KAPITEL FÜNF
Irinas Sicht
Ich stand wie erstarrt da und beobachtete, wie die beiden Brüder einander wie Wölfe umkreisten, die auf Beute lauerten.
Mein Herz hämmerte so heftig, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen. Meine Hände zitterten. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben.
Das war meine Schuld.
Das alles war meine Schuld.
„Ich weiß“, sagte Alexei leise. „Aber das Baby verändert alles. Das weißt du. Sie trägt mein Kind, Dima. Das macht sie zu meinem. So funktioniert unsere Welt.“
Dimitri blickte seinen Zwillingsbruder hasserfüllt an, die Faust geballt. Zuerst dachte ich, er würde zustimmen.
„Verschwinde“, sagte er leise.
„Sie trägt mein Kind“, sagte Alexei mit festem, unnachgiebigem Blick.
„Da sind wir uns nicht ganz sicher“, flüsterte Dimitri, seine Stimme bebte vor Wut, die er kaum zügeln konnte.
„Du auch nicht“, erwiderte Alexei.
Und so wurde in diesem Moment der Krieg erklärt. Nicht mit Worten oder Waffen, sondern mit der Stille, die folgte. Die Stille sterbender Brüderlichkeit.
Ich sah die beiden Männer, die ich zerstört hatte. Zwei Brüder, die unzertrennlich gewesen waren. Zwei Hälften eines Ganzen. Nun standen sie auf gegenüberliegenden Seiten einer unsichtbaren Linie, gezogen aus Blut und Verrat.
„Dimitri“, flüsterte ich. Meine Stimme klang gebrochen. „Bitte. Es tut mir so leid.“ „Ich wollte nie …“
„Tu es nicht.“ Er sah mich nicht an. Sein Blick ruhte auf seinem Bruder.
„Entschuldige dich nicht für etwas, das nicht deine Schuld war.“
„Aber es war meine Schuld“, sagte ich verzweifelt. „Hätte ich nur das Licht angemacht. Hätte ich nur genauer hingesehen. Hätte ich nur …“
„Hätte ich dich nicht in meinem Zimmer versteckt“, unterbrach Dimitri mich mit kalter Stimme. „Hätte ich dich nicht so geheim gehalten, als wärst du etwas, wofür man sich schämen müsste. Hätte ich meinem Bruder nur gesagt, er solle sich von dir fernhalten. Es gibt tausend Wenns, Irina. Nichts davon spielt jetzt eine Rolle.“
Alexei trat einen Schritt vor. „Komm mit“, sagte er und sah mich zum ersten Mal an, seit er den Raum betreten hatte. „Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Einen Ort, wo du dich ausruhen kannst.“
„Sie geht nirgendwo mit dir hin“, sagte Dimitri entschieden.
„Sie trägt mein Kind. Das macht sie zu meiner Verantwortung.“
„Sie ist meine Magd.“ „Sie lebt unter meinem Dach. Sie steht unter meinem Schutz.“ Dimitris Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Du kannst sie nicht einfach mitnehmen, nur weil du einen Fehler gemacht hast.“
„Ein Fehler, der zu einem Kind geführt hat“, entgegnete Alexei. „Und das ändert alles. Du kennst die Gesetze genauso gut wie ich.“
„Gesetze?“, lachte Dimitri bitter auf. „Du willst über Gesetze reden? Du bist in meine Privatgemächer eingebrochen. Du hast meine Frau angefasst. Du …“
„Ich wusste es nicht!“, brüllte Alexei. „Wie oft muss ich es noch sagen? Ich war betrunken. Ich konnte nichts sehen. Ich dachte, es wäre nur ein anderes Zimmer. Ich wusste nicht, dass sie da war. Ich wusste nicht, dass sie mich für dich hielt. Ich. Wusste. Es. Nicht.“
„Aber jetzt weißt du es“, sagte Dimitri leise. Bedrohlich. „Und du versuchst immer noch, sie mir wegzunehmen.“
„Ich übernehme die Verantwortung für meine Taten. So verhält sich ein Mann.“
„Ein Mann schläft nicht mit der Frau seines Bruders“, sagte Dimitri.
„Ich wusste nicht, dass sie dir gehört!“
„JEDER WEISS, DASS SIE MIR GEHÖRT!“ Dimitris Ruf hallte durch den Raum. Durch die Flure. Wahrscheinlich durch das ganze Anwesen. „Jeder hier weiß, dass Irina mir gehört. Dass sie die einzige Frau ist, die mir je etwas bedeutet hat. Die Einzige, die ich je beschützt habe. Die Einzige, die ich je …“
Er hielt inne. Schloss die Augen und holte tief Luft.
„Die Einzige, die ich je geliebt habe“, beendete er leise den Satz.
Mein Herz zerbrach.
Er hatte es nun schon zweimal gesagt. Er liebte mich.
Dimitri Volkov liebte mich.
Und ich hatte diese Liebe mit einem einzigen, im Dunkeln begangenen, schrecklichen Fehler zerstört.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich erneut. Tränen rannen mir über die Wangen. „Es tut mir so unendlich leid.“
Diesmal sah Dimitri mich an. Seine ozeanblauen Augen waren von einem so tiefen Schmerz erfüllt, dass er mir den Atem raubte.
„Ich weiß“, sagte er leise. „Aber Entschuldigung ändert nichts. Entschuldigung lässt das Baby nicht verschwinden. Entschuldigung dreht die Zeit nicht zurück.“
„Was sollen wir denn jetzt tun?“, fragte ich verzweifelt, während mir Tränen über die Wangen liefen. „Bitte, Dimitri. Sag mir, was ich tun soll. Ich tue alles. Alles, um das wieder gutzumachen.“
„Das kannst du nicht wieder gutmachen“, sagte er. „Niemand kann das.“
Die Tür flog zum dritten Mal auf.
Ein älterer Mann trat ein. Er war grauhaarig und vernarbt, aber seine Autorität ließ die beiden Brüder instinktiv zusammenzucken.
Es war Michail Resnikow, ihr Taufpate.
„Genug“, sagte er. Seine Stimme war tief und gebieterisch. „Ihr beide. Genug.“
„Taufpate“, sagte Dimitri überrascht. „Das geht Sie nichts an.“
„Es beunruhigt mich, wenn meine Jungs sich wegen eines Mädchens umbringen wollen.“ Sein dunkler Blick huschte über die Szene. Ich stand zitternd und tränenüberströmt am Bett. Dimitri war vor Wut wie versteinert. Alexei blutete aus seiner aufgesprungenen Lippe. „Was ist hier geschehen?“
„Frag ihn“, sagte Dimitri kalt und deutete auf Alexei.
„Ich frage euch beide.“
Stille trat ein. Keiner der Brüder wollte als Erster sprechen. Keiner wollte zugeben, was geschehen war.
Schließlich sprach Alexei. „Das Dienstmädchen ist schwanger. Von mir.“
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Ich verstehe“, sagte er bedächtig. „Und wie konnte das passieren?“
„Er war betrunken“, sagte Dimitri. Seine Stimme klang emotionslos. „Er ist während der Feier in mein Zimmer gestolpert. Es war dunkel. Sie hielt ihn für mich. Und jetzt ist sie von seinem Bastard schwanger.“
Er sah mich an. Sein Blick war freundlich, aber forschend. „Stimmt das, Kind?“
Ich nickte, unfähig zu sprechen.
„Und du dachtest, er wäre Dimitri?“
Ich nickte erneut.
Er seufzte schwer und wirkte älter und müde. „Das ist ein Schlamassel“, sagte er leise. „Ein furchtbarer, tragischer Schlamassel.“
„Ich nehme sie mit“, sagte Alexei. „Das Baby gehört mir. Damit gehört sie auch mir.“
„Sie ist kein Besitz, den man sich einfach nehmen kann“, sagte Michail scharf. „Sie ist ein Mensch. Eine junge Frau, die einen unschuldigen Fehler begangen hat und nun zwischen zwei Brüdern steht, die zu wütend sind, um klar zu denken.“
„Ich denke sehr wohl klar“, sagte Dimitri kalt. „Mein Bruder hat mir genommen, was mir gehörte. Und jetzt will er sie wie eine Trophäe vorführen. Wie den Beweis seiner Eroberung.“
„Das tue ich nicht“, protestierte Alexei.
„Was tust du dann?“, fragte Michail. „Warum willst du sie? Liebst du sie?“
Alexei zögerte einen Moment. Aber es genügte.
„Sie trägt mein Kind“, sagte er erneut. „Das ist Grund genug.“
„Nein“, sagte Michail entschieden. „Das ist es nicht. Ein Kind verdient es, von Eltern erzogen zu werden, die einander lieben. Nicht von einem Vater, der die Mutter nur aus Pflichtgefühl für sich beansprucht.“
„Dann bleibt sie bei mir“, sagte Dimitri.
„Und was passiert, wenn das Baby geboren ist?“, hakte Michail nach. „Wenn du jedes Mal, wenn du es ansiehst, den Bruder siehst, der dich verraten hat? Glaubst du, du kannst dieses Kind lieben, Dimitri? Glaubst du, du kannst sie mit Alexeis Baby im Arm sehen, ohne sie dafür zu hassen?“
Die Frage hing wie eine Guillotine in der Luft.
Dimitri sagte nichts. Sein Kiefer war angespannt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Er konnte nicht antworten. Denn wir alle kannten die Wahrheit.
Er würde mich hassen. Irgendwann.
Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Aber eines Tages würde er mich ansehen und nur Verrat sehen. Nur Schmerz. Nur alles, was er verloren hat.
„Es gibt hier keine gute Lösung“, sagte Michail leise. „Keine Antwort, die alle zufriedenstellt. Aber wir müssen einen Weg finden, der nicht damit endet, dass ihr euch gegenseitig umbringt.“
„Er hat sie mir genommen“, sagte Dimitri. Seine Stimme brach. „Wie soll ich ihm das verzeihen?“
„Ich weiß es nicht“, gab Michail zu. „Aber wenn ihr keinen Ausweg findet, wird euch das beide zerstören. Es wird das Imperium zerstören, das ihr gemeinsam aufgebaut habt. Es wird alles zerstören, wofür eure Eltern gestorben sind.“
„Unsere Eltern“, sagte Dimitri bitter, „starben, weil sie den falschen Leuten vertrauten. Weil sie unachtsam waren. Diesen Fehler werde ich nicht machen.“
„Du hältst mich jetzt für deinen Feind?“, fragte Alexei leise. „Nach allem, was wir durchgemacht haben? Nach all dem Blut, das wir zusammen vergossen haben?“
„Du hast dich zu meinem Feind gemacht, als du sie berührt hast.“
„Es war ein Unfall!“, rief Alexei.
„Das macht es nicht weniger schmerzhaft!“, rief auch Dmitri. Der Schrei hallte durch den Raum.
Dimitris Fassung brach endgültig. Tränen sammelten sich in seinen Augen, doch er weigerte sich, sie fließen zu lassen. „Du warst mein Bruder“, sagte er mit zitternder Stimme. „Mein Zwilling. Der einzige Mensch auf der Welt, dem ich vollkommen vertraut habe. Und jetzt kann ich dich nicht einmal mehr ansehen, ohne dir eine Kugel in den Kopf jagen zu wollen.“
Alexei zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schlag getroffen. „Dima …“
„Nenn mich nicht so.“ Dimitris Stimme wurde wieder kalt. Distanziert. „Dieser Name gehört meinem Bruder. Und ich habe keinen Bruder mehr.“
Die Worte waren endgültig und unwiderruflich.
„Das meinst du nicht so“, flüsterte Alexei.
„Ich meine jedes Wort.“ Dmitris Augen waren kalt.
Michael trat zwischen sie.
„Halt. Ihr beide. Jetzt ist nicht die Zeit für Erklärungen, die ihr nicht zurücknehmen könnt.“
„Es ist vollbracht“, sagte Dmitri. „Er hat sie mir vorgezogen. Jetzt kann er mit dieser Entscheidung leben.“
„Ich habe mich entschieden, die Verantwortung zu übernehmen“, protestierte Alexei. „Das ist nicht dasselbe.“
„Doch, genau dasselbe.“
„Genug!“, rief Michail mit peitschenartiger Stimme. „Ich übernehme die Kontrolle, bevor ihr beiden etwas Dummes anstellt. Dmitri, du behältst die Kontrolle über die östlichen Gebiete. Alexei, du übernimmst die westlichen. Ihr teilt alles in der Mitte. Keine Überschneidungen. Kein Konflikt.“
„Du willst uns spalten?“, fragte Dmitri langsam.
„Ich verhindere einen Krieg“, sagte Michail entschieden. „Wenn ihr zwei zusammenbleibt, bringt ihr euch innerhalb einer Woche gegenseitig um. Deshalb trennt ihr euch. Jeder wird sein eigenes Territorium haben. Und ihr werdet euch fernhalten, bis ihr euch ohne Gewalt im selben Raum aufhalten könnt.“
„Und sie?“, fragte Alexei und sah mich an.
Mikhail warf mir einen Blick zu. „Sie muss sich entscheiden.“
Mir stockte der Atem. „Was?“
„Du wirst entscheiden“, wiederholte Michail sanft und wandte sich mir zu. „Bleibst du bei Dimitri, dem Mann, den du liebst? Oder gehst du zu Alexei, dem Vater deines Kindes? Es ist deine Entscheidung, Mädchen. Für wen entscheidest du dich?“
Ich blickte zwischen den beiden Brüdern hin und her. Dimitri, den ich seit vier Jahren liebte. Der sanft zu mir gewesen war. Der mich beschützt hatte. Der meine Liebe erwidert hatte.
Und Alexei, den ich kaum kannte. Der mir meine Unschuld genommen hatte, weil er mich für jemand anderen hielt. Der mich nun aus Pflichtgefühl, nicht aus Sehnsucht, für sich beanspruchen wollte.
Wie sollte ich mich entscheiden?
Wie konnte irgendjemand diese Entscheidung treffen?