der Morgen der Abreise war unerwartet still. Kein übliches Geräusch hektischer Routine erfüllte die Wohnung – keine zuschlagenden Türen, kein Summen der Wasserrohre aus der Dusche, und selbst die Küchengeräusche klangen gedämpfter als sonst. Die Luft war erfüllt von einer merkwürdigen Art von Stille – nicht erstarrt, nicht bedrohlich, nur ... dicht. Als wüssten die Wände selbst, dass etwas beginnen würde. Lennox Graves war früher aufgewacht, als nötig. Nicht aus Nervosität. Sein Körper bewegte sich einfach von selbst – so wie schon seit Tagen. Er saß im Bett, blieb dort eine Weile sitzen. Barfuß auf dem Boden, die Arme auf die Knie gestützt, hielt er einen Gedanken fest, der sich noch nicht ganz geformt hatte. Madrid. Nicht der Kampf. Nicht das Stadion. Nicht die Reisezeit. Sondern die Tatsache, dass er diesmal nicht mehr allein war. Als er aus seinem Zimmer trat, stand sein Koffer bereits gepackt an der Wand. Nicht viel darin – funktionale Ausrüstung, dunkle Kleidung, Kompressionswäsche, seine Handbandagen und ein sauber gefalteter Mantel, den Sloane ihm empfohlen hatte, als sie sah, dass er nur Hoodies eingepackt hatte. In der Küche war Marcus bereits wach. Er trank ein Glas Wasser, scrollte mit einer Hand über sein Handy, während er in der anderen eine halb aufgegessene Banane hielt. Er sah nicht auf – nickte nur. „Sloane ist im Schlafzimmer. Sie beendet gerade den Schulterverband.“ Lennox nickte. Er wusste, was das bedeutete: Sie überprüfte ihre Schulter ein letztes Mal – ihre Belastbarkeit, ihre Grenzen, die Regeln der Schonung. Obwohl beide wussten: In Madrid würde sie nicht mehr zwischen ihnen stehen. Ein paar Minuten später erschien auch Sloane. Ihr Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, sie trug einen schwarzen Mantel über dunkler, eng anliegender Trainingskleidung. Ihr linker Arm war noch immer fixiert – doch sie wirkte nicht schwach. Ihre Augen waren leicht verschattet – zu viele Bildschirme, Notizen, Logistik hatten Spuren hinterlassen. Aber sie war da. Klar. Fest. Unerschütterlich. „Wir fahren in dreißig Minuten zum Flughafen“, sagte sie, während sie ihre Trainingsnotizen zu den Tablets legte. „Sobald das Gepäck aufgegeben ist, bleibt keine Zeit, im Terminal herumzutrödeln. Du bekommst im Flugzeug ein zweistündiges Erholungsfenster, danach aktive Mobilisation. Ich lasse dich nicht allein vom Flug ausbrennen.“ Lennox sah sie einen Moment lang an. „Dir auch einen guten Morgen“, sagte er trocken, doch in seiner Stimme lag etwas, das vorher nicht da gewesen war – ein weicher Unterton, leise, aber bewusst. Sloane lächelte. Kaum merklich. Nur ein Zucken in ihrem Mundwinkel. Marcus griff nach seinem Mantel. „Wenn alle fertig sind, rufe ich den Wagen. GPS sagt, etwa fünfunddreißig Minuten bis zum Flughafen. Sollte glattlaufen, wenn kein Verkehr ist.“ Niemand antwortete. Musste auch nicht. Jeder wusste – von hier gab es kein Zurück mehr. Im Auto senkte sich die Stille. Lennox lehnte den Kopf ans Fenster und sah zu, wie die Stadt vorbeizog. Die Straßenbäume, der morgendliche Verkehr, die Passanten. Alles vertraut – und doch fremd. Denn zum ersten Mal verließ er diese Stadt im Rhythmus eines anderen. Mit jemandem. Für jemanden. Sloane saß vor ihm, neben Marcus. Sie sprachen nicht. Ab und zu blickte sie auf ihr Tablet oder Handy, meist aber nur hinaus – als sähe auch sie heute etwas anderes in den Straßen. Vielleicht das Gewicht. Vielleicht den Einsatz. Oder vielleicht ... fühlte sie es einfach. Der Flughafen war kalt und ungeduldig. Das Einchecken verlief reibungslos, und unter dem sterilen Terminallicht bewegte sich das Team wie Menschen, die nicht mehr suchten – nur noch auf den Abflug warteten. Im Wartebereich saß Lennox etwas abseits. Die Tasche zu seinen Füßen, Musik in den Ohren – aber ohne sie einzuschalten. Er beobachtete die Passagiere. Die Flugzeuge. Und manchmal ... Sloane. Sie starrte auf ihr Handy. Oder tat nur so. Doch jedes Mal, wenn ihr Blick sich bewegte, sah Lennox instinktiv weg. Denn tief in sich wusste er: Er nahm nicht nur einen Körper mit nach Madrid. Er trug etwas in sich. Etwas Ungesagtes. Aber es bewegte ihn bereits. Das Brummen des Flugzeugs summte gleichmäßig in seinen Ohren, wie ein fernes, kaum hörbares Atmen. Lennox saß am Fenster, sah auf die breite Tragfläche hinaus, beobachtete, wie das Terminalbild kleiner wurde und schließlich unter den Wolken verschwand. Der Start störte ihn nicht – er erregte ihn auch nicht. Die Schwerkraft war nur eine weitere Kraft, die es zu akzeptieren galt. Aber dass Sloane neben ihm saß ... das war etwas anderes. Sie sah ihn nicht an. Seit sie Platz genommen hatten, hatte sie kein Wort gesagt. Sie saß auf dem Mittelsitz, Tablet auf dem Schoß, Beine exakt ausgerichtet, der linke Arm in der Schiene. Ihre rechte Hand tippte ab und zu – meist aber ruhte sie unruhig. Lennox bemerkte, wie sich ihre Haltung jedes Mal leicht veränderte, wenn ihr Ellbogen seiner Schulter zu nahe kam. Wie sie sich dann – kaum sichtbar, aber absichtlich – zurückzog. Sloane achtete darauf, ihn nicht zu berühren. Das war kein Respekt mehr. Keine Routinevorsicht. Es war etwas anderes. Als spürte sie eine Linie – auch wenn Lennox sie selbst nicht benennen konnte. Er wollte nicht, dass sie ihn berührte. Aber er wollte auch nicht, dass sie sich zurückzog. Er hing dazwischen. Und wusste nicht, was mehr wehtun würde. Der Flug hatte längst seine Höhe erreicht, als Sloane das Tablet beiseitelegte. Sie las nicht. Schrieb nicht. Starrte nur nach vorn. Ihre Augen gläsern vor Erschöpfung, die Schatten darunter tiefer als je zuvor. Lennox blickte seitlich zu ihr. Einen Moment lang blieb er dort. Der enge Dutt. Das makellose, aber schlichte schwarze Oberteil. Der Mantel, perfekt über die Schulter gelegt. Alles schrie: Ich habe alles im Griff. Aber ihr Gesicht ... Ihr Gesicht hielt jetzt nichts mehr zusammen. Im Flugzeug verlangsamte sich die Bewegung. Die Flugbegleiter gingen mit Getränken vorbei, die Lichter dimmten sich, die Klimaanlage legte einen gedämpften Schleier über die Luft. Die Außenwelt verblasste. Sloane verschränkte die Beine, neigte den Kopf und schloss die Augen. Lennox bewegte sich nicht. Sein Körper war angespannt, der Arm auf der Lehne, der Rücken leicht zum Fenster gedreht. Aber er konnte sie spüren. Ihre Präsenz war keine Berührung – sie war ein Gewicht. Drückend an der Grenze seiner Haut, am Rand seines Bewusstseins. Sie tat nicht weh, aber sie ließ ihn auch nicht vergessen. Keine Minute war vergangen, da geschah es. Sloanes Kopf sank langsam nach vorn, dann seitlich – weich, lautlos – und ruhte auf Lennox’ Schulter. Er spannte sich sofort an. Die Wirbelsäule straff, die Muskeln hart, als wäre selbst eine einzige Berührung zu viel für diesen Tag. Einen Moment lang hielt er sogar den Atem an. Ihr Haar streifte seinen Kragen. Ein schwacher Duft stieg ihm in die Nase. Feuerblume. Plötzlich. Warm. Und furchteinflößend. Eine Erinnerung zu lebendig. Zu echt. Reflexartig wollte er die Schulter bewegen. Nur leicht. Nur so, dass ihr Kopf wegrutschte. Aber er tat es nicht. Er stieß sie nicht weg. Er machte keine Bewegung. Er saß einfach da. Still. Aufrecht. Schweigend. Neben seinem Arm hob und senkte sich ihr Kopf mit jedem Atemzug. Und zum ersten Mal hörte Lennox sie wirklich schlafen. Kein Kontrollieren. Kein Kalkulieren. Keine Verteidigung. Nur ein müder Körper, der losließ – wo er keine Angst mehr hatte. Das war es, was Lennox den Magen verkrampfen ließ. Nicht die Berührung. Sondern die Tatsache, dass jemand sich auf ihm sicher fühlte. Die Zeit verging langsam. Lennox sah auf die Wolken hinaus, doch jeder Sinn war auf sie gerichtet. Er wagte nicht, die Schulter zu bewegen. Wollte sie nicht wecken. Wollte diesen zerbrechlichen Moment nicht zerstören. Und währenddessen ... geschah etwas in ihm. Keine Explosion. Keine plötzliche Erkenntnis. Nur ein stilles, hartnäckiges, unbestreitbares Nachgeben. So ist es jetzt. Und er würde nichts mehr fortstoßen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was er tun sollte, wenn sie aufwachte. Die Kabinenlichter flackerten sanft – das Ende des Flugs nahte. Sloane regte sich, atmete tief. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war. Dann spürte sie es – das Gewicht unter ihr. Eine Schulter, die nicht ihre war. Stoff, der nicht ihr Mantel war. Sie zog sich sofort zurück. „...Entschuldigung“, sagte sie leise, noch halb im Schlaf, mit leicht geröteten Wangen. Lennox sah sie nicht an. Zuckte nur mit den Schultern. „Hat mich nicht gestört.“ Sloane musterte ihn einen Moment. Fragte aber nichts. Drang nicht nach. Ihre Hand glitt zurück aufs Tablet. Sie begann wieder, Mauern zu bauen. Aber es war schon zu spät. Denn während dieses Flugs war etwas gebrochen. Und jetzt reisten sie nicht nur zusammen. Sie trugen etwas mit sich. Etwas, das sie in Madrid vielleicht benennen mussten. Oder für immer begraben. Die Landung verlief überraschend ruhig. Die Räder setzten sanft auf der Madrider Landebahn auf, und die Körper neigten sich gleichzeitig nach vorn. Lennox griff instinktiv an die Armlehne, Sloanes rechte Hand lag schon am Gurtverschluss. Ihr Gesicht war undurchschaubar – als bedeutete das Aufsetzen nichts – obwohl sie alle wussten, dass sich ab hier alles ändern würde. Das Aussteigen ging schnell. Marcus trat sofort vor, gab das Zeichen, ihm zu folgen. Sein Blick klebte am Gerät, während er die Flughafenlogistik prüfte. Sloane hielt Schritt, den Mantel über die Schulter geworfen, den Riemen der Schiene leicht gelockert, aber nicht entfernt. Lennox bemerkte, nahe bei den Autos, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber er sah trotzdem hin. Manchmal. Ein schwarzer Van mit getönten Scheiben wartete auf dem Parkplatz. Der Fahrer war höflich, nahm das Gepäck wortlos an. Als Lennox auf der Rückbank Platz nahm, wusste er bereits: Alles war vorbereitet. Kein Raum für Zögern. Kein Platz für Angst. Das war jetzt Teil der Mission. Sloane saß am Fenster. Marcus am anderen Ende. Lennox daneben, eine Reihe dahinter. Der Raum war eng. Aber irgendwie – nicht erdrückend. Der Van summte leise. Die Klimaanlage brummte gleichmäßig, während sich die Stadt zeigte. Madrid. Licht und Staub. Sonnenverbrannte, goldene Wände, weite Plätze, steinpflasterne Gehwege. Hitze – aber nicht bedrückend. Jede Bewegung offener. Die Stadt pulsierte wie ein Herz, das langsamer schlägt. „Das Hotel ist zehn Minuten von der Arena entfernt“, sagte Marcus ruhig. „Wir sind für zwei Nächte gebucht. Zimmer liegen nebeneinander. Lennox, deins ist das letzte auf dem Flur. Sloane in der Mitte. Meins beim Treppenhaus.“ Lennox nickte. Sein Gehirn wollte die Worte nebeneinander liegende Zimmer nicht verarbeiten. Es war nichts Ungewöhnliches. Nichts Intimes. Aber ... doch. Das Auto glitt durch die Außenbezirke. Sloane zog ihr Handy heraus, überflog ein paar Nachrichten und legte es dann weg. Sie sah nicht aus dem Fenster. Nicht zu Lennox. Aber er ... manchmal ... nur für eine Sekunde ... drehte den Kopf zu ihr. Er rückte nicht näher. Fragte nichts. Er fühlte nur. Sie ruhte nicht. Entspannte sich nicht. Reagierte nicht auf die Ruhe der Fahrt. Jeder Muskel gespannt. Jeder Gedanke aktiv. Selbst jetzt. Und Lennox wusste: Wenn er sie jetzt berührte, wenn er ein einziges Wort sagte – würde alles wieder hinter den Mauern verschwinden. Also schwieg er. Und ließ die Stille sie weiterführen. Das Hotel war modern, aber nicht prunkvoll. Dunkelgraue Fassade, Stahl und Glas, eine klare Lobby, keine übertriebene Eleganz. Klare, zweckmäßige Architektur – genau die Art, die Sloane gewählt hätte. Und die Marcus überprüft hätte. Der Check-in ging schnell. Zimmerschlüssel reibungslos übergeben. Wenige Minuten später standen sie im Aufzug, einer hinter dem anderen. Lennox sah in den Spiegel. Nicht sein eigenes Gesicht. Sondern ihres, leicht hinter ihm im schwachen Licht. Sie sah müde aus. Aber gefasst. Ihre Schultern leicht gesenkt, doch ihr Gesicht zeigte es nicht. Sie hielt sich immer noch zusammen. Der Aufzug klingte leise, dann hielt er an. Einer nach dem anderen öffnete seine Zimmertür. Marcus bog zuerst ab. Sloane folgte still, schob ihre Karte in den Schlitz. Lennox blieb einen Moment vor seiner Tür stehen. Nicht wegen der Klinke. Wegen etwas anderem. Etwas, das er nicht benennen konnte. Sloane stand schon an ihrer Tür. Sie sah zu ihm zurück. Nicht lange. Nur einen Atemzug. „Eine Stunde Pause“, sagte sie. „Dann gehen wir zum nahegelegenen Court. Begehung, Terrainstudie. Sei nicht zu spät.“ Lennox nickte. „Werde ich nicht.“ Sie ging hinein. Die Tür schloss sich lautlos hinter ihr. Lennox blieb noch einen Moment stehen. Dann betrat er sein eigenes Zimmer. Madrid. Der Ring. Und jemand, der versehentlich den Kopf an ihn gelehnt hatte. Und er ... hatte sich nicht bewegt. Das war jetzt in ihm. In seinem Körper. In seinem Kopf. Und wenn er nicht aufpasste ... vielleicht auch noch irgendwo anders.
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