Kapitel 4: Highway zur Abrechnung

996 Worte
*Annas Sicht* Der Regen prasselte wie Granatsplitter auf die Windschutzscheibe. Anna umklammerte das Lenkrad, die Knöchel weiß auf dem Leder, und suchte die dunkle Straße vor sich ab. Sie hätte abseits bleiben sollen. Doch Instinkte oder vielleicht etwas Grausameres hatten sie zurück in die Bewegung getrieben. Der Lieferwagen war zwei Wagenlängen hinter ihr. Sie sah ihn zuerst im Rückspiegel: mattschwarz, die Scheinwerfer abgeblendet. Ein Regierungsfahrzeug oder etwas, das so aussehen sollte. So oder so, er war ihr zu lange zu dicht gefolgt. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Kosovo. Blut auf Seide. Duft von Jasmin und Kordit. Ihr Griff wurde fester. Sie bremste scharf und riss das Lenkrad nach rechts. Die Reifen quietschten auf dem nassen Asphalt, als sie in eine alte Zufahrtsstraße einbog. Der Lieferwagen beschleunigte. *Sie haben angebissen.* Anna atmete durch die Nase aus. Ruhig. Besonnen. Ihre Bewegungen waren fließend, als sie unter den Sitz griff und ein Fach aufklappte. Eine kompakte Pistole. Ein taktisches Messer. Ein ausgehöhlter Anhänger und ein einzelner USB-Stick mit dem Psi-Symbol. Dasselbe Symbol, das sie letzte Nacht in der Birke in der Nähe des Scharfschützennests gefunden hatte. Ein kalkuliertes Risiko. Der Van schoss vorwärts. Sie versteckten sich nicht mehr. Sie gab Gas. Die Verfolgungsjagd schlängelte sich einen schmalen Pfad entlang, zu eng für Komfort, zu locker für Hoffnung. Und dann lichtete sich der Wald. Sie trat auf die Bremse. Ihr Wagen rutschte zur Seite und blieb in einer Schlammschwaden stehen. Der Van blockierte die Straße hinter ihr. Zwei Männer stiegen aus, bewaffnet, zielstrebig. „Anna Rivers“, bellte einer. „Raus aus dem Auto.“ Ihre Hand wanderte zum Zündschlüssel und betätigte den schwarzen Schalter unter dem Armaturenbrett. Ein Piepton antwortete ihr. Das Rücksitzpaket war aktiviert. Drei Sekunden. Zwei. Eins. *BUMM.* Der Lieferwagen explodierte in einer kontrollierten Explosion aus Feuer und Stahl. Reflexartig duckte sie sich, Glas zersplitterte auf ihrem Armaturenbrett. Rauch stieg auf, orangefarbener Rauch durchzuckte die Nacht. „Zünder versagt!“, rief eine Stimme aus dem Wrack – einer von ihnen war am Leben. Nicht ideal. Sie öffnete die Tür und rannte. Durch Bäume. Durch die Erinnerung. *Alexanders Perspektive* Er sah die Explosion von einem Bergrücken aus, der weniger als eine Meile entfernt war. Sein Ohrhörer knisterte vor statischem Rauschen, dann eine atemlose Stimme. „Abfangen fehlgeschlagen. Sie ist frei.“ Alexander knirschte mit den Zähnen. Sie sollte niemals abgefangen werden. Er rannte den Hügel hinunter, der Wald schloss sich um ihn herum. Jeder Schritt hallte in seinen Stiefeln wider wie Urteil. Äste knackten wie Knochen. Er hasste den Wald. Zu viele Winkel. Zu viele Geister. Er holte sie an der Schlucht ein, beide keuchten im Mondlicht. „Hast du das geplant?“, fragte sie mit halb erhobener Waffe. „Ich habe den Peilsender geortet, den sie benutzt haben“, sagte er. „Nicht du.“ Einen Moment lang. Ihre Augen verengten sich. „Also benutzt du mich immer noch.“ „Nein“, sagte er. „Ich schütze einen Vermögenswert.“ Sie senkte die Waffe. „Du entmenschlichst mich immer noch. Schön zu wissen, dass du dich nicht verändert hast.“ Bevor er antworten konnte, drehte sie den Kopf. Ein leises Klicken. Nicht von ihnen. Eine Sicherung. Gewehr. Anna duckte sich und zog ihn mit sich. Knack. Die Kugel traf den Baum, wo Alexanders Kopf gelegen hatte. Bark explodierte wie ein Granatsplitter. Er rollte sich ab und zog seine Waffe. „Da ist mindestens noch einer.“ Anna griff in ihren Stiefel. Ein Signalstörer. Sie aktivierte ihn. Stille. Alexander berührte seinen Ohrhörer. Tot. „Ich zähle drei“, sagte sie. „Nein“, sagte er. „Vier. Einer hat nicht geschossen.“ Sie drehte sich abrupt um. „Warum?“ Er antwortete nicht. Weil er diese Stimme kannte. Weil diese Stimme ihr Rufzeichen kannte. „Zieht euch in den Bunker zurück“, befahl er. Sie rannten. *Annas Sicht* Der Atomschutzbunker lag unter dem Außenposten des alten Rangers. Kalt. Eng. Sicher. Fast. Anna sank in einen Metallstuhl, das Adrenalin schoss noch immer durch ihre Adern. Ihr durchnässtes Hemd klebte an ihren Rippen und enthüllte die verblasste Narbe an ihrer Seite. Alexanders Blick huschte dorthin. Sie zuckte nicht zusammen. „Es ist in Kandahar passiert“, sagte sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass das Souvenir wieder in Mode kommt.“ Er lächelte nicht. Stattdessen kniete er sich neben sie, zog einen Verbandskasten von der Wand und tupfte ihr ein Antiseptikum auf den aufgeschürften Arm. „Warum hat der Scharfschütze nicht geschossen?“, flüsterte sie. Er begegnete ihrem Blick. „Vielleicht war es nicht für dich bestimmt.“ „Aber es war mein Rufzeichen.“ „Genau.“ Anna blinzelte. „Glaubst du, sie wollten mich ... provozieren?“ Er sagte nichts. Er legte nur einen frischen Mullverband auf und stand auf. Sie folgte ihm in den inneren Raum. Ein Feldbett, ein Stahlschreibtisch, eine Karte der nördlichen Gebiete mit roten Markierungen. Und auf dem Schreibtisch: das in Holz eingebrannt Psi-Symbol. „Was zum Teufel ist das?“, fragte sie. Er antwortete nicht sofort. Dann: „Ich habe dieses Symbol schon einmal gesehen. In Nowosibirsk. An einer Laborwand. Neben einer Liste mit deinem Namen und einem weiteren.“ „Wessen?“ Er blickte auf. „Meins.“ Die Luft wurde dichter. Dann flackerten die Lichter. „Ich habe den Störsender durch das Basisnetz umgeleitet“, sagte er. „Sie werden uns nicht finden.“ Aber Anna sah nicht in die Lichter. Sie starrte auf den Bildschirm hinter ihm. Ein Überwachungsbild. Eine Kamera im Bunker erlosch nacheinander. Dann erschien ein neues Bild. Ein Gesicht. Verschwommen. Von Keramik maskiert. Und eine Stimme, verzerrt wie zerbrochene Klaviertasten. „Anna. Atme.“ Sie trat einen Schritt zurück. Der Anhänger brannte kalt auf ihrer Haut. Alexander zog seine Waffe. „Das bin nicht ich.“ „Ich weiß.“ Sie streckte die Hand aus und tippte auf den Bildschirm. Das Bild zoomte heran. Die Maske zerbrach. Und darunter war ihr Gesicht.
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