Kapitel 3-1

2034 Worte
Kapitel Drei Ich bin zurück im Krankenhauszimmer mit Dr. Xipil, und die kräftigen Sicherheitsleute betrachten mich aufmerksam, bereit, mich zu bändigen, falls ich zu einem psychotischen Killer werde. Ich setze ein Lächeln auf, auch wenn ich eigentlich gerade ausflippe. Das Letzte, was ich brauche, ist, dass Dr. Xipil mir die Spritze gibt, die er in der Hand hält. »Was ist passiert?«, fragt er mit einem besorgten Gesichtsausdruck. »Es hat nicht funktioniert«, sage ich und lege meine Hand wieder auf Mamas Stirn. Sie ist merkwürdig klamm. »Ich werde es noch einmal versuchen.« »Warten Sie …« Ich blende die Einwände des Zwergenarztes aus und wünsche mir, in Mamas Träume zurückzukehren. Nichts passiert. Hm. Ich berühre mein pelziges Armband – Pom – und versuche, auf diese Weise in die Traumwelt zu gelangen. Nichts. Es gibt keinen Geruch von Ozon, kein Gefühl des Fallens, das mit dem Übergang in eine traumwandlerische Trance einhergeht. Ich könnte genauso gut einen Felsen berühren. Ich greife Mamas Hand und strenge mich noch mehr an. Immer noch nichts. Irgendwann muss ich es akzeptieren: Der gewalttätige Rausschmiss aus der Traumwelt, den ich Mama zu verdanken habe, hat mich für den Tag meiner Kräfte beraubt. Unglaublich. Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist – oder dass Mama es tun könnte. Überhaupt scheinen ihre Traumwandlungskräfte viel stärker zu sein als meine. Was besonders erstaunlich ist, ist, dass Mama so stark ist, obwohl sie, solange ich denken kann, hier auf Gomorrha gelebt hat. Wir Cogniti verlieren langsam unsere Kräfte, wenn wir nicht regelmäßig in die Otherlands reisen, auf denen wie auf der Erde Menschen leben. Dr. Xipil tauscht einen Blick mit dem Wachmann in meiner Nähe aus. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?« Verdammter Mist. Er ist besorgt, dass ich mörderisch bin. Ich zwinge ein weiteres Lächeln auf meine Lippen. »Es geht mir gut. Ich bin nur enttäuscht, dass ich versagt habe.« »Wie ich Ihnen zu sagen versuchte, sind Sie nicht einfach gescheitert.« Der Arzt nickt zu den Monitoren, die Mamas Herzschlag und Gehirnaktivität überwachen. »Ihr Traumwandeln hat ihre Vitalfunktionen durch die Decke getrieben.« »Was?« Ich schaue auf die Monitore und wünsche mir, ich hätte eine medizinische Ausbildung. Ich weiß eine Menge über Schlaf, aber nicht viel darüber hinaus. »Wie?« »Ich weiß es nicht, aber sie hatte einen gefährlich schnellen Herzschlag, Kurzatmigkeit, übermäßiges Schwitzen und Zittern – alles Anzeichen einer nächtlichen Panikattacke, aber ohne das Erwachen, das typischerweise folgt.« Mein Magen zieht sich zusammen, als ich Mama anschaue. Ihre Stirn ist mit Schweißperlen übersät, und ihre bräunliche Haut hat einen grauen Schimmer. »Was soll ich also tun?« Dr. Xipil rückt seine Atemmaske zurecht, ein Gerät, das alle Zwerge aufgrund ihrer Anatomie tragen. »Nun … es ist ein einzigartiger Fall. Ihre Kräfte sind vielleicht immer noch der beste Weg, um sie aufzuwecken, aber Sie sollten ihren Körper sich ein oder zwei Tage lang erholen lassen, bevor Sie es noch einmal versuchen.« Ich atme tief ein. »Eigentlich weiß ich nicht, ob es sich lohnt, es noch einmal zu versuchen.« Ich erkläre meine Theorie, dass Mama viel mächtiger sein könnte als ich. Er macht den Sicherheitsleuten eine Geste, zu gehen. »Vielleicht können Sie nächstes Mal vernünftig mit ihr reden?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht will, dass ich in ihr traumwandle.« Ich schaue Mama an, und meine Brust zieht sich vor Schuldgefühlen über ihr aschgraues Gesicht zusammen. »Vielleicht hätte ich auf sie hören sollen.« Dr. Xipil rückt seine Maske erneut zurecht. »Ich werde sehen, was wir auf unserer Seite tun können. In der Zwischenzeit müssen wir wieder lebenserhaltende Maßnahmen ergreifen.« An meinem Handgelenk wird Pom schwarz – diesmal reflektiert er meine Gefühle. Ich schlucke trotz des bitteren Kloßes in meiner Kehle. »Ich verstehe.« »Sie sollten vielleicht auch mit einem Schlafexperten sprechen«, sagt der Arzt. »Oder einen anderen Traumwandler finden.« Ich blinzele ihn an. »Ich kenne keinen anderen Traumwandler.« Uns gibt es nicht gerade häufig. Er betrachtet mich abschätzend. »In diesem Fall … haben Sie jemals von Dr. Cipactli gehört?« Ich schüttele den Kopf. »Er ist ein Schlafexperte mit einem sehr guten Ruf. Er leitet die ZIZZ-Schlafklinik.« Dr. Xipil hebt sein Kinn an. »Eigentlich nicht überraschend, da er auch ein Zwerg ist.« Ich bin aufrichtig beeindruckt. »Noch ein Zwerg im medizinischen Bereich?« Dr. Xipil schnaubt durch seine Maske. »Ich war genauso überrascht wie Sie. Ich weiß, dass ich eine Ausnahme bin. Ich wurde Arzt, als ich meine Eltern durch eine seltene genetische Krankheit verlor. Trotzdem kann selbst ich nicht begreifen, warum ausgerechnet ein Zwergenkollege den Schlaf erforschen will.« Das kann er laut sagen. Zwerge blühen normalerweise in techniklastigen Bereichen auf. Meine Freundin Itzel zum Beispiel ist besessen von der Weltraumforschung und Apparaten aller Art, und ihr berühmter Großvater, Cadmael, hat die Vega-Reaktoren erfunden, die alles auf Gomorrha betreiben. »Ich werde mit diesem Dr. Cipactli sprechen«, sage ich. »Großartig.« Dr. Xipil macht einige Gesten in der Luft. »Ich habe Ihnen gerade seine Kontaktdaten geschickt.« »Vielen Dank. Können Sie sie mir auch mündlich geben? Mein Kommunikator ist kaputtgegangen, und ich habe ihn noch nicht ersetzt.« Eigentlich wurde mein Kommunikator von einem Vampir auf der Erde zerquetscht – aber wer behält da schon den Überblick? Dr. Xipil sagt mir, wohin ich gehen muss, und fügt hinzu: »Ich werde gleich, wenn ich gehe, mit Dr. Cipactli reden, und ihm alle Informationen über Ihre Mutter schicken.« Ich danke ihm noch einmal, und er verlässt den Raum. Ich umfasse Mamas Hand wieder. »Tschüss«, sage ich ihr leise. »Wir sehen uns bald, okay?« Ich bekomme keine Antwort. Schweren Herzens mache ich mich auf den Weg. Als ich im Flur an den Krankenschwestern vorbeikomme, frage ich mich, warum Mama mich in ihrem Traum immer wieder umgebracht hat. Die beste Antwort, die mir einfällt, ist, dass sie, obwohl ich unsichtbar war, meine traumwandlerische Präsenz entdeckt hatte und sie das verärgert hat. Schließlich hatte ich ihr mein ganzes Leben lang versprochen, dass ich nicht in ihre Träume eindringen würde. Aber warum tötet sie mich in verschiedenen Altersstufen? Warum schmeißt sie mich nicht einfach hinaus, so wie sie es tat, als ich mich zeigte? Noch wichtiger ist: Sollte ich ihre Wünsche respektieren und nicht zurückgehen? Ich versuche, mir vorzustellen, sie auf unbestimmte Zeit an diesen Maschinen angeschlossen zu lassen, und alles in mir revoltiert bei dem Gedanken. Selbst wenn ich das Geld aufbringen kann, um sie langfristig in dem teuren Krankenhaus behandeln zu lassen, wird sie irgendwann verkümmern, Maschinen hin oder her. Wenn ich sie nicht wecke, ist sie so gut wie tot. Das war es also. Wenn der Schlafexperte keine andere Lösung findet, muss ich mir einen Weg überlegen, wie ich mehr Kraft gewinnen kann, um wieder zurückzugehen und zu versuchen, sie aufzuwecken. Ich habe sogar eine Idee, wenn es um das Sammeln von Macht geht … Die Türen des Krankenhauses gleiten auf, und ich schaue mich um. Dies ist der Gesundheitsdistrikt, der aufgrund der Vielzahl von Privatkliniken, Pharmaunternehmen und Forschungszentren in der Umgebung so benannt wurde. Er ähnelt vage den Gärten an der Bucht von Singapur, denn die wasserspeichernden Bäume hier sehen den Supertrees dort sehr ähnlich. Mein Ziel ist zu Fuß erreichbar, also mache ich mich auf den Weg durch die geschäftige Menge der Cogniti. Nach dem Aufenthalt auf der Erde hier so viele nicht-menschliche Fußgänger zu sehen, ist ein wenig irritierend, besonders als ich ein paar Werwölfe in ihrer Tiergestalt sehe. Das Gebäude, in dem die Schlafklinik untergebracht ist, ist klein und erinnert mich an den Freedom Tower in New York. Ich gehe hinein und nehme den Aufzug zum Stockwerk der Schlafklinik. Eine Elfensekretärin sagt mir, dass ich Dr. Cipactli frühestens morgen Nachmittag erreichen kann, egal wie dringend mein Anliegen ist. Ich fluche leise über die Verzögerung, verlasse das Gebäude und suche den nächstgelegenen Laden auf, wo ich einen Ersatz-Kommunikator kaufen kann, ohne den ich mich wie eine Höhlenfrau fühle. »Möchten Sie sich das neueste Modell ansehen?«, fragt mich die Uber-Verkäuferin mit einem Megawatt-Lächeln. Ich schaue mich um. »Gibt es einen Ort, an dem ich mein CC-Guthaben überprüfen kann?« Sie nickt einem Spiegel in der Nähe zu, und mir wird klar, dass es ein getarnter Bildschirm ist. Ich gehe zum Bildschirm, authentifiziere mich und schaue mir meinen Kontostand an. Moment einmal. Die Zahl hier ist viel größer, als ich erwartet hatte. Es dauert nicht lange, bis ich herausfinde, was passiert ist. Valerian hat fast das Doppelte des vereinbarten Betrags bezahlt. Wow. Er hat mir schon früher Boni für besonders gut erledigte Arbeit gegeben, aber noch nie so viel. Sobald ich meinen Kommunikator habe, werde ich ihm danken müssen. Mit diesem Betrag kann ich Mamas ausstehende Rechnungen bezahlen und habe immer noch genug übrig, um den neuesten, teuersten Kommunikator in Betracht zu ziehen. »Zeigen Sie ihn mir«, sage ich zu der Uber-Frau. Sie nimmt ein elegant aussehendes Kommunikationsgerät heraus, das ich noch nie zuvor gesehen habe, und öffnet es wie eine Muschelschale – eine weitere Neuheit. Im Inneren des Kommunikators befinden sich fast unsichtbare Ohrhörer, zwei Kontaktlinsen und zehn Clip-on-Nägel. Ich betrachte alles voller Ehrfurcht. »Ich habe gehört, dass sich diese in der Entwicklung befanden, aber ich habe nicht gewusst, dass sie bereits auf dem Markt sind.« Mein letzter Kommunikator wurde über eine spezielle Brille und Handschuhe verbunden, so dass ich ihn auf der Erde nicht benutzen konnte. Das ist so viel diskreter. »Probieren Sie sie an«, sagt sie mit einem wissenden Grinsen. Ich greife nach den Kontaktlinsen und reiße dann meine Hand zurück. »Sind die neu?« Sie neigt ihren Kopf. »Kommen Sie von einem Otherland?« Bevor ich ihr sagen kann, dass ich von hier bin, fügt sie hinzu: »Dieser Kommunikator hat Hygieia eingebaut – eine Reinigungstechnologie.« Ich weiß natürlich wovon sie redet. Hygieia ist der Grund, warum Dinge wie Salmonellen auf Gomorrha ausgestorben sind. Ihre Antwort sagt mir auch, dass das Zeug vorher in den Augen anderer Leute war – was ein Problem darstellt, obwohl ich weiß, dass meine Besorgnis nicht rational ist. Es ist wie das Trinken aus einer sterilisierten Toilette auf der Erde – eklig, zumindest für mich. Sie muss meine Gedanken lesen, denn sie lächelt und holt eine versiegelte Packung heraus. »Ich verspreche nicht, es zu kaufen«, sage ich zögerlich. »Das ist in Ordnung.« Sie reicht es mir. Stimmt. Sie weiß, dass der nächste Kunde nicht meine Bedenken haben wird. Ich packe das Gerät aus, als wäre es ein Weihnachtsgeschenk, setze die Kontaktlinsen ein und pfeife vor mich hin. Sie sind extrem angenehm – ich fühle sie überhaupt nicht. Die Verkäuferin lächelt breiter. Sie weiß, dass ich fast am Haken hänge. Die Ohrhörer sind unglaublich. Einmal in den Ohren, ist es unmöglich, sie zu sehen, und ich kann immer noch alles um mich herum hören. Ich halte die Nageldinger an meine Nägel, und sie rasten wie magnetisch ein. Das Ergebnis ist gar nicht so schlecht – ein bisschen wie wenn ich auf der Erde blaue Gel-Nägel hätte. »Sind die Gesten die gleichen wie mit den Handschuhen?«, frage ich. Sie nickt, also gestikuliere ich, damit der Kommunikator aktiviert wird. Vor mir erscheinen die üblichen sphärischen Symbole in der Luft. Mit Brille sahen diese wie Star-Wars-Hologramme aus, aber die Kontaktlinsen machen alles schärfer, fast real. Ich rufe mit einer Geste die Login-App auf, und sobald ich drin bin, ändert sich das Interface in das, was ich eingerichtet habe, mit Symbolen, die wie unmögliche Formen aussehen, wie das Penrose-Dreieck. Es gibt mir das Gefühl, dass ich in der Traumwelt bin. Ich habe eine Menge Nachrichten, aber bevor ich sie abrufe, rufe ich die Bezahl-App auf und sage: »Ich nehme ihn.« »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.« Die Verkäuferin schenkt mir ihr bisher breitestes Lächeln. Als ich hinausgehe, höre ich bereits einige meiner Nachrichten ab. Die meisten sind aus dem Krankenhaus und sagen mir, dass ich die Rechnungen bezahlen muss. Das mache ich und überlege mir dann eine Nachricht an Valerian. Er ist maßgeblich an meiner neuen Idee beteiligt, wie ich mehr Kraft sammeln kann – zumindest sage ich mir das. Das hat nichts mit dem zu tun, was neulich fast zwischen uns passiert wäre. Überhaupt nichts. Zu meiner Enttäuschung antwortet er nicht sofort. Er antwortet auch nicht, bis ich in ein Auto steige. Nun, er verbringt die Hälfte seiner Zeit auf der Erde und die Hälfte auf Gomorrha, also ist er hoffentlich einfach weg und ignoriert mich nicht.
Kostenloses Lesen für neue Anwender
Scannen, um App herunterzuladen
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Schriftsteller
  • chap_listInhaltsverzeichnis
  • likeHINZUFÜGEN