Kim war eine solide Frau, die ihr Haar in einem schlichten grauen Dutt trug. Sie hob die Hände und sprach mit fester Stimme mit dem Wanderer. »Kommen Sie mit, Sir. Ich werde für Sie ein Untersuchungszimmer vorbereiten.«
Er jammerte sie an. »Sie hat mich geschlagen. Die Schlampe hat mich geschlagen.«
Der Jagdaufseher von Game and Fish nickte Kim zu. »Können wir sie so weit wie möglich von ihm wegbringen?« Er schüttelte seine Handschellen aus. Patrick hatte ihn noch nie zuvor getroffen, aber er kannte den vorherigen Aufseher, Gill Hendrickson, und nahm an, dass dieser Mann Gills Ersatz war. Als Gills Körper Anfang des Jahres in die Notaufnahme gebracht wurde – bei der Arbeit angeschossen und bei Ankunft bereits tot –, war Patrick tatsächlich der Bereitschaftsarzt gewesen.
Kim deutete. »Ich werde ihn in Nummer Eins bringen. Sie bringen sie in Nummer Vier.« Nummer Vier war am weitesten vom Wartezimmer entfernt.
Patrick blickte zu dem kauernden älteren Paar. Gute Ansage, Kim.
Der Aufseher sagte: »Sir, wollen Sie Anklage erheben?«
Der Mann hüpfte auf seinen Füßen hin und her, schüttelte den Kopf, die Hand noch immer an seinem Kiefer. »Was? Nein. Nein. Äh-äh.«
Der Aufseher zog die Frau auf die Füße, nicht unsanft. Ihr Gesicht war rot, wo es gegen das Linoleum gedrückt war, aber ansonsten sah sie unverletzt aus. Ihr T-Shirt war unter den Armen durchgeschwitzt und um den Hals feucht. Ihre Atemfrequenz war hoch, aber sie schien nicht zu hyperventilieren.
Ihre Augen huschten von Person zu Person und blieben bei Patrick in seinem Arztkittel hängen. »Ich denke, ich habe einen Herzinfarkt.« Ihre Hand wanderte zu ihrer Brust und Schulter.
Leider hatte Patrick solche Verhaltensweisen und Symptome schon früher und oft in Dallas gesehen. Aber nur einmal in Buffalo. Sie sah nicht aus, als hätte sie einen Herzinfarkt. Er war bereit zu wetten, dass sie zugedröhnt mit Speed war. Dass sie beide das waren, sie und der Wanderer. Das Schwitzen, seine Hyperaktivität, ihre Brustschmerzen – das waren oft Nebenwirkungen von durch Amphetamine induzierter Angst. Aber warum war Game and Fish hier?
»Ich bin Alan Turner«, sagte der Aufseher zu ihm und Wes, ohne die Frau loszulassen.
Wes stellte sich vor.
»Ich bin Doktor Flint. Schön, Sie kennenzulernen. Woher kommen diese beiden?«
»Sie fuhren ungleichmäßig oben auf der Red Grade in der Nähe ihres Zeltplatzes. Ich habe beschlossen, dass sie aus offensichtlichen Gründen eine Mitfahrgelegenheit hierher brauchten.« Game-and-Fish-Aufseher waren Ordnungskräfte mit der Befugnis, bei Bedarf alle Gesetze des Bundesstaates Wyoming durchzusetzen, obwohl die Gesetze zum Wildtiermanagement in ihrer besonderen Verantwortung lagen.
Kim kam zurück, nachdem sie ihren Patienten untergebracht hatte.
»Kim, können Sie die Vitalwerte nehmen, während Wes und ich uns draußen um einen Patienten kümmern?« Wenn Patrick Recht hatte, dass Speed alles war, was mit ihnen nicht stimmte, war es nichts, was ein paar Valium nicht beheben würden.
Kim nickte mit dem Kopf in Richtung der Patientin. »Allein?«
»Ich bleibe bei ihr«, sagte Alan.
Kim nickte. »In diesem Fall, kein Problem.«
»Verlassen Sie mich nicht, Doktor«, sagte die Frau. »Ich sterbe.« Sie umklammerte ihre Brust.
»Sie sind in guten Händen. Ich werde wiederkommen.«
Patrick eilte mit Wes nach draußen.
»Ich hasse es, hier herum Drogenfälle zu sehen«, sagte Patrick zu Wes.
»In letzter Zeit gab’s viel mehr davon. Hatte letztes Wochenende ein paar, als Doktor John Rufbereitschaft hatte.«
Der Kontrast zwischen der ruhigen Nacht und dem Drama im Wartezimmer war krass, abgesehen von den klappernden Rädern des tragbaren Röntgengeräts. Patrick blieb kurz vor dem Parkplatz stehen.
»Ich frage mich, was los ist? Hoffentlich endet es mit der Touristensaison.« Aber die Touristensaison endete schon mit dem Labor Day, der mehrere Wochen zuvor gewesen war. Patricks Gedanken kehrten zu dem Pferd zurück. »Hast du einen Blick auf Mildreds Bein bekommen, bevor ich hier war?«
»Habe ich.«
»Wie schlimm ist es?«
»Es ist nicht durch die Haut gebrochen, aber Miss Mildred hat Schmerzen und ist unglücklich. Ziemlich in der Nähe ihres Krongelenks, aber ich denke, es hat nichts. Du hast Glück, Doc. Die Prognose für Pferde, bei denen der Bruch ins Gelenk geht, ist schlecht. Viele von ihnen sterben an einer Gelenksepsis.«
Kein komplizierter Bruch, nicht im Gelenk. Keine offene Wunde, also keine Infektion. Das waren gute Dinge. Patrick wollte nicht, dass ihm ein weiterer Patient an einer Blutvergiftung starb, nicht einmal ein Pferd. Vor allem nicht, nachdem er in der vorigen Woche zum ersten Mal einen Patienten daran verloren hatte. Bethany Jones. Das war ihr Name gewesen. Hätte ihre Familie nicht damit gewartet, sie ins Krankenhaus zu bringen, bis sie dem Tod nahe war, hätte Patrick vielleicht eine Chance gehabt, sie zu retten. Die Menschen in Wyoming waren durch und durch selbstständig. Manchmal etwas zu selbstständig.
»Gut.« Patrick ging wieder weiter auf den Anhänger zu.
Wes legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn erneut an. »Einer dieser Jones-Jungs kam heute Nachmittag vorbei und wollte eine Kopie des Autopsieberichts seiner Mutter.«
»Schon wieder, hm?« Patrick hatte sie nicht kennengelernt, aber er hörte immer wieder Berichte über ihre Besuche.
»Sie waren schon immer aufdringlich.«
»Hoffentlich bekommen wir den Bericht bald, damit sie keinen Grund mehr haben, hier aufzutauchen. Ich will ihn selbst ziemlich sehnsüchtig in die Finger bekommen.« Es war schwer, sich nicht verantwortlich zu fühlen, wenn jemand starb, ob es nun Sinn machte oder nicht.
Wes ließ Patricks Arm los und die beiden Männer umrundeten die Rückseite des Anhängers. Mildred blickte jetzt nach draußen und Tater flüsterte ihr ins Ohr. Er nickte, als er sie sah.
»Ich werde Mildred ein Schmerzmittel geben, bevor ich sie untersuche und ihr Bein röntge«, erklärte Patrick.
Er stieg zu Tater und Mildred in den Anhänger. Mildred legte sofort die Ohren an und begann mit ihren Hinterhufen auf das Innere des Anhängers einzuschlagen.
»Sssch, Mildred.« Patrick trat näher an sie heran. »Es ist okay, Mädchen.«
»Vielleicht sollten wir sie hier rausholen, Doktor Flint«, sagte Tater.
»Gute Idee.« Patrick wollte Platz zum Rennen.
Tater zog an dem Knoten in Mildreds Führstrick. »Also, zur Hölle. Sie hat ihn einfach so festgezogen, dass wir ihn niemals lösen können.«
Patrick zog sein Knochensäger-Taschenmesser heraus und hielt es hoch. »Ja?«
»Sicher. Ich halte sie fest und Sie gehen schnell rein und schneiden es am Knoten ab. Wir werden noch genug haben, um damit arbeiten zu können.«
Patrick tat es, dann ließ er das Messer wieder in seine Tasche fallen.
Wes sagte: »Dieses Minnie-Maus-Messer hätte das nicht geschafft, oder?«
Patrick grinste.
Tater führte Mildred ohne weitere Verletzung aus dem Anhänger, dank der erstklassigen Schiene, die ihr jemand ans Bein angelegt hatte. Dann band er ihre Leine an eine Seitenleiste. Patrick näherte sich ihr erneut, zielte darauf ab, ihr eine Injektion in den Hals zu geben. Das Pferd schlug wieselflink zu und versenkte ihre Zähne in Patricks Brust.
»Aah«, schrie er. Seine Schulter senkte sich und seine Knie knickten ein. »Sohn eines Bussardköders!«
Tater schlug Mildred auf ihre Seite, aber Mildred hielt ihn zwei qualvolle Sekunden fest, bevor sie Patrick losließ. Er wich schnell zurück. Sie schlug mit ihrem Schweif.
Wes verschränkte die Arme. »Sohn eines was?«
Patrick antwortete nicht. Er rieb sich die Brust. Sie hatte die Haut nicht verletzt. Morgen würde er aber einen schönen blauen Fleck haben.
Tater strich seiner Stute über die Nase. »Entschuldigung, Doktor Flint. Mildred ist ein bisschen aufbrausend.«
Etwas, von dem er sich wünschte, dass Tater es ihm erzählt hätte, bevor er in Reichweite ihrer Zähne kam.
»Und da dachte ich, alle würden Sie lieben, Doc«, sagte Wes.
Patrick warf Wes einen Blick zu. Zu Tater sagte er: »Haben Sie jemals einem Pferd eine Spritze gegeben?«
»Ein- oder zweimal.«
Patrick reichte ihm die Spritze. »Dann schlagen Sie sich selbst k.o.«
Wes hustete in seine Hand, aber es klang eher stark nach weiterem Lachen.
Hämmernde Füße und eine atemlose Stimme schreckten Patrick auf. »Doktor Flint. Wir haben einen Anruf bekommen.« Es war Kim. Kim rannte nie.
»Was ist denn?« Er wich vor Mildred zurück, um sich und Kim außer Reichweite zu halten.
»Ein Deputy. Von einem Gefangenen angegriffen. Sie transportieren ihn hierher.«
Patrick könnte bis ans Ende der Welt vordringen und dem Schlimmsten, wozu der Mensch fähig war, dennoch nicht entkommen. Ihm wurde bange ums Herz. Er kannte die örtlichen Deputys. Einer wohnte neben ihm und seiner Familie. »Johnson County?«
»Big Horn.«
Er kannte keinen der Deputys des Big Horn County. Das schmälerte die Tragödie jedoch nicht. »Wie weit sind sie draußen?«
»Fünfundvierzig Minuten.«
»Und die Patienten drinnen?«
»Ihre Vitalwerte entsprechen Amphetaminen. Keine anderen Indikatoren. Und das ältere Paar? Sie ist Diabetikerin und hat vergessen ihr Insulin nachzufüllen.«
Patrick schloss für eine lange Sekunde seine Augen. »Also gut. Fünf Milligramm Valium und Beobachtung für unsere Kunden auf Speed. Überprüfen Sie den Glukosespiegel unserer Diabetikerpatientin. Wir werden Mildred in Ordnung bringen, und dann bin ich da, um nach allen zu sehen und Rezepte zu unterschreiben. Wir sollten fertig sein, bevor der Krankenwagen eintrifft. Danke, Kim, und lassen Sie mich wissen, wenn sich etwas ändert.«
»Verstanden.« Sie nickte und zog sich ins Krankenhaus zurück.
An ihrer Stelle tauchte ein stämmiger Mann mit einem Pyrenäenberghund im Arm auf. Der Kopf des Hundes hing von Patrick abgewandt an seiner Schulter. Eine Pfote ruhte auf den Armen des Mannes. Patrick musste zweimal hinsehen. Mach daraus eine in einer Bärenfalle gefangene Pfote.
Der Mann sagte: »Sind Sie der Arzt, der den Tierarzt vertritt?«
Patrick wollte es leugnen, aber er sagte: »Bin ich«, und dachte: Es wird eine lange, lange Nacht.