Was geschah in Tschernobyl?
Es war das Jahr 1986 im April. Die Stadt Pripjat, am gleichnamigen Pripjatfluss gelegen, war eine kommunistische Vorzeige-Stadt mit rund 50'000 Einwohnern und gehörte der Ukraine an, die damals noch fester Bestandteil der UdSSR (Sowjetunion) war. Sie war von A bis Z durchgeplant, von den Strassen, bis zu den Gebäuden. Das Kraftwerk Tschernobyl galt damals als das sicherste und modernste Atomkraftwerk der ganzen Sowjetunion.
Die Stadt Pripjat wurde im Jahre 1970 erbaut und war als Wohnort gedacht für die Arbeiter, die im 3 km entfernten Tschernobyl Kraftwerk arbeiteten. Die meisten der Kraftwerksarbeitern waren durchschnittlich 26 Jahre alt. Sie waren damals, mit einem Blick in die Zukunft voller Optimismus, zusammen mit ihren jungen Familien, nach Pripjat gezogen.
Denn das Tschernobyl Atomkraftwerk V.I.Lenin bot viele neue Arbeitsplätze.
Kaum zu glauben, dass diese Heile Welt, bestehend aus Glück und Hoffnung, eines Tages einfach, mit einem Schlag, in tausende Teile zerbrechen würde.
So wie alle Kraftwerke auf der Welt, musste auch das Kraftwerk Tschernobyl, die jährlichen Sicherheitstests, absolvieren. Das Kraftwerk Tschernobyl bestand aus 4 Reaktorblöcke, die in Betrieb waren und noch zwei weiteren, welche sich noch im Bau befanden. Nun musste auch der 4. Reaktorblock den letzten Sicherheitstest absolvieren, den mit der Simulation eines Stromausfalls.
Jeder Reaktor hatte eine Notkühlanlage, die im Falle eines Stromausfalls den Kern, mithilfe von den Notstromgeneratoren, weiter kühlen würde. Der vierte Reaktorblock hatte drei Diesel betriebene Generatoren. Nur brauchten die Generatoren ca. 60 Sekunden, bis sie die volle Leistung erbringen konnten. Der Bestandteil dieses Tests war es herauszufinden, ob die auslaufende Dampfturbine nach dem Stromausfall, diese 60 Sekunden mit der letzten erzeugten Elektrizität, durch das Drehen, überbrücken könnten, bis dann eben die Generatoren einspringen würden.
Damit man dies nachweisen kann, wird zuerst, mithilfe der Steuerstäbe, die Reaktorleistung auf 700 MW abgesenkt, dann simuliert man den Stromausfall. Dafür werden die Turbinen abgeschaltet und während sie dann langsam auslaufen, wird die vorhandene Spannung gemessen, um zu schauen, ob diese noch ausreichen würde, um die Pumpen für die Wasserkühlung zu versorgen, bis die Generatoren ihre volle Leistung erreicht haben.
Anders gesagt, würden die Pumpen den Reaktor noch mit genügend Kühlwasser versorgen während dieser 60 Sekunden?
In der Theorie sah es erfolgreich aus, jedoch kam es in der Praxis ganz anders.
Während des Testlaufs, konnten die Ingenieure den Wert von 700 MW nicht stabil halten, denn die Leistung fiel immer schneller unter die 700 MW-grenze. Doch anstatt die Ursache für den Leistungsabfall zu untersuchen und den Test zu verschieben, wollten die Ingenieure den Test fortsetzen und spannten somit den Reaktor immer mehr, wie eine Steinschleuder. Somit fiel die Reaktorleistung immer dramatischer und schneller bis auf 30 MW ab, was in etwa 1 % der Reaktorleistung entspricht. Und das war viel zu wenig. Laut den Vorschriften, hätte der Reaktor komplett hinuntergefahren werden müssen, denn es war offiziell verboten, die Leistung von einem so niedrigen Wert wieder hochzufahren. Jedoch wollte man unbedingt diesen, schon lange anstehenden Test, durchführen b.z.w. man wollte den Test endlich vollenden. Deswegen wurde diese Vorschrift missachtet und man beschloss, statt dessen einige Steuerstäbe aus dem Reaktorkern wieder herauszuziehen.
In einem RBMK Reaktor werden die rund 211 Steuerstäbe mithilfe eines Motorbetriebenen Mechanismus bewegt und so die Reaktorleistung kontrolliert. In diesem Fall haben die Ingenieure versucht, mit dem Herausziehen der Steuerstäbe, die Leistung des Reaktors wieder zu erhöhen, was dann den gleichen Effekt hat, wie wenn man bei einem Auto den Fuss immer weniger auf das Bremspedal drücken würde.
Das Auto nimmt wieder mehr Geschwindigkeit auf, so wie bei einem Reaktor die Leistung wieder ansteigen würde, durch das Hochziehen der Steuerstäbe.
Sie versuchten so viele Steuerstäbe, wie möglich herauszuziehen, damit die Energie-produktion durch die Kernspaltung wieder hochfährt, was dann auch passierte. Jedoch erreichten sie nicht, die für den Test benötigte Leistung, weswegen sie noch mehr Steuerstäbe, als erlaubt waren, herauszogen.
Trotz einer Warnung eines Sicherheitssystems, wurde der Test weiter vorbereitet, weil der Reaktorkern die benötigte Leistung von 700 MW erreichte. Dies jedoch erst, nachdem fast alle Steuerstäbe aus dem Reaktorkern hochgezogen worden waren. Ein Computer-warnsystem warnte die Personen im Kontrollraum, dass sie ein Problem bekommen würden, wegen der hohen Anzahl an herausgezogenen Steuerstäben und empfahl eine Abschaltung.
Immer mehr Warnsysteme gingen los und Panik breitete sich aus. Alexander Fjodorowitsch Akimow, der damalige Schichtleiter, wollte den Testlauf abbrechen und die Notabschaltung des Reaktors einleiten, was zu diesem Zeitpunkt die Kettenreaktion hätte aufhalten können. Jedoch entschied Akimow's Vorgesetzter, Anatoli Stepanowitsch Djatlow, dass der Testlauf fortzusetzen sei, da er das Gefühl hatte, alles unter Kontrolle zu haben, auch wenn der Reaktor instabil war.
Zu diesem Zeitpunkt war es 01:20 Uhr.
Somit starteten sie mit der Simulation des totalen Stromausfalls und schlossen die Sicherheitsventile der Turbinen. Somit wurden die Kühlwasserpumpen nur noch durch die Energie der auslaufenden Turbinen betrieben. Weniger Kühlwasser wurde von den Pumpen in den Reaktorkern gepumpt, was einen Leistungsanstieg verursachte, da von den 211 Steuerstäben nur noch wenige im Kern waren. Und wie vorhin erwähnt waren die Steuerstäbe wie die Bremsen dieses Reaktors.
Ein Mitarbeiter, der in der Reaktorhalle arbeitete, sah auf den oberen Teil des Reaktors und erkannte, dass irgendwas nicht so lief, wie es musste. Er rannte sofort die 30 Meter lange Treppe hinunter, in Richtung Kontrollraum, der 90 Meter entfernt war, um die anderen zu warnen. Als dieser dann im Kontrollraum ankam, berichtete er, dass was schieflaufen würde, darauf leiteten die Ingenieure die Notabschaltung des Reaktors ein. Für diese Funktion gibt es einen Knopf namens AZ5. Durch die Betätigung dieses Knopfes, werden sofort alle Steuerstäbe in den Reaktorkern zurückgefahren, um die Kettenreaktion abzuschalten.
Aber der Mechanismus bei diesem Reaktortyp hatte einen gravierenden Nachteil, denn bevor er die Leistung senkte, verursachte er kurzfristig einen Leistungsanstieg, also so wie ein Tritt auf das Gaspedal im Auto, anstatt auf die Bremse. Somit stieg die Energieleistung auf fast das 100-fache an und das innerhalb von nur wenigen Sekunden. Die Leistung stieg an bis ins Unendliche.
Das im Kern vorhandene Kühlwasser verdampfte innert kürzester Zeit und liess den Druck im Kern drastisch ansteigen, ähnlich wie bei einem Dampfkocher. Dies war das letzte Glied dieser Unglückskette. Jetzt konnte es nicht mehr aufgehalten werden, die Reaktion des Atomkerns war ausser Kontrolle geraten. Reaktorblock Nummer 4 war zu diesem Zeitpunkt wie eine Atombombe.
Um 01:23 Uhr und 45 Sekunden wurde die Abdeckplatte vom Reaktorkern, die rund 2'000 Tonnen wog, unter dem hohen Druck, der im Reaktorkern herrschte, einfach vom Reaktorkern weggesprengt und flog 12 Meter hoch in die Luft. Die radioaktiven Materialien und verschmutzten Luftmassen traten nun in riesigen Mengen aus, wie auch der Kernbrennstoff selbst. Alles wurde aus dem Reaktor rausgeschleudert und in einem mehreren 100 Meter Radius rund um das Kraftwerk verstreut. Bei dieser Explosion kamen zwei Mitarbeiter ums Leben, da sie von Trümmerteilen getroffen wurden.
Gleichzeitig war eine 1'200 Meter hohe Rauchsäule in den Himmel gestiegen, voller radioaktiven Materialien und anderen Giftstoffen. Die dabei freigesetzte Radioaktivität war ca. 400-mal so gross, als die der Atombombe in Hiroshima.
Die Grösste Atomkatastrophe in der Geschichte der Menschheit war geschehen.
So begann der Kampf gegen den Unsichtbaren, dennoch so tödlichen und heimtückischen Feind, die radioaktive Strahlung. Man kann die radioaktive Strahlung nicht sehen, schmecken oder riechen und auch nicht spüren. Aber dennoch richtete sie so viel Schaden in der Welt an und tut dies auch bis heute noch.