Kapitel 4: Bürger der Stadt

2448 Worte
Ausdauer hatte Ben Wolff zur Genüge. Es sollte reichen, um einige Drecksbälger einzuholen und dann zur Rede zu stellen. Das war zumindest sein Gedanke, seine Hoffnung. Mit was er nicht gerechnet hatte war die Tatsache, dass die Gaffer offenbar schneller als erwartet waren. Quer durchs brüchige Treppenhaus liefen sie, die drei, und er ihnen hinterher wie ein Wildtier, das seine Beute jagt. Es waren zwei Burschen und ein Mädchen. Kurz vor dem Stiegenhaus warf einer der drei Kinder während dem Rennen einen vorhin vom Boden aufgehobenen Ziegel, der von der baufälligen Decke gefallen war, nach hinten auf den Verfolger. Der Ziegel lies ihn tatsächlich kurz stolpern. Das hasste der Vollstrecker. Ausgetrickst von blödsinnigen, wesentlich jüngeren Menschen, die sich für schlauer hielten. Nach einigen Sekunden rappelte er sich wieder auf und lief die vielen Treppen herunter. In den paar Augenblicken, wo er am Boden lag, waren sie schon längst einige Stockwerke weiter unten. Es geschah grundsätzlich nicht oft, dass Ben während seiner Exekutions-Arbeit derartig dreist beobachtet wurde. Die meisten trauten sich das gar nicht. Es war ja nicht mal so, als wäre es nie vorgekommen, dass ein Exekutor wie Ben etwaige Starrer auf skrupelloseste Weise aus dem Weg räumte. Denn meistens handelte es sich bei unerwünschten Zusehern um Spione rivalisierender Clans oder Ähnliches. Das war der einzige Grund, warum sich Ben überhaupt erst die Mühe machte, die Verfolgung aufzunehmen. Zu viele böse Absichten wären in Frage gekommen. Er rannte förmlich die Stufen hinab, bis er wieder an die durch ihn zerstörte Haupteingangstüre des Wohngebäudes gelangte und diese schließlich durchtrat. Der von ihm verprügelte Araber von vorher lag noch immer bewusstlos da, aber das kümmerte ihn nicht im Ansatz. Im Freien angekommen sah er sich zunächst um und erfasste die drei Flüchtigen am Beginn einer Gasse. Eine kleinere Masse heruntergekommener Menschen hatte sich willkürlich hier im Vorhof versammelt; die kamen anscheinend gerade von einer Feierlichkeit und tranken und tanzten hier weiter. Das Erkennen in der Nacht war generell alles andere als leicht, aber die Leute machten es noch schwerer. Er sammelte seine restliche Energie, sprintete los, schubste die herumstreunenden, singenden Nachtschwärmer zur Seite und rannte seinen Opfern hinterher, nachdem er sie als die Fliehenden identifiziert hatte. Gegen die Höchstgeschwindigkeit des Vollstreckers hatten die Jugendlichen keine Chance, zumal sie bereits völlig aus der Puste waren. Sie liefen eine verkommene, enge Seitengasse entlang, hechelten und atmeten schon schwer. Der Jäger packte schließlich nach einiger Zeit die Langsamste von ihnen, ein junges Mädchen mit dunkler Hautfarbe. Ja, klein und dunkelhäutig war sie, mit markanten Locken und dünner Statur versehen. Wie es aussah hatte sie afrikanische Vorfahren. Und dennoch, sie war wirklich hübsch. Ein makelloses, liebliches, unschuldiges Gesicht. Auch die feuchten Augen von ihr, die im Gegensatz zu denen von Ben voller Leben und Hoffnung waren, überraschten ihn... Nun aber hielt er sie von hinten fest. Ihre Bemühungen, sich zu wehren, waren vergebens. Der Mann war ihr hoch überlegen, wenn es um Körperkraft ging. „Yamina!", rief der Junge vorne, der abrupt seine Flucht stoppte und zu seiner Freundin zurückrannte. „Lassen Sie sie los!", schrie er Ben wild an. „Geben Sie Ihre Finger weg!", drohte der andere Bursche. Die zwei jungen Männer liefen zu der Dame, die scheinbar Yamina hieß, zurück und versuchten gemeinsam, Ben von ihr wegzudrücken. Dieser aber ließ sich das nicht gefallen, gab seine Hände von Yamina weg und verpasste dem einen Helfer eine Ohrfeige, die diesen zum Umfallen brachte. Dem anderen trat er mit voller Wucht ins Schienbein, was für das Opfer in schmerzvollem Geschrei endete. Das Mädchen hingegen stand einfach nur zitternd und ersichtlich angsterfüllt da. Das ganze Geschehen wurde von einem mit dem Rücken an einer Hauswand sitzenden Obdachlosen beobachtet, der aber keine wirkliche Regung zeigte - vermutlich war er bereits tot, obwohl seine Augen vollkommen geöffnet waren. „Da hab' ich euch... Bleibt stehen und sagt mir, wer zum Teufel ihr seid!", befahl Ben ihnen. „Oder ich brech' euch eure Knochen! Wer hat euch geschickt?" Das kann nur einer vom Bündnis sein. Oder ein neuer Clan. Wer sonst?, theorisierte Ben in Gedanken. „Niemand!", meinte das eine Milchgesicht, das am sandigen Boden lag und sich jetzt langsam wieder aufrichtete. „Das ist die Wahrheit. Wir sind von keiner Gang!" Ben aber reagierte nur mit einem abfälligen Seufzer. „Ein Gaffer und ein Lügner gleichzeitig, das trifft sich ja gut, hm?" Jetzt erst fiel ihm der eklige Geruch dieser Seitengasse auf. Es roch nach Tod, Verwesung, Pisse und Tierkadavern. Wenn man sich hier näher umsah, konnte man einige der genannten Dinge auch in so mancher Ecke erkennen. „Es stimmt!", sagte der andere Junge, der wie ein Araber oder Türke aussah. Schwarze, aufgestellte Haare, auf beiden Seiten scharf abrasiert, Ansätze eines Bartes, dunkelbraune Augen, dickere Augenbrauen, ziemlich groß und breit, allerdings nicht annähernd so wie Ben. „Wir verfolgen Sie schon länger... Ein paar Meter wären's noch gewesen und wir hätten auf unsere Mopeds steigen können." Tatsächlich standen in zirka zwanzig Meter Entfernung neben einigen Müllsäcken zwei schwarze, verrostete Mopeds, die der Rasselbande offenkundig als Fluchtmittel dienten. Aus der vollen Mülltonne daneben ragte der Leichnam einer Frau mittleren Alters raus. Ihrer Optik nach zu urteilen befand sie sich schon länger als zwei Wochen dort drinnen. Ben lachte kurz. „Ah, die zwei Drahtesel meinst du? Mit denen habt ihr es geschafft, mehr als zwanzig Meter zu fahren? Mein Respekt, ehrlich. Hätt' nicht geglaubt, dass sowas möglich ist. Und du bist was? Iraner? Tschetschene? Araber, oder wie?" „Ich heiße Can. Meine Eltern waren türkischer Abstammung." „Can also... Sie waren türkischer Abstammung? Wie das? Du willst mir doch nicht sagen, dass deine armen Eltern tot sind, ne?" Es schien, als würde Ben - der selbst als Vollwaise aufgewachsen war - sich über diesen traurigen Umstand lustig machen. „Und wie sie das sind." Can ließ sich davon nicht provozieren und behielt seinen selbstbewussten Blick und seine aufrechte Haltung, der inneren Furcht zu trotz. Die Hände steckte er lässig in seine schwarze Lederjacke ein. Seine hautenge Jean war aufgekrempelt, sodass man seine Fußknöchel über den weißen Sneakers gut sehen konnte. Scheinbar war das zurzeit in Mode. „Wie sind sie denn gestorben? Hab' ich sie etwa vor Ewigkeiten umgelegt und du willst jetzt einen auf Rächer machen? Ha! Das wär' mal was! Das wär' richtig ehrwürdig!" Ben grinste. Bloß die Fassade aufrecht erhalten... „So ist es aber nicht. Ich würd' das wissen. Es war aber einer von euch. Von euch Vollstreckern." „Mhm, interessante Sache... Vielleicht kenn' ich den Typen, der's war. Gibt ja nicht so viele von uns. Wobei eigentlich... Eher unwahrscheinlich. Arno lässt alle paar Jahre eine Säuberung seiner Männer durchführen. Ich bin der Einzige, der all diese Säuberungen überlebt hat." „Sie sagen das so, als wär' das was Besonderes. Der Scheißberuf hat schon genug Schlimmes angerichtet. Sie sind ein Mörder, nicht mehr." Du kennst mich nicht. Du weißt nichts von mir. Lautes Gelächter kam von Ben zurück. Das Milchgesicht aber, das nun wieder gerade stehen konnte, näherte sich dem Vollstrecker langsamen Schrittes an. Das nutzte er, um mit seinem Verfolger einen Dialog zu starten. „Ich bitte Sie... Sie müssen uns verstehen... Wir werden Ihnen sagen, wer wir sind und was wir wollen. Aber Sie dürfen uns nichts tun", kam aus dessen Mund. Plötzlich ertönte das Geräusch zweier Pistolenschüsse. Irgendwo am anderen Ende der Gasse wurde anscheinend um sich geschossen. Der junge Mann und seine Begleiter zuckten kurz zusammen, Ben blieb unbewegt. Sowas passierte ständig. „Lass' dich nicht so leicht von ein paar Schüssen ablenken! Und du bist wer? Siehst aus, als würd' dich ein Wind zerreißen können... Wie viel wiegst du? Sechzig Kilo?", antwortete der Vollstrecker. „Ich bin Paul..." Paul - jetzt hatte man alle Namen beisammen. Dieser schmächtige Paul war bleich im Gesicht, um einiges kleiner als Can, hatte braune, kurze Haare, eine volle Lippe, blaue Augen, eine winzige Nase und dünne Brauen. Auch wenn sein Gesicht ein spitzes Kinn und hohe Wangenknochen aufzuweisen hatte, wäre es unrichtig gewesen, ihn als absoluten Schönling zu bezeichnen. Es fehlte ihm an äußerlicher Dominanz, an Männlichkeit. Zu zärtlich sah er aus. Auch sein Kleidungsstil ließ zu wünschen übrig, wenn man den grünen, löchrigen Parka, die weite, graue Stoffhose und die braunen Plateauschuhe betrachtete. Und doch war seine Stimme die klarste und lauteste von allen. Er hatte auf wundersame Weise etwas Besonderes an sich. Das merkte Ben. Etwas schlummerte in ihm... Seinem mangelhaften Aussehen zu trotz schien Paul Charisma zu haben. Das erkannte man unter anderem daran, mit welchen bewundernden Augen Yamina und Can ihn ansahen, als er bloß zu sprechen begann. Ben erinnerte er an Arno, als dieser noch jünger war. Und selbst der Klang seiner Stimme war wie verzaubernd. Zumindest – das konnte sich Ben gut vorstellen – war Paul dazu in der Lage, breite Massen an Gleichaltrigen auf seine Seite zu ziehen. Könnte Arnos echter Sohn sein. Wenn ich nur je so gewesen wäre. „Gib's zu, sechzig Kilo, oder? Alles drüber wäre Beschiss." „Einundsechzig. Auf einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter. Nicht umwerfend... aber ich komm' ganz gut zurecht damit." „Mich lässt das kalt." „Kein Wunder bei Ihrer Statur..." „Ich hoff' für dich, dass das nicht beleidigend gemeint war. Sonst reiß' ich dir nämlich deinen Kopf ab. Und das vor den Augen deiner Freunde." „Oh, es war nicht... so gemeint. Das... versprech' ich hoch und heilig." Wieder die Angst Pauls. „Gut so... Aber reden wir doch Tacheles – warum habt ihr mich beobachtet? Was sollte die Scheiße dort in der Wohnung? Meine Geschäfte gehen euch nichts an." Bens Stimme wurde bedrohlicher. Die Störenfriede sahen gerade nicht besonders tapfer aus: Yamina zitterte leicht, auf Cans Stirn bildeten sich Perlen des Angstschweißes... Nur Paul gab sich Mühe, die Furcht nach außen hin zu verbergen, mehr oder weniger erfolgreich. „Wir sind..." Paul hielt kurz inne. Die nächsten Sätze musste er unbedingt selbstsicher sagen. „... eine Gruppe von jungen Menschen. Bürger dieser Stadt. Frankfurt am Main... Jeder weiß, man hat hier nur zwei Optionen im Leben: Man schließt sich den Gangs an oder lässt sich von diesem stinkreichen Schwein, der im Turm sitzt, versklaven. Benjamin Brookshields... Ein Amerikaner. Und auch die Gangs kommen von irgendwo her. Asien, Palästina, Italien... Ich wüsst' gar nicht, wo ich anfangen soll! Frankfurt gehört nicht mehr seinen wahren Einwohnern. Sie haben sie uns weggenommen, die Stadt. Alle meinen, sie könnten sie unterwerfen. Aber wir nicht. Wir wurden hier geboren, genau wie unsere Familien auch. Diese furchtbare Zeit muss endlich ein Ende finden. Wir müssen wieder einen frei gewählten Bürgermeister einsetzen. Die Zustände sind katastrophal! Brookshields und die Clans errichten hier eine Herrschaft, die auf Mord und Sklaverei aufgebaut ist!" „Ah...", stieß Ben unbeeindruckt aus. „Bist du fertig?" „Bi... Bitte?" Paul sah verdutzt aus. „Ob das alles ist, was du zu sagen hast, Jüngelchen." „Ich versteh' nicht ganz..." „Du hast soeben eine Analyse der Stadt erstellt... Akzeptier's doch einfach. Was wollt ihr drei Gestalten denn ändern? Ich mein', wie alt seid ihr überhaupt? Achtzehn? Neunzehn?" „Zwanzig sind wir. Und wir sind nicht alleine. Wir sind viel mehr!" „Pf, dann seid ihr trotzdem nichts weiter als ahnungslose Idioten, die sich halt zusammengetan haben in der Hoffnung, irgendwas im System zu bewegen! Aber das könnt ihr vergessen! Ich hab' erst kürzlich ein paar Jugendliche von den Staatsverweigerern getroffen... Ein schändlicher, unorganisierter Haufen Dreck ist das. Das ist bei euch sicher nicht anders. Und ihr wollt die Rebellen spielen? Hört einfach auf damit. Es wird nur in eurem Tod enden. Niemand kann das System besiegen... Nicht mal ich..." Ihr werdet scheitern. „Das wird nicht in unserem Tod enden!", rief das Mädchen. Ihre Stimme war recht weich und angenehm. „Sie kennen uns nicht! Wir sind entschlossen und stark!" „Das haben schon viele von sich behauptet... Bis Arno mit seinen Männern vor deren Türen gestanden ist." Ben musste schmunzeln. Er fand es lustig, daran zu denken, wie viele bereits den Helden gespielt haben und dann kläglich zu Boden gingen. „Wir sind aber nicht so wie die!", musste Can einwerfen. „Deswegen haben wir Sie auch beobachtet! Um zu sehen, wie die Leute von Arno und Konsorten arbeiten! Welche faulen Tricks sie verwenden!" Der Vollstrecker schüttelte den Kopf. „Und was bringt euch das, dieses Wissen?" Er packte eine Zigarette aus und begann, sie genüsslich zu rauchen. „Damit können wir... uns... einen Überblick verschaffen über..." Can dachte nach. „Einen Überblick über...", stotterte er runter. „Lächerlich, dir fällt nichts ein, hab' ich Recht? Dir gehen die Worte aus!" Paul ergriff das Wort. „Wenn wir euch Typen studieren, fällt es uns in Zukunft wahrscheinlich leichter, euch umzubringen!" „Haha!" Ben fiel vor lauter Gelächter sogar der Glimmstängel aus dem Maul und landete am Beton. „Ihr seid Komiker! ‚Umbringen', was für ein guter Scherz! Bist ja richtig lustig! Ihr Witzfiguren wollt einen von uns töten?" „Das ist nicht zum Lachen! Wir haben Sie schon verfolgt, wo Sie in das Wohnhaus reingegangen sind!", sagte Yamina. „Oh, und den Araber-Jungen, den ich windelweich geprügelt habe, den habt ihr da einfach liegen lassen wie einen räudigen Köter?", wollte Ben wissen. „Mit Absicht. Er gehört zu Momo Al-Hadads Leuten." „Mpf, was auch immer... Und wollt ihr mir noch irgendwas mitteilen?" Paul wollte dem Vollzieher unbedingt noch etwas sagen: „Sie könnten sich uns anschließen. Sie wären eine große Hilfe. Mit Leuten wie Ihnen könnten wir das Mafia-Netzwerk und den Brookshields-Konzern endlich ausschalten!" „Aha, meinst du?" „Ja. Das ist mein voller Ernst." „Kommt schon, geht weiter spielen. Setzt euch auf eure geklauten Mopeds und haut ab von hier. Den Blödsinn, den ihr da faselt, glaubt ihr doch wohl selber nicht. Macht, dass ihr wegkommt..." Damit beendete Ben die Debatte und kehrte den Dreien den Rücken zu. Er ging von ihnen weg. Wenn's hundert Männer wie mich gäbe, wäre die Welt ein friedlicher Ort. „Hey!", rief ihm Paul nach. „Sie finden uns in der alten, verlassenen Lagerhalle von Solberg & Webb im Osten!" Der Junge kennt meinen Beruf und verrät mir - ausgerechnet mir - seinen Standort? Merkwürdig... Paul erhielt von Ben jedoch keine Antwort. Die drei Freunde sahen sich gegenseitig verdutzt in die Augen, sprangen aber danach auf ihre Mopeds. Can fuhr allein, während Yamina sich auf den Hintersitz von Pauls Gefährt setzte und seinen Bauch umklammerte. Sie starteten die Maschinen und fuhren die Seitengasse raus auf eine größere Straße. Und wenn man den unangenehmen, brummenden Laut ihrer Motoren hörte, konnte man Ben Recht geben – es war wahrlich ein Wunder, dass sie mit ihren Drahteseln über zwanzig Meter kamen.
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