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Durch einen schläfrigen Nebel höre ich einen sirenenartigen Lärm.
Mit bildhafter Klarheit erinnere ich mich an das, was am Strand passiert ist, und meine Müdigkeit verschwindet. Bevor ich meine Augen öffne, denke ich eindringlich zu Phoe: »War das alles ein Traum? Und wenn es kein Traum war, was zur Hölle war es dann?«
Phoe antwortet nicht. Stattdessen wird das sirenenartige Geräusch lauter.
»Phoe?«, frage ich lautlos.
Sie antwortet nicht, aber der Alarm, oder um was es sich auch immer handelt, wird noch lauter.
»Phoe«, flüstere ich und öffne meine Augen.
Rote Lichtblitze stürmen auf meine Augen ein, und ich sehe mich gezwungen, mehrmals zu blinzeln.
»Was hast du gerade gemurmelt?«, fragt Liam.
Die Stimme meines Freundes ist dicht an meinem Ohr. Ich zucke zusammen und rolle mich weg. Es könnte mein verwirrtes Gehirn sein, das mir einen Streich spielt, aber Liam hört sich verängstigt an – ein Gefühl, von dem ich nicht gedacht hätte, dass er es empfinden kann.
Meine Augen gewöhnen sich an die Umgebung, und ich erkenne Liams Gesichtszüge deutlich, da er sich gerade über mein Bett beugt. Seine Augenbrauen sind zu seiner charakteristischen »Stirnraupe« zusammengezogen, und die flackernden roten Lichtblitze lassen ihn eigenartig leuchten.
»Ein Alarm ist losgegangen«, sagt Liam, als ich mich hochdrücke, um mich hinzusetzen. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Komisch«, murmele ich, während ich meine Füße nach unten schwinge und die Geste für die Mundreinigung durchführe.
Nichts passiert.
Ich gestikuliere für Essensriegel und Wasser – nichts.
Als ich gerade dabei bin, ein Gedankenkommando zu geben, höre ich, wie Liam sagt: »Falls du gerade versuchst, einen Bildschirm oder irgendetwas anderes erscheinen zu lassen, das wird nicht klappen. Es ist hier wie im Hexengefängnis.«
Um seine Worte zu überprüfen, führe ich die Geste für einen Bildschirm durch.
»Ich habe es dir doch gesagt«, meint Liam, als nichts passiert. Seine Atmung hört sich schwer an.
Ich versuche, einen Bildschirm per Gedankenkommando aufzurufen – und nichts passiert.
»Phoe, was zum Henker …?«, sage ich laut und stehe auf.
Liam schaut mich irritiert an, und Phoe antwortet mir nicht, obwohl ich ihren Namen laut ausgesprochen habe – was die letzte Bestätigung dessen ist, was ich schon weiß.
Irgendetwas ist furchtbar schiefgelaufen. Die Frage ist: was?
Ohne meine Schuhe, die für gewöhnlich an meinen Füßen erscheinen, werden meine Füße zu Eisklötzen, als sie den kalten Boden berühren. Ich ignoriere diese Tatsache, drehe eine Runde in dem Zimmer und versuche dabei, die Situation zu verstehen. Das flackernde rote Licht kommt aus allen Richtungen und ersetzt unsere üblicherweise weiße Beleuchtung.
»Hast du nachgeschaut, ob die Tür unverschlossen ist?«, frage ich Liam, bevor ich Phoe mental anschreie: »Wo bist du? Was zur Hölle ist hier los?«
Phoe antwortet immer noch nicht. Liam geht zur Tür und führt die Geste zum Öffnen durch, aber die Tür reagiert nicht auf sein Kommando.
»Versuche, sie mit den Händen zu öffnen«, schlage ich verzweifelt vor und wiederhole lautlos meine Bitte an Phoe.
Sie schweigt.
Liam drückt mit seinen Händen gegen die Tür, und sie öffnet sich in Richtung Gang. Der Alarm dröhnt weiterhin. Ich frage mich, ob es sich um irgendeine Notfallübung oder eine echte Gefahr handelt. Die Luft im Raum ist mit Sicherheit abgestanden und ungewöhnlich bewegungslos.
Liams Atmung scheint die zweite Möglichkeit zu bestätigen. Seine Brust hebt und senkt sich in einem schnellen, angestrengten Rhythmus. Natürlich muss es sich dabei nicht um eine Kohlenmonoxidvergiftung handeln; es könnte genauso gut einfach die Angst sein.
»Achtung«, sagt Phoe mit einer formalen, extrem lauten Stimme. »Achtung, bitte.«
»Phoe«, schreie ich in Gedanken, bevor mir auffällt, dass Liam aufmerksam dasteht, so als habe er sie auch gehört.
»Sauerstoffproduktion und -zirkulation beeinträchtigt. Sofortige Evakuierung des Gebäudes«, ertönen dröhnend Phoes Anweisungen.
»Ist das eine Übung?«, fragt Liam.
Ich ziehe meine Augenbrauen in die Höhe. »Hast du das gehört?«
Liam legt seinen Kopf auf die Seite und runzelt seine Stirn. »Mann, eine taube Person hätte das gehört.«
»Sauerstoffproduktion und -zirkulation beeinträchtigt. Sofortige Evakuierung des Gebäudes«, wiederholt die Stimme, und mir fällt auf, dass, auch wenn sie sich wie Phoe anhört, sie nicht dieselbe ist. Jetzt, da ich genauer hinhöre, klingt es eher wie eine Aufzeichnung von Phoes Stimme, wie die von einem dieser altertümlichen automatisierten Telefonsysteme. Sie ist emotionslos, und die Sprechweise ist ein wenig eigenartig.
Liam tritt auf den Gang und kommt eine Sekunde später zurück. »Wir sollten gehen.« Seine Stimme ist ungewöhnlich rau. »Alle anderen sind bereits unterwegs.«
So als wolle sie seinen Vorschlag unterstützen, wiederholt Phoes mechanische Stimme den Befehl an uns, das Gebäude zu verlassen.
»Okay«, antworte ich. »Gehen wir.«
Im Gang sind die roten Lichter greller und die düstere Ansage lauter. Die Jugendlichen, die Liam eben gesehen hatte, sind bereits weg, so dass der Korridor leer ist.
Da wir uns immer unwohler fühlen, beginnen Liam und ich, den Gang hinunterzurennen. Während wir laufen, denke ich an die Entfernung, die wir hinter uns bringen müssen, um das Gebäude zu verlassen, und verfluche mein jüngeres Ich. Damals, als wir unsere Unterkünfte ausgesucht haben, war es meine Idee gewesen, einen Raum im obersten Stock und in der am weitesten entfernten Ecke zu nehmen. Zur Verteidigung meines jüngeren Ichs muss ich sagen, dass ich nicht glaube, dass es in Oasis jemals einen Ausnahmezustand gegeben hat. Ich kann selbst jetzt immer noch nicht wirklich glauben, dass das gerade der Fall ist.
»Phoe«, schreie ich in Gedanken. »Phoe, wenn du mir nicht antwortest, werde ich nie wieder mit dir reden.«
Sie antwortet nicht – außer natürlich, wenn die automatisierte Ansage als eine Antwort zählt.
Als wir um die Ecke biegen, sehe ich einige mitgenommen aussehende Jugendliche, die zu den Treppen rennen. Sie haben einen riesigen Vorsprung.
Ich kann jetzt deutlich Liams Atmung hören, was mich beunruhigt. Der Optimist in mir hofft, dass Liams Atmung deshalb so angestrengt ist, weil er sein Ausdauertraining vernachlässigt hat, aber ich weiß, dass Liam wahrscheinlich deshalb solche Schwierigkeiten mit dem Luftholen hat, weil die Sauerstoffversorgung dieses Gebäudes aufgehört hat zu arbeiten und er gerade eine Asphyxie erlebt – einen Zustand, den ich nur aus Büchern und Filmen kenne.
Ich überprüfe mich, und mir fällt auf, dass ich völlig normal atme. Das verblüfft mich einen Moment lang, bis ich mich an die Respirozyten erinnere – die Nanomaschinen, die Phoe vor einigen Tagen in meinem Blutkreislauf aktiviert hat. Diese Technologie hat die gleiche Funktion wie die roten Blutzellen, nur dass die Respirozyten hundertmal effizienter darin sind, Sauerstoff zu transportieren, als die kleinen biologischen Jungs. Kurz nachdem Phoe sie in Gang gesetzt hatte, habe ich sie getestet, indem ich mit angehaltenem Atem gerannt bin – und noch nie habe ich mich beim Laufen so wenig anstrengen müssen. Ich habe die Respirozyten außerdem benutzt, um den Versuch eines Wächters, mich umzubringen, zu überleben.
Meine egoistische Selbstbetrachtung wird davon unterbrochen, dass ich sehe, dass Liam Probleme hat, die Tür zum Treppenhaus zu öffnen.
»Lass mich das machen«, sage ich.
Als er seine Hand zur Seite bewegt, ziehe ich an der Tür. Sie öffnet sich so leicht, dass ich mich besorgt darüber wundere, dass Liam überhaupt Schwierigkeiten damit gehabt hat.
Wir rennen die Treppen hinunter. Mir fällt auf, dass Liams Atmung immer hektischer wird, während seine Geschwindigkeit mit jedem Schritt nachlässt.
»Mann, willst du dich auf dem Weg nach unten auf mir abstützen?«, frage ich ihn, als aus seinem Rennen ein vorsichtiges Gehen wird.
»Ich mich auf dir abstützen?«, fragt er keuchend. Auch wenn er ganz offensichtlich Schwierigkeiten damit hat, zu reden, hellt sich sein Gesichtsausdruck ein wenig auf. Er denkt, dass ich Witze mache, da er immer als der Stärkste in unserer Gruppe angesehen wurde. »Ja, genau. Das wird passieren. Jetzt halt den Mund. Es ist kaum Sauerstoff vorhanden, und wir verschwenden ihn durch Reden.«
»Das Hinabsteigen der Treppen ist aber leichter für mich«, sage ich. »Dafür gibt es einen guten Grund, den ich dir erklären werde, sobald wir draußen sind, aber vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du dir von mir helfen lassen solltest.«
Liam schüttelt stur seinen Kopf und beginnt, die Treppen schneller hinabzusteigen. Sein Energieausbruch hält allerdings nicht lange an. Als wir uns der zweiten Etage nähern, schwankt er und geht so langsam, um nicht zu fallen, dass er schon fast kriecht. Einige Momente später scheint selbst langsames Gehen zu viel für ihn zu sein, und er krallt sich stöhnend am Geländer fest.
»Okay, das reicht. Du wirst dir jetzt von mir helfen lassen.« Ohne darauf zu warten, dass er mir widerspricht, ergreife ich seinen linken Arm und lege ihn um meinen Nacken. Sobald ich ihn gut im Griff habe, bewege ich mich, so schnell ich kann.
Ich dachte, dass Liam sich beschweren würde, aber er grunzt dankbar und lehnt sie auf mich, während wir nach unten gehen. Ich drücke meinen Zeigefinger auf sein Handgelenk und kontrolliere heimlich seinen Puls. Sein Herz schlägt erschreckend schnell. Ich betrachte ihn mit einem neutralen Gesichtsausdruck, um meine Besorgnis zu verbergen. Es ist schwer zu sagen, ob es eine Nebenwirkung der roten Alarme ist, aber Liams Augen sehen blutunterlaufen aus, und sein Gesicht ist bläulich. Außerdem sehen die Venen auf seiner Stirn und an seinem Hals geschwollen aus.
Einen Treppenabsatz später schmerzt mein Rücken, weil ich mich bücken muss, um Liams kürzeren Körper zu stützen. Aber wenigstens wirkt sich der Sauerstoffmangel nicht auf mich aus.
»Phoe«, schreie ich in Gedanken. »Du musst mir nicht einmal antworten. Aktiviere bitte einfach Liams Respirozyten.«
Sie antwortet nicht.
Liam stützt sich stärker auf mich und zwingt mich dadurch, langsamer zu gehen. Wir sind jetzt nur noch eine Etage vom Erdgeschoss entfernt, aber wenn wir es erst einmal erreichen, haben wir immer noch fünf lange Flure hinter uns zu bringen.
Auf dem halben Weg nach unten beginnt Liam, stärker zu keuchen, und fasst sich an den Hals.
Ich knirsche mit den Zähnen und ignoriere meinen Rücken, der bei jedem Schritt lauthals protestiert.
Noch zwanzig Schritte bis nach unten.
Fünfzehn Schritte.
Um mich von den Anstrengungen abzulenken, konzentriere ich mich darauf, die Stufen zu zählen und Liams schneller Schnappatmung zu lauschen, während ich versuche, die beißende Kälte, die in meine nackten Füße eindringt, zu ignorieren.
Doch dann geschieht etwas, was mich aus meinem tranceartigen Zustand reißt. Liams hektisches Atmen hört auf – oder verlangsamt sich zu kaum hörbar. Gleichzeitig bricht er zusammen und stützt sein ganzes Gewicht auf mich.
Wir sind noch zehn Stufen vom Erdgeschoss entfernt, aber wir könnten uns genauso gut auf dem Mount Everest befinden.
Nein. Ich werde Liam aus dem Gebäude schaffen.
Mein Herz beginnt, wie eines der altertümlichen elektrischen Werkzeuge zu arbeiten, als Adrenalin durch mich hindurchrast. Ich verstärke meinen Griff um Liam, und in einem Nebel aus bis zum Zerreißen angespannten Muskeln kann ich uns eine Stufe nach unten bewegen.
Ein Schritt geschafft, neun weitere vor uns.
Ich ignoriere die Schmerzen in meinem Rücken und schleife Liam eine weitere Stufe hinab, und dann noch eine.
Die letzten sieben Stufen nehme ich wie in Trance. Das Einzige, was ich sehe, ist rot; das Einzige, was ich höre, ist das Dröhnen der Anweisungen. Ich spüre nicht länger meine strapazierten Muskeln noch meine schmerzende Wirbelsäule.
Erst als ich das Erdgeschoss betrete, trifft mich die Schwäche mit voller Wucht. Anstatt ihr nachzugeben, lege ich Liam vorsichtig auf den Boden, ergreife ihn danach unter seinen Armen und beginne, ihn aus dem Gebäude zu ziehen.
Nach weiteren sechs Metern fühlen sich meine Arme an, als würde Blei durch meine Adern fließen. Ich erwische mich außerdem dabei, dass ich schwer atme, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das am Sauerstoffmangel oder der Anstrengung liegt. Nicht, dass das für Liam noch lange von Bedeutung wäre.
Ich weiß, dass meine Muskeln in wenigen Sekunden versagen werden.