Wir trafen uns jetzt jeden Tag im Badezimmer und sprachen über alles, was uns bewegte. Die guten und schlechten Dinge. Meistens redete ich und du hörtest zu, doch das war mir egal. Das Wichtigste für mich war, dass du lebtest und wir uns unterhielten. Dieser Alptraum hatte ein Ende. Wir waren wieder vereint. Das war alles, was zählte.
Wie oft hatte ich mich bei dir entschuldigt für mein Verhalten, meine Unfähigkeit mich von dir zu verabschieden und vor allem dir ein Bruder zu sein? Ich hatte beim fünften Mal aufgehört zu zählen. Es wirkte nie genug. Diese Schwäche verzieh ich mir nicht.
Nur weil ich Angst vor deiner Reaktion hatte, nahm ich uns die letzte gemeinsame Zeit. Ich war so ein Feigling und jede freie Minute verfluchte ich mich still, dass ich nicht früher erkannte, was wirklich wichtig war: Die Zeit mit dir.
Aber jetzt warst du da und wir konnten alles nachholen. Sobald ich mich nach dir sehnte, brauchte ich nur in unser Badezimmer gehen. Dort warst du und wir konnten uns stundenlang unterhalten. Es befreite mich und nahm die Schuld von meinem Herzen. Auch wenn die Kälte zwischen uns blieb, war ich dankbar für jeden gemeinsamen Moment.
Ich klammerte mich an diese Illusion, um mich selbst zu schützen. Denn wenn ich weiter nach einem Schuldigen für all dein Leid suchte, dann fand ich am Ende nur mich selbst, und dieser Gedanke zerstörte mich schon, wenn ich ihn auch nur streifte.
Ich lag auf meinem Bett, als es an der Tür klopfte: Zögerlich, aber doch mit gewissen Nachdruck, der keinen Raum für Spekulationen ließ. Dennoch richtete ich mich irritiert auf und fragte nach dem Störenfried, obwohl ich schon eine Vermutung hatte: ‚Ja?‘
‚Taiyo? Kann ich kurz mit dir reden?‘ Unser Vater kam vorsichtig in den Raum und unsere Blicke trafen sich. Seine Schultern hatte er hochgezogen, doch als er erkannte, dass ich unbewaffnet war, entspannte er sich und trat gänzlich ein. Sofort zog er den Schreibtischstuhl mir gegenüber und nahm darauf Platz. Ich hatte ihm nicht erlaubt, dies zu tun, dennoch schluckte ich den Groll erneut herunter.
‚Worüber denn?‘ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und Enttäuschung zog seine Lippen kraus, doch er ging darauf nicht ein, sondern tat es mit einem tiefen Seufzen ab. Er faltete seine Hände über seinen Knien ineinander und lehnte sich nach vorne. Eine Nähe, die ich gerade nicht wollte und ich wich instinktiv ein bisschen zurück.
Kirika lag zusammen gerollt neben mir auf dem Bett und ich strich immer wieder mit meinen Fingern durch ihr weiches Fell. Diese monotone Bewegung beruhigte mich und entschärfte auch den Zorn, der durch meine Brust zog.
‚Es geht um den Tod von Tsuki.‘ Seine Worte bohrten sich wie glühendes Eisen in meine Gedanken und all meine Muskeln spannten sich an, um dann mit dem Oberkörper in seine Richtung zu schnellen. Mit einer herrischen Bewegung wischte ich jeden Widerspruch sofort hinfort. ‚Hör auf mit dieser Lüge! Ich will sie nicht mehr hören! Tsuki lebt! Ich treffe ihn jeden Tag in unserem Badezimmer!‘
Trauer durchzog seine Augen und er senkte betroffen den Kopf, bevor er mit der Hand über seinen Nacken strich. ‚Es ist traurig, wie schwach du bist. Ich dachte nicht, dass ich einen Lügner aufgezogen habe.‘
Diese Worte trafen mehr in mir, als ich mir damals eingestehen wollte, doch ich schluckte hart und zog trotzig die Lippen kraus. ‚Du hast niemals mich großgezogen. Wenn hier jemand lügt, dann du. Mein gesamtes Leben!‘
‚Ich weiß, dass dies ein Fehler war –‘ Ich unterbrach ihn harsch. ‚Tust du das?! Du hast dich kein einziges Mal bei mir dafür entschuldigt! Oder bei Tsuki.‘
Ich verstummte und sank zurück. Mein Blick lag auf Kirika und ich strich weiter durch ihr Fell. Die Vibration ihres leisen Schnurrens kribbelte über meine Finger und ich lächelte. Sie war alles für mich und auch jetzt bewahrte sie mich vor dem Fall und vor den Lügen unseres Vaters.
‚Bist du wirklich so schwach?‘ Diese Frage war ohne Wertung oder gar Vorwurf, sondern klang ehrlich und warf mich genau deswegen aus dem Konzept. Ich starrte ihn eine Weile an und wich dann seinen durchdringenden hellen Augen aus. Kleinlaut rang ich mich zu einer Antwort durch: ‚Ich bin nicht schwach. War ich noch nie.‘
‚Warum kannst du dann der Wahrheit nichts in Auge sehen? Tsuki ist tot. Er ist vor einigen Wochen gestorben.‘ Tränen drängten sich in meine Augen und ich schluckte sie mit einem leisen Wimmern herunter. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, um diesen Worten zu entkommen, und wiederholte immer wieder diesen einen Satz: ‚Tsuki ist nicht tot.‘
Er berührte mich zärtlich am linken Knie und stoppte so mein Mantra. Ich sah ihn mit großen Augen an und in seinen Augen begegnete mir kein Vorwurf, sondern Mitleid. Unsicher begann er mich mit seinem Daumen zu streicheln, worauf sich die Situation befremdlich anfühlte. Diese Nähe hatten wir schon lange nicht mehr und ich war mir unsicher, ob ich sie überhaupt noch haben wollte.
Ich entzog mich ihm und rutschte weiter auf mein Bett, bevor ich dann mein linkes Knie an meinen Körper zog. Die Haut war noch warm von seiner Berührung und zog sich bis in mein Herz vor. Er räusperte sich und nahm seine Hand wieder zu sich. ‚Wir wissen beide, dass es eine Lüge ist. Ich kann dir nicht mehr länger dabei zusehen, wie du im Badezimmer Selbstgespräche führst.‘
‚Nein, Tsuki ist dort. Wir unterhalten uns. Er ist nicht tot, Vater. Tsuki ist nicht gestorben. Ich sehe ihn jeden Tag im Badezimmer. Er hat mich nicht verlassen.‘ Meine Lippen zitterten beim letzten Satz und erneut waren dort die Tränen, die sich in meine Augen drängten. Ich schluckte sie trocken herunter und tauchte wieder mit meinen Fingern in Kirikas Fell ein. Sie schlief immer noch seelenruhig.
‚Bist du wirklich noch so klein, dass du dich so an deinen großen Bruder klammern musst? An einen Schwächling, der sich selbst das Leben nahm?‘ Er sprach jedes Wort mit Nachdruck und wohlbedacht aus. Sein Blick fixierte mich und ich konnte ihm nicht entkommen, sodass mich ihre Bedeutung wie Peitschenhiebe trafen.
‚Wie kommst du darauf, dass er sich das Leben nehmen sollte? Wir wollten einander wiedersehen. Das wirft er nicht weg. Du hast keine Ahnung. Was weißt du schon über Tsuki? Wann hast du dich das letzte Mal richtig mit ihm unterhalten? Weißt du, was er denkt? Wie sein Leben in all den Jahren war? Ohne dich?‘ Wir verletzten uns gegenseitig. Seine Augen flatterten unter jedem meiner Worte und er schluckte ebenfalls trocken, als er knapp davor war zu weinen. Kurzerhand strich er die Tränen weg, bevor man sie sehen konnte, doch mich konnte er damit nicht täuschen. Er bekam all die Schmerzen zurück.
‚Er lebt und er wird dich überleben. Denn dein Hass wird dich eines Tages vernichten. Dir alles nehmen, was du erst dann schätzen lernen wirst. Tsuki ist nicht schwach. Er ist zumindest stärker als du. Denn er kann verzeihen. Und das wirst du nie lernen.‘ Ich wollte nicht, dass er sich erholte und mir wieder dieses Lügenmärchen erzählte. Du warst nicht gestorben. Ich sah dich jeden Tag und wir sprachen. Warum konnte er das nicht akzeptieren?
‚Ich gebe dir nur einen guten Rat, wenn du dich nicht mit mir anlegen willst: Behaupte nie wieder. Hörst du? Nie wieder, dass Tsuki tot ist. Er lebt und wir werden uns wieder sehen. Eines Tages werden wir uns wieder sehen und dann werde ich ihm all das sagen, was du ihm niemals sagen kannst.‘ Es war mehr ein Versprechen, als eine Drohung, dennoch zuckte unser Vater erneut leicht zusammen und schüttelte dann enttäuscht den Kopf.
Mit einem Seufzer und einem kurzen Klatschen auf die Oberschenkel stand er auf. Unsere Blicke trafen sich erneut und wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich behaupten, dass ich dort so etwas wie Mitleid sah. Doch dieses Gefühl kannte unser Vater nicht, also verbannte ich diese Vermutung sofort wieder aus meinen Gedanken.
‚Das Erwachen wird schmerzhaft sein, Taiyo. Umso schmerzhafter, desto länger du dich in diesen Traum flüchtest. Tsuki ist tot und ich werde es dir beweisen.‘ Diese Drohung füllte meinen Magen, wie ein Stein und ich schluckte trocken. Eine eisige Vorahnung strich über meinen Rücken und ich erschauderte kurz.
‚Nein, ist er nicht.‘ Ein letztes Aufbäumen, bevor er mit einem nun traurigen Blick mein Zimmer wieder verließ und sogar kurz den Kopf schüttelte. Es war mir egal, was er darüber dachte. Du warst am Leben und wir unterhielten uns. Alles andere war egal. Wir waren zusammen und jetzt konnte uns niemand mehr trennen. Warum verstand die Welt das nicht? Wieso versuchte sie, dich mir weiter wegzunehmen? Ich will dich nicht gehen lassen. Nie wieder.
Tsuki, wir sind doch Brüder. Immer und bis ans Ende unserer Zeit, oder?
Ja, das sind wir. Für alle Zeit.