I-3

2040 Worte
Diederich war fest entschlossen, das Haus nicht mehr zu betreten. Dennoch ließ er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Geschäft zu fragen, wo er für Agnes das Konzertbillett kaufen konnte. Vorher mußte er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfinden, den Agnes erwähnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschloß sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fünfzig, riß er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonnt hätte! Als er bezahlt hatte und draußen war, entrüstete er sich zunächst über den Schwindel. Dann bedachte er, daß es für Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschüttert. Immer weicher und glücklicher ging er durch das Gewühl. Es war das erste Geld, das er für einen anderen Menschen ausgegeben hatte. Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte, und schrieb die Adresse, um sich nicht zu verraten, mit Schönschrift. Wie er dann am Briefkasten stand, kam Mahlmann daher und lachte höhnisch. Diederich fühlte sich durchschaut; er besah die Hand, die er aus dem Kasten zurückgezogen hatte. Aber Mahlmann bekundete nur die Absicht, sich Diederichs Bude anzusehen. Er fand, es sähe drinnen aus wie bei einer älteren Dame. Sogar die Kaffeekanne hatte Diederich von zu Hause mitgebracht! Diederich schämte sich heiß. Als Mahlmann die Chemiebücher verächtlich auf- und zuklappte, schämte Diederich sich seines Faches. Der Mecklenburger wälzte sich ins Sofa und fragte: »Wie gefällt Ihnen denn die Göppel? Netter Käfer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurück, wenn Sie Wert darauf legen. Ich habe Aussicht bei fünfzehn verschiedenen.« Da Diederich nachlässig abwehrte: »Sie, da ist nämlich was zu machen. Ich müßte gar nichts von Weibern verstehen. Die roten Haare! – und haben Sie nicht gemerkt, wie sie einen ansieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?« »Mich nicht«, sagte Diederich noch geringschätziger. »Ich pfeife auch darauf.« »Ihr Schade!« Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus ward eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlaß von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: »Au! Das ist aber doch eine –« Vor dem Wort »Frechheit« schrak er zurück. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. »Recht freundlich, Kleiner! Alles bloß Freundschaft!« – und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab … Vier Tage später fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, großmütig drei Mark mit. Am Sonntag bei Göppels – mit weniger leerem Magen wäre Diederich vielleicht nicht hingegangen – erzählte Mahlmann, daß Heßling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr Göppel und sein Schwager lachten verständnisvoll, aber Diederich hätte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt tröstete er sich: ›Es ist alles eins, sie hat es schon immer getan!‹ Da fragte sie, ob das Konzertbillett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu. »Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen«, entgegnete er so unliebenswürdig, daß sie ihm glaubten. Agnes zögerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinés an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hieß, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: »Mit jemand, den ich unmöglich warten lassen kann.« Herr Göppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: »Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen!« Aber Diederich beteuerte entrüstet, daß es nicht daran liege. »Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben«, schloß Göppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines großen Opfers. Am Abend in einem überfüllten Bierlokal saß er, den Kopf aufgestützt, und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal. Was war zu machen gegen die gewalttätige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrauß für Agnes, und Diederich, der mit leeren Händen kam, hätte sagen können: Der ist eigentlich von mir, Fräulein. Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt. Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Göppels mit einem Bouquet, keinem zu großen, um sich nicht bloßzustellen und auch um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge Mädchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffenes Gesicht, und Diederich lächelte herablassend und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerhört festlich; er war nicht überrascht, als man in den Zoologischen Garten gehen wollte. Die Gesellschaft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Göppels Schwestern, vollständig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer höheren Klasse oder hätten geerbt. Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstraße, war sie breit, gleichförmig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Mädchen in weißen Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihn. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stürmten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Plätze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blaß aus. Alles drängte vorwärts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: Nu los, gearbeitet haben wir genug! Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: »Flegel!« Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, daß Herr Göppel ihn kannte – und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen. Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstützte er sie stürmisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkäfigen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. »Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein«, sagte Mahlmann. »Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte –« »Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest«, entgegnete Agnes und trat ein, während Mahlmann sein Gelächter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustürzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie über ihn hinstießen – und vor dem jungen Mädchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte: »Ich mag das Renommieren nicht!« »Wirklich?« fragte Diederich, vor Freude gerührt. »Heute sind Sie mal nett«, sagte Agnes; und er: »Ich möchte es eigentlich immer sein.« »Wirklich?« – Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Mädchen sagte klagend: »Die Tiere riechen aber furchtbar.« Und sie gingen zurück. Mahlmann empfing sie. »Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreißen würden.« Dann nahm er Diederich beiseite. »Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich hab es gleich gesagt, daß es keine Kunst ist.« Da Diederich stumm blieb: »Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was, ich bin nur noch ein Semester in Berlin: dann können Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefälligst –« Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf plötzlich tückisch anzusehen. »– Freundchen!« Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes’ Nähe. Sie hörte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückwärts: »Papa! Heute ist es schön, heute geht es mir aber wirklich gut.« Herr Göppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Hände und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklärte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlanggehen und nachher irgendwo essen. »Papa wird leichtsinnig!« rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschickt, daß er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedränge der Friedrichstadt blieb er mit Herrn Göppel allein zurück. Plötzlich hielt Göppel an, tastete verstört auf seinem Magen umher und fragte: »Wo ist meine Uhr?« Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte: »Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Göppel?« »Jawohl!« – und Göppel wendete sich an Diederich. »Dreißig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert.« Und stolz trotz allem: »Sehen Sie, das gibt’s in Netzig überhaupt nicht!« Nun mußte man, statt zu essen, auf das Polizeirevier und ein Verhör bestehen. Und Agnes hustete. Göppel zuckte zusammen. »Wir wären jetzt doch zu müde«, murmelte er. Mit künstlicher Jovialität verabschiedete er Diederich, der Agnes’ Hand übersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit überraschender Geschicklichkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahrenden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemiebände mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekanne in der Hand. Aber bei dem Geräusch einer Tür begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stützte den Kopf und weinte. Wäre es nicht vorher so schön gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die Mädchen: daß sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewußt, daß er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen könne. Er sah sich neben Mahlmann und würde es nicht begriffen haben, hätte eine sich für ihn entschieden. ›Was hab ich mir nur eingebildet‹, dachte er. ›Eine, die sich in mich verliebt, muß wirklich dumm sein.‹ Er litt große Angst, der Mecklenburger könne kommen und ihn noch ärger bedrohen. ›Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!‹ Die nächsten Tage saß er in tödlicher Spannung bei verschlossener Tür. Kaum war sein Geld da, reiste er. Seine Mutter fragte, befremdet und eifersüchtig, was er habe. Nach so kurzer Zeit sei er kein Junge mehr. »Ja, das Berliner Pflaster!« Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universität, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, daß es ein Für und Wider gäbe. Diederich mußte ihm viel von Göppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Geschäftsfreunden gewesen? Herr Heßling wünschte, daß Diederich die Ferien benutzte, um in der väterlichen Werkstätte den Gang der Papierverfertigung kennenzulernen. »Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Granatsplitter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt.« Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von Gäbbelchen oder längs des Nuggebaches bei Gohse spazierenzugehen und sich mit der Natur eins zu fühlen. Denn das konnte er jetzt. Zum erstenmal fiel es ihm auf, daß die Hügel dahinten traurig oder wie eine große Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs heiße Liebe und seine Tränen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten.
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