Am Anfang war die Welt nur ein pulsierender Schleier. Warm. Beklemmend. Dann kam der Schmerz—dumpf, pochend. Irgendwo tief im Hinterkopf. Ihre Gedanken fühlten sich schwerer an, als sie sollten. Sie blinzelte. Es war nicht dunkel. Es war hell. Licht fiel durch ein Fenster—und… es gab ein Fenster. Das war ein Fortschritt. Die Decke war weiß, die Wände blassgrau. Der Raum sauber, schlicht und verdächtig still. Jemand beobachtete sie.
Nicht das „vielleicht ist da jemand in der Nähe“-Gefühl. Nein. Das war die Art von Beobachtung, die man auf der Haut spürt, wie wenn sich im Zug jemand zu nah herüberbeugt—nur dass hier niemand sprach und es kein Entkommen gab. Andromeda drehte langsam den Kopf. Und dann sah sie ihn.
Am anderen Ende des Raumes saß ein Mann auf einem Stuhl, den Ellbogen lässig auf einen Tisch gestützt. Auf dem Tisch: ein halbvolles Glas Whiskey und eine Pistole—nicht da, um benutzt zu werden, sondern wie ein schreiendes Ornament, das sagte: Das ist kein Spiel.
Lucian Thornewell.
Er lächelte nicht. Er sah sie nicht einmal sofort an. Er beobachtete einfach, wie sie langsam zu sich kam. Keine Bewegung verschwendet, kein Zögern in seiner Haltung. Andromeda versuchte, sich aufzusetzen, doch ihr Magen protestierte sofort. Das Bett knarrte, und das Geräusch ließ sie zusammenzucken, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. Jeder Nerv ihres Körpers schrie: Gefahr.
„Endlich“, sagte Lucian, die Stimme tief und ruhig, als hinge ihr Leben nicht am seidenen Faden. „Dachte schon, eure hübschen Sedativa hätten dich endgültig ausgeknockt.“
Andromeda runzelte die Stirn und verengte die Augen.
„Du bist der, der mich entführt hat.“
Lucian hob eine Augenbraue.
„Kann man so nennen. Obwohl ich nicht derjenige war, der dich in den Kofferraum gestopft hat—falls das zählt.“
„Nicht wirklich“, murmelte sie und schaffte es endlich, sich aufzusetzen.
Ihr Kopf summte noch, der Mund war trocken.
„Und jetzt? Verhör? Erzwingtes Geständnis? Folter?“
Lucian hob das Glas und ließ die bernsteinene Flüssigkeit kreisen.
„Dafür ist es zu früh. Zuerst will ich wissen, wer du bist.“
Andromeda schloss kurz die Augen, sammelte die letzten Reste ihrer Kraft. Sie durfte nicht zeigen, wie schwach sie noch war. Wie zerbrochen. Denn Männer wie er—sie suchen nach Rissen. Und wenn sie einen finden, dringen sie ein.
„Andromeda Carter“, antwortete sie flach. „Aber ich schätze, das weißt du längst. Schließlich hast du mich entführt.“
Lucian nickte, als wäre es ein nutzloses Detail.
„Deinen Namen kenne ich. Was du verheimlichst, nicht.“
Stille. Erstickend.
„Hör zu“, sagte er wieder, diesmal fester. „Dein Bruder schuldet mir Geld. Eine beträchtliche Summe. Und als wir zum Kassieren kamen, war er verschwunden. Das Einzige, was zurückblieb, war ein Name: Andy.“
„Ihr dachtet, ich sei ein Mann.“
Ein bitteres Lächeln zuckte über ihre Lippen.
„Tolle Arbeit.“
„Fehler passieren“, erwiderte Lucian und stellte das Glas ab.
Sein Finger ruhte neben der Pistole—aber er rührte sie nicht an. Musste er nicht.
„Und jetzt?“ fragte Andromeda. „Warten, bis Elliot auftaucht? Die Chancen stehen schlecht. Er ist der Typ, der dich eher stehen lässt, als dass er zurückkommt.“
Lucian starrte sie einige Sekunden an. Ihr Gesicht. Mikroregungen. Den Tonfall.
„Daran habe ich auch schon gedacht“, murmelte er. „Aber du… du bist interessant. Der Typ Mensch, der überall hingehört und nirgends passt. Unsichtbar. Keine sozialen Medien, keine öffentlichen Profile. Keine Schlüsselfigur in deiner Firma, aber dein Name steht kleingedruckt auf jeder Blaupause.“
„Vielleicht mag ich nur kein Rampenlicht“, konterte sie und zwang sich, nicht zur Pistole zu schauen.
Lucian erlaubte sich ein halbes Lächeln. Kein freundliches. Eher wie ein Löwe, der sich die Zähne leckt, bevor er auf den Käfig zugeht.
„Oder du bist besser im Verstecken, als wir dachten. Und das… irritiert mich.“
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, doch Andromeda hielt seinem Blick stand.
„Das ist neu. Ein Mafiaboss, den nervt, dass eine Frau nicht auf i********: postet.“
Lucians Augen verengten sich.
„Versuch nicht, witzig zu sein. Ich habe noch nicht entschieden, ob ich dich mag.“
„Beruhigend“, murmelte Andromeda und wandte den Kopf ab.
Ihr Magen drehte sich, der Nacken brannte noch. Aber wenigstens saß sie jetzt aufrecht. Wenigstens sprach sie. Das war etwas. Lucian sagte nichts weiter. Langsam schob er die Hände in die Taschen und ging zur Tür.
„Wenn dir einfällt, was dein Bruder getan hat, ist jetzt ein guter Zeitpunkt. Denn das hier ist kein Spiel. Und meine Geduld… ist nicht unendlich.“
Andromeda antwortete nicht. Die Tür schnappte hinter ihm ins Schloss und ließ sie allein im Raum. Der Geruch von Whiskey lag in der Luft, der Schatten der Pistole zog sich lang über den Tisch. Ihre Nerven schmerzten, der Mund war trocken. Doch ein Gedanke hallte in ihr nach:
Wenn ich hier raus will, muss er mich zuerst kennen. Dann mir glauben. Und dann… beginnt die Wendung.
Die Stille nach der Tür war eine andere. Nicht wie zuvor, als die Dunkelheit jedes Geräusch verschluckte. Diese Stille… lebte. Atmete, summte, würgte.
Andromeda saß noch auf dem Bett, aber ihre Haltung hatte sich verändert. Ein bisschen weniger zerbrochen. Ein bisschen mehr… gesammelt.
Die Pistole lag noch auf dem Tisch. Regungslos. Und doch fühlte es sich an, als beobachte sie sie. Auch der Whiskydunst hing noch—aber jetzt roch er nicht bedrohlich. Nur bitter.
Langsam griff sie unter die Decke und spürte ihre klebrignassen Kleider. Sie hatte keine Ahnung, wann man sie umgezogen hatte. Oder wer. Der Gedanke jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
In der Zimmerecke, über die Lehne eines Metallstuhls gelegt, lag ein gefalteter Kleidersatz. Nichts Besonderes: weiche schwarze Jogginghose, schlichtes Baumwollshirt und ein frischer Satz Unterwäsche. Sauber. Frisch gewaschen. Jemand hatte zugesehen.
Jemand hatte ihr Aufwachen vorbereitet.
Sie saß eine Weile da. Regungslos. Jeder Teil ihres Körpers tat weh. Muskeln, Gelenke, Nacken, Magen—vor allem der Magen. Sie wusste, sie hatte eine Panikattacke gehabt. So fühlte sie sich immer danach. Wie ein ausgewrungenes Tuch.
Der Mund war trocken. Die Zunge schwer, die Kehle brannte—jeder Schluck wie Schleifpapier. Sie brauchte Wasser. Irgendwas. Jetzt.
Langsam, schmerzhaft rutschte sie vom Bett. Die Beine trugen sie kaum. Mit den Fingern klammerte sie sich an der Kante des Nachttischs fest. Balance. Fokus. Sie durfte nicht hinfallen. Nicht hier. Nicht jetzt.
Die Badezimmertür war links in der Ecke, einen Spalt offen. Kleiner Raum. Blaugraue Fliesen, winziges Becken, ein Abfluss hinter dem Duschvorhang, ein Handtuch an der Wand. Minimal. Praktisch. Gefängniskomfort. Aber es gab einen Wasserhahn.
Und das bedeutete jetzt mehr als alles andere.
Sie taumelte hinüber. Drehte den Hahn auf, und das Geräusch des Wassers war wie zurückkehrendes Leben. Sie beugte sich vor, fing den Strahl in den Händen auf und trank. Große Schlucke. Dann noch einen. Das kalte Wasser brannte die Kehle hinunter, schlug in den Magen—aber es war ihr egal. Der Durst war so groß, dass der Schmerz wie Erlösung fühlte. Erst als sie sich wieder gegen das Becken lehnen musste, merkte sie, dass sie zitterte. Zu viel. Zu schnell.
Aber immerhin… lebte sie.
Sie streifte ihre Kleidung ab. Alles. Die Fliesen unter den Füßen waren eisig, und das Wasser kam eiskalt, wurde allmählich warm. Sie hatte nicht vor, lange darunter zu stehen. Ihr Körper hatte nicht die Kraft. Aber trotzdem… sie brauchte das.
Das Wasser spülte Schweiß, Angst und kalte Erinnerung fort. Sie schauderte, als ihre Finger den Hinterkopf berührten. Die Schlagstelle war noch empfindlich. Beim Abtrocknen knurrte ihr Magen laut—fast beleidigt. Sie hatte Hunger.
Aber man hatte ihr nichts gebracht. Nicht einmal Wasser. Sie hatte einfach dort gelegen. Ausgetrocknet. Der Gedanke stach unerwartet scharf in die Brust.
Das war kein Versehen. Keine Nachlässigkeit. Es war Teil des Drehbuchs.
Sie spielten mit ihrer Schwäche. Ihrer Verletzlichkeit. Sie dachten, wenn sie hungrig, durstig, kalt sei… würde sie reden.
Aber sie kannten sie nicht. Sie wussten nicht, dass Andromeda Carter nicht aus jenem Porzellan gemacht war, das beim Fallen in Scherben geht. Sie war seit Jahren von innen heraus am Reißen—und hielt trotzdem.
Sie zog die sauberen Sachen an. Die Bewegungen waren langsam. Manchmal stockte ihr die Luft. Aber sie schaffte es. Band die Haare zusammen, schob die Beine wieder aufs Bett und setzte sich langsam. Die Muskeln schmerzten. Doch diesmal blieb sie aufrecht. Wartend.
Vielleicht kam der Mann zurück. Vielleicht brachte man diesmal Essen. Vielleicht… geschah gar nichts.
Aber wenn sie kamen—wäre sie bereit. Zu reden, zu lügen, zurückzuschlagen. Denn jetzt beobachtete nicht nur Lucian sie. Sie würde auch ihn beobachten.
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Der Monitor glomm sanft im abgedunkelten Büro. Der Rest der Lichter war aus, Schatten zogen lang über die Wand. Lucian saß im Stuhl, den Ellbogen auf der Armlehne, ein Glas Whiskey in der Hand. Dasselbe wie am Morgen. Und doch schmeckte es jetzt bitterer. Auf dem Bildschirm: Andromeda Carter.
Ein wenig zerzaust. Nasses Haar. Sweatshirt und Socken, barfuß, die Knie an die Bettkante gezogen. Ihre Bewegungen waren langsam. Nicht zart „weiblich“—eher so, als würde jeder Muskel gegen jede kleinste Anstrengung protestieren.
Lucian sagte nichts. Rührte sich nicht. Er beobachtete nur.
Der Kamerawinkel war perfekt. Er sah, wie sie ins Bad taumelte. Sah, wie sie aus dem Hahn trank, als wäre es das Erste, was nicht Schmerz oder Angst war. Sah ihr Zittern. Sah, wie sie schwankend zurückkam und sich am Becken festhielt. Das war kein Schauspiel.
Das war echt. Der Arzt hatte gesagt, sie habe kein Fieber. Die Medikamente wirkten, die Infusionen hatten ersetzt, was sie konnten. Körperlich sollte sie okay sein. Vielleicht nicht perfekt, aber nicht so schwach.
Lucian verengte die Augen. Nippte—doch der Whiskey lieferte keine Antworten. Brennte nur. Irgendetwas stimmte nicht.
Noch Erholung von der Panikattacke? Vielleicht hatte der Schlag tiefer gesessen als gedacht? Oder… hatte sie einfach gelernt, sich so klein, so unbedeutend zu machen, dass niemand sie ernst nahm? Der Gedanke irritierte ihn.
Er hasste Menschen, die er nicht lesen konnte. Die Transparenten sind die besten: ein wenig Druck, eine kleine Drohung, und alles läuft aus. Aber Andromeda… sie brach nicht. Sie wurde still. Und Stille—an einem Ort wie diesem? Das war kein Mut. Das war gefährlich.
Lucian lehnte sich zurück, die Augen weiter auf den Bildschirm geheftet. Sie band sich jetzt langsam, schmerzhaft die Haare zusammen. Dann schlurfte sie zurück zum Bett und setzte sich. Legte sich nicht hin. Saß. Wartete. Sie wusste, dass man sie beobachtete.
Der Gedanke ließ Lucian lächeln. Kein freudiges. Eher… Respekt. Als sei ein neuer Zug in einem Spiel gemacht worden—und die Gegenspielerin endlich eingestiegen. Die Frau war nicht unwissend. Und sie war auch nicht hilflos.
Vielleicht war ihr Körper noch im Eimer. Aber ihre Augen… ihre Augen beobachteten. Rechneten.
Lucian stellte das Glas auf den Schreibtisch, zog ein Notizbuch hervor. Keinen Computer. Papier. Er mochte das: Tinte, Gewicht, die Form von Gedanken in der Hand.
Notizen:
kein Fieber
kein benebelter Medikamentenzustand
Bewegung schleppend, Schwäche bleibt
gierig nach Wasser gegriffen → keine Panik, Notwendigkeit
keine Reaktion auf fehlendes Essen
bewusst, beobachtet zu werden
weint NICHT
bettelt NICHT
fragt NICHT nach ihrem Bruder
Vor allem der letzte Punkt störte ihn. Wenn jemand entführt wird, wollen die meisten wissen: Was passiert? Wann kommt er mich holen? Was hat er getan? Aber sie hatte nichts gefragt. Nicht gestern. Nicht jetzt. Entweder weiß sie wirklich nichts über Elliot…
…oder sie weiß verdammt viel mehr, als irgendwer denkt.
Lucian schlug das Notizbuch zu. Stand auf. Stützte sich einen Moment auf dem Tisch ab, als wöge er den nächsten Schritt ab. Dann griff er unter die Platte und drückte einen Knopf.
„Tobias“, sagte er, klar und kontrolliert. „Bring ein Tablett mit Essen. Richtigem Essen. Kein Knastfraß. Frisch, heiß, menschlich. Wasser auch. Und etwas für den Kopf, falls er noch wehtut.“
Stille am anderen Ende. Dann Tobias’ leise, leicht überraschte Stimme:
„Heute fürsorglich drauf?“
Lucians Augen blitzten, aber seine Stimme blieb kühl.
„Ein schwacher Körper ist nutzlos.
Und eine Frau mit leerem Magen redet nicht. Ich bringe es ihr in einer Stunde selbst.“
Er beendete den Anruf. Auf dem Bildschirm saß Andromeda noch immer da—leicht nach vorn geneigt, als hielte sie entweder Hunger oder Übelkeit zurück. Ihre Hand lag auf dem Knie. Ihr Gesicht blass, aber die Lippen zitterten nicht mehr. Lucian murmelte leise vor sich hin:
„Zeig mir, was du sonst noch hast, Andy Carter.“
Und er machte sich auf den Weg nach unten.