Kapitel 2

1815 Worte
2 Vereinigte Staaten, heute Sara »Bist du sicher, dass du nicht etwas mit mir und den Mädchen trinken gehen möchtest?«, fragt Marsha und kommt zu meinem Spind. Sie hat bereits ihren Schwesternkittel aus- und ein sexy Kleid angezogen. Mit ihrem leuchtend roten Lippenstift und ihren blonden Locken sieht sie wie eine ältere Version von Marilyn Monroe aus und liebt es auch genau wie sie, Party zu machen. »Nein, danke. Ich kann nicht.« Ich versüße meine Abfuhr mit einem Lächeln. »Es war ein langer Tag, und ich bin müde.« Sie rollt mit den Augen. »Natürlich bist du das. Du bist in letzter Zeit dauernd müde.« »Arbeit bringt das mit sich.« »Ja, wenn man neunzig Stunden in der Woche arbeitet. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich sagen, dass du dich zu Tode arbeitest. Du bist kein Assistenzarzt mehr. Du musst diesen Scheiß nicht mehr machen.« Ich seufze und ergreife meine Tasche. »Jemand muss Rufbereitschaft haben.« »Ja, aber das musst nicht immer du sein. Es ist Freitagnacht, und du hast die ganzen letzten Monate am Wochenende gearbeitet, von den Nachtschichten mal ganz abgesehen. Ich weiß, dass du der Neuzugang in eurer Praxis bist, aber ...« »Mir machen die Nachtschichten nichts aus«, unterbreche ich sie und gehe zum Spiegel. Die Wimperntusche, die ich heute Morgen aufgetragen habe, ist unter meinen Augen verwischt, und ich benutze ein feuchtes Papiertuch, um sie wegzubekommen. Das verbessert meine hagere Erscheinung nicht wirklich, aber ich nehme an, dass das sowieso egal ist, da ich auf direktem Weg nach Hause gehen werde. »Genau, weil du nicht schläfst«, sagt Marsha und stellt sich hinter mich. Ich bereite mich darauf vor, ihr beliebtestes Thema über mich ergehen zu lassen. Auch wenn sie gute fünfzehn Jahre älter ist als ich, ist Marsha im Krankenhaus meine beste Freundin und hat ihre Bedenken in letzter Zeit immer deutlicher ausgesprochen. »Marsha, bitte. Ich bin einfach zu müde dafür«, sage ich und binde meine widerspenstigen Wellen zu einem Pferdeschwanz. Ich brauche keine Vorhaltung, um zu wissen, dass ich mich gerade verausgabe. Meine braunen Augen sehen im Spiegel rot und trüb aus, und ich fühle mich wie sechzig und nicht wie achtundzwanzig. »Ja, weil du überarbeitet bist und unter Schlafmangel leidest.« Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Ich weiß, dass du nach George Ablenkung brauchst, aber ...« »Aber nichts.« Ich wirbele herum und starre sie wütend an. »Ich will nicht über George reden.« ...»Sara ...« Sie legt die Stirn in Falten. »Du musst damit aufhören, dich selbst dafür zu bestrafen. Das war nicht dein Fehler. Er wollte ans Steuer, es war seine Entscheidung.« Mein Hals wird eng, und meine Augen brennen. Zu meinem Entsetzen bin ich kurz davor zu weinen, und ich drehe mich weg, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber ich kann mich nirgendwohin drehen, da vor mir der Spiegel ist und alles reflektiert, was ich gerade fühle. »Es tut mir leid, Süße. Ich bin ein unsensibles Arschloch. Das hätte ich nicht sagen sollen.« Marsha sieht wirklich so aus, als würde sie es bereuen, als sie sich ausstreckt, um meinen Arm leicht zu drücken. Ich atme tief durch und drehe mich herum, um sie wieder anzuschauen. Ich bin müde, was nicht gerade dabei hilft, die Gefühle zu kontrollieren, die mich überkommen. »Das ist schon in Ordnung.« Ich zwinge mich dazu, zu lächeln. »Kein Problem. Du solltest dich langsam auf den Weg machen, die Mädchen warten wahrscheinlich schon auf dich.« Und ich muss nach Hause, bevor ich zusammenbreche und in aller Öffentlichkeit weine, was mehr als demütigend wäre. »In Ordnung, Süße.« Marsha lächelt zurück, aber ich sehe das Mitleid in ihren Augen. »Aber sieh zu, dass du dieses Wochenende ein wenig Schlaf bekommst, okay? Versprich es mir.« »Ja, Mama.« Sie rollt mit den Augen. »Gut, dass du mich verstanden hast. Wir sehen uns am Montag.« Sie verlässt den Umkleideraum, und ich warte eine Minute, bevor ich ihr folge, um im Fahrstuhl nicht auf die Gruppe ihrer Freundinnen zu stoßen. Noch mehr Mitleid halte ich nicht aus. Als ich den Parkplatz des Krankenhauses betrete, kontrolliere ich aus reiner Gewohnheit mein Handy, und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich eine Textnachricht von einer blockierten Nummer sehe. Ich bleibe stehen und fahre mit meinem zittrigen Finger über das Display. Es ist alles in Ordnung, aber wir müssen den Besuch diese Woche verschieben, steht in der Nachricht. Wichtige Termine. Ich atme erleichtert aus, und sofort verspüre ich das vertraute Schuldgefühl. Ich sollte nicht erleichtert sein. Diese Besuche sollten etwas sein, was ich möchte, und keine unangenehme Pflicht. Aber ich kann das, was ich fühle, nicht ändern. Jedes Mal, wenn ich George besuche, werden Erinnerungen an jene Nacht wach, und ich kann einige Nächte lang nicht schlafen. Wenn Marsha denkt, dass ich jetzt gerade an Schlafmangel leide, sollte sie mich nach diesen Besuchen sehen. Ich stecke mein Handy wieder in die Tasche und gehe zu meinem Auto. Es ist ein Toyota Camry, den ich seit fünf Jahren habe. Jetzt, nachdem ich mein Darlehen für das Studium abbezahlt und einige Ersparnisse habe, könnte ich mir etwas Besseres leisten, aber ich sehe keinen Grund dafür. George hatte eine Schwäche für Autos, nicht ich. Der Schmerz überkommt mich vertraut und stark, und ich weiß, dass der Grund dafür diese Textnachricht ist. Na ja, sie und die Unterhaltung mit Marsha. In letzter Zeit gab es Tage, an denen ich überhaupt nicht an den Unfall gedacht habe, an denen ich meinen Aufgaben nachgegangen bin, ohne erdrückende Schuldgefühle zu haben, aber heute ist keiner dieser Tage. Er war erwachsen, erinnere ich mich selbst in Gedanken und wiederhole dabei das, was alle sagen. Es war seine Entscheidung, sich an jenem Tag hinter das Steuer zu setzen. Rational gesehen weiß ich, dass diese Worte wahr sind, aber egal, wie oft ich sie höre, ich kann sie nicht verinnerlichen. Meine Gedanken sind in einer Schleife gefangen, die immer wieder jenen Abend abspielt, und egal, wie sehr ich es auch versuche, ich kann diese Gedanken einfach nicht unterbrechen. Es reicht, Sara. Konzentrier dich auf die Straße. Ich atme tief durch und fahre vom Parkplatz Richtung Zuhause. Vom Krankenhaus aus ist es etwa eine Fahrt von vierzig Minuten, was in diesem Moment vierzig Minuten zu viel für mich sind. Mein Bauch beginnt zu krampfen, und ich bemerke, dass einer der Gründe dafür, dass ich heute so emotional bin, der ist, dass ich meine Tage bekomme. Als Frauenärztin weiß ich am besten, wie stark die Auswirkungen der Hormone sein können, und wenn sich zum PMS auch noch lange Arbeitsstunden und Erinnerungen an George gesellen ... Ja, das ist es. Ich bin einfach nur hormongeladen und müde. Ich muss nach Hause, und dann wird alles wieder gut. Da ich fest entschlossen bin, mich wieder in den Griff zu bekommen, schalte ich das Radio ein, suche einen Sender mit Neunziger-Jahre-Popmusik und singe zu einem Lied von Britney Spears. Das ist jetzt vielleicht nicht die anspruchsvollste Musik, aber sie hebt die Stimmung, und das ist genau das, was ich gerade brauche. Ich werde nicht zerbrechen. Heute werde ich schlafen, selbst wenn ich Zolpidem nehmen muss, damit das passiert. Mein Haus befindet sich in einer von Bäumen gesäumten Sackgasse, die von einer zweispurigen Straße abgeht, die sich durch Felder windet. Wie viele andere in dieser besseren Gegend in Homer Glen, Illinois, ist es riesig - fünf Schlafzimmer und vier Badezimmer plus einen voll ausgebauten Keller. Es hat einen großen Garten und ist von so vielen Eichen umgeben, dass es sich anfühlt, als befände es sich mitten im Wald. Es ist perfekt für die große Familie, die George wollte, und schrecklich einsam für mich. Nach dem Unfall habe ich darüber nachgedacht, das Haus zu verkaufen und näher an das Krankenhaus zu ziehen, aber ich konnte es einfach nicht über mich bringen. Das kann ich immer noch nicht. George und ich haben das Haus zusammen renoviert, die Küche und die Badezimmer modernisiert und sorgfältig jeden Raum dekoriert, um eine gemütliche und einladende Atmosphäre zu schaffen. Eine Familienatmosphäre. Ich weiß, dass die Chancen auf diese Familie jetzt inexistent sind, aber ein Teil von mir hängt an diesem alten Traum, dem perfekten Leben, das wir haben sollten. »Mindestens drei Kinder«, hatte George mir bei unserem fünften Date gesagt. »Zwei Jungen und ein Mädchen.« »Warum nicht zwei Mädchen und einen Jungen?«, hatte ich ihn grinsend gefragt. »Was ist mit Gleichberechtigung und so?« »Wie soll zwei gegen einen denn gleichberechtigt sein? Jeder weiß, dass Mädchen dich um ihre kleinen, hübschen Finger wickeln, und wenn man zwei von ihnen hat ...« Er erschauderte theatralisch. »Nein, wir brauchen zwei Jungen, damit die Balance in der Familie stimmt. Ansonsten ist Papa verloren.« Ich habe gelacht und ihn auf die Schulter geboxt, aber insgeheim mochte ich den Gedanken an zwei Jungen, die laut herumrennen und ihre kleine Schwester beschützen. Ich bin ein Einzelkind, aber ich wollte immer einen großen Bruder, weshalb es einfach für mich gewesen war, Georges Traum zu meinem eigenen zu machen. Nein. Denk nicht darüber nach. Mit Mühe verdränge ich diese Erinnerungen aus meinem Kopf, weil - egal, ob sie gut oder schlecht sind - sie immer zu jenem Abend führen, und damit kann ich gerade nicht umgehen. Die Krämpfe sind schlimmer geworden, und ich kann nur mit Mühe meine Hände am Lenkrad lassen, als ich in meine Garage für drei Autos fahre. Ich brauche Ibuprofen, ein Heizkissen und mein Bett, genau in dieser Reihenfolge, und wenn ich ganz viel Glück habe, werde ich sofort einschlafen, ohne dass ich Zolpidem benötige. Ich unterdrücke ein Stöhnen, schließe das Garagentor, gebe den Sicherheitscode ein, um den Alarm auszuschalten, und schleppe mich ins Haus. Die Krämpfe sind so schlimm, dass ich kaum gehen kann, ohne mich zu krümmen, also gehe ich ohne Umwege zum Medizinschrank in der Küche. Ich schalte nicht einmal das Licht an; der Lichtschalter ist weit von der Garagentür entfernt, und ich kenne die Küche außerdem gut genug, um mich auch im Dunkeln in ihr zurechtzufinden. Ich öffne den Medizinschrank, ertaste die Ibuprofenpackung, nehme mir zwei Tabletten und schiebe sie mir in den Mund. Dann gehe ich zur Spüle, lasse Wasser in meine Hand laufen und schlucke die beiden Tabletten damit hinunter. Keuchend halte ich mich am Küchentresen fest und warte darauf, dass die Medizin zu wirken beginnt, bevor ich versuche, etwas so Ehrgeiziges zu tun wie zum Schlafzimmer im ersten Stock zu gehen. Ich spüre ihn erst eine Sekunde, bevor es passiert. Ganz unterschwellig bemerke ich einen Luftzug hinter mir, einen Hauch von etwas Fremdem ... ein Gefühl plötzlicher Gefahr. Die Haare in meinem Nacken stellen sich auf, aber da ist es bereits zu spät. In einem Moment stehe ich noch neben der Küchenspüle, und im nächsten bedeckt eine große Hand meinen Mund, und ein harter Körper drängt mich von hinten gegen die Theke. »Nicht schreien«, flüstert eine tiefe Stimme in mein Ohr, und etwas Kaltes und Scharfes drückt gegen meinen Hals. »Du willst doch nicht, dass mein Messer abrutscht.«
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