3. Kapitel

4711 Worte
Als sie am Abend erschöpft von ihrem touristischen Tagespensum ins Hotel zurückkehren bemerkt Anthea als erstes, dass das weiße Herrenhemd verschwunden war. Ein übereifriges Zimmermädchen hatte es, zusammen mit den schmutzigen Handtüchern und offensichtlich benutzter Kleidung in die Reinigung gegeben. Traurig setzte sie sich auf die Bettkante. Dabei konnte sie gar nicht genau beziffern, warum sie zu traurig war. Entweder weil ihr nun die Chance genommen wurde es Mister Unbekannt persönlich zurückzugeben oder weil sie nun nichts mehr hatte, was nach ihm duftete. Rose nimmt neben ihr platz und legt liebevoll ihren Arm um sie. “Hey, hör` sofort auf, Trübsal zu blasen! Das ist unser Mädelsurlaub.” Ihre Freundin zwingt sich zu einem schiefen Lächeln. “Wollen wir ausgehen?” Sie schüttelt den Kopf und sieht betrübt zu Boden. “Dann wenigstens auf einen Absacker in die Hotelbar?” drängt Rose weiter in sie. “Nö. Keine Lust.” “Gut. Dann geh` jetzt wenigstens da rüber …” Rose deutet mit dem Daumen auf die Wand links von ihnen. “ ... und erklär ihm, dass es nun nicht mehr in deiner Macht liegt, den Fleck herauszubekommen.” Überrascht sieht ihre Freundin sie an. “Na toll. Und dann? Soll ich ihm auch gleich anbieten, es ihm zu bezahlen? Die bekommen den verdammten Fleck sicher nicht raus.” “Und du hättest es geschafft?” fragt ihre Freundin zweifelnd. Sie zuckt die Achseln. “Ich hätte zumindest alles probiert. Ein wenig kenne ich mich ja aus.” Und das stimmte. Ihre Familie besaß und leitete nicht umsonst bereits in der dritten Generation ein Herrenmodegeschäft in Potsdam. Einst gehörte sogar der Preußische Kaiserhof zu ihrem Kundenstamm. “Das Hemd zu ersetzen, kostet mich meine gesamte Urlaubskasse.” “So teuer?” “Versage.” Rose schluckt schwer. “Ups.” “Ja, ups.” brummt Anthea. “Dann geh wenigstens rüber und entschuldige dich.” schlägt ihre Freundin nun etwas dezenter vor. “Vielleicht erlässt er es dir ja, wenn du freundlich zu ihm bist?” “Freundlich?” Skeptisch zieht sie die Augenbraue hoch. “Du meinst, ich sollte ihm als Entschädigung … Naturalien anbieten?” Rose springt wie ein Springteufel auf. “Das hast du jetzt gesagt. Aber, hey, …” Sie wirbelt zu ihr herum. “ … ich bin ganz bei dir. Es täte dir gut. Wie lange ist das letzte Mal jetzt her? Hundert Jahre?” Weil auf die Schnelle nichts anderes zur Hand ist, greift Anthea sich eines der dicken Kissen und wirft es kraftvoll ihrer frechen Freundin ins Gesicht. Überrascht bleibt dieser der Mund offen stehen. “Hey, was …” Doch schon bückt sie sich nach dem Kissen und gleich darauf ist die schönste Kissenschlacht im Gange. Ausgelassen lachen sie und rufen sich spielerische Ausdrücke an den Kopf. Kurz darauf klopft es an der Tür. Erstaunt sehen sich die Frauen an. Waren sie zu laut? “Wer geht?” formen Roses Lippen tonlos. Ratlos zuckt sie mit den Schultern. Ihre Freundin wirft einen raschen Blick in den Spiegel und flüstert, “Ich sehe aus wie ein gerupftes Huhn. Du so wie immer. Geh` du!” Genervt verdreht sie die Augen, geht aber dennoch an die Tür und öffnet diese zögerlich, nachdem erneut kraftvoll dagegen gehämmert wurde. “Ja?” “Geht's vielleicht noch etwas lauter?” herrscht eine männliche Stimme. Kaum ist die Tür vollends geöffnet, sieht sie, wer die Spaßbremse ist. Sofort setzt wieder die Befangenheit ein. “Ähm, hallo.” flüstert sie. Er zieht skeptisch, als befürchtete er eine geistig Minderbemittelte vor sich zu haben, die Stirn kraus. “Sagen Sie mal, was tun Sie denn hier?” “W-wieso?” stottert sie. “Das hört sich an, als würde eine Metallband das Hotelzimmer auseinander nehmen.” faucht er. “Vielleicht ist es Ihnen ja nicht bewusst, aber es gibt Menschen, die suchen in einem Hotelzimmer etwas Ruhe.” Jetzt reicht's aber. Was denkt er eigentlich, wer er ist? Schnippisch verschränkt sie die Arme vor der Brust, hebt das Kinn und sieht ihm fest in die Augen. Diese wunderschönen blauen Augen. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht sehnsüchtig zu seufzen. Erst jetzt scheint es ihm aufzufallen, um wen es sich bei dem nächtlichen Ruhestörer handelt. “Sie?” “Ja, ich. …” Setzt sie an, wird aber gleich wieder unterbrochen. “Was ist mit meinem Hemd? Haben Sie den Fleck rausbekommen?” “Also zuerst einmal, Sie haben ja wohl gar keine Ahnung. Was denken Sie denn, wie schnell mal einen solchen Fleck entfernen kann?” Ein belustigtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Lässig versenkt er beide Hände in den Hosentaschen und lehnt sich an den Türrahmen. “Und zweitens, ich habe es gar nicht mehr.” Überrascht zuckt sein Augenlid. “Sie haben es nicht mehr?” wiederholt er leise. Anthea nickt und sieht beschämt zu Boden. “Ja, genau. Ich …” “Ich möchte mich mal mit Ihnen in Ruhe unterhalten!” unterbricht er sie. Schon wieder. “S-sie wollen w-was?” keucht sie entsetzt. Jetzt kommt's. Er will es ersetzt haben. Scheiße! “W-wann denn?” “Sofort.” Damit stößt er sich vom Türrahmen ab und macht einen Schritt in Richtung seiner Zimmertür. “Kommen Sie?” “J-jetzt sofort?” Panisch wirft sie einen Blick in ins Zimmer zurück. Doch Rose, die feixend hinter der geöffneten Tür steht, sieht sie nicht. “A-also gut.” flüstert sie und zieht die Tür hinter sich zu. Auf wackeligen Beinen folgt sie Mister Unbekannt in das benachbarte Zimmer. Er steht mitten im Raum und beutet ihr, die Tür hinter sich zu schließen. Folgsam tut sie wie ihr geheißen und macht ein paar zögerliche Schritte in den Raum. “Setzen Sie sich!” Langsam geht sie zu dem angebotenen Sessel. Sein Zimmer ähnelt stark dem ihren. Auch hier befindet sich eine kleine Sitzgruppe bestehend aus zwei Sesseln nebst Tischchen. Er selbst setzt sich gegenüber. “Ich kann Ihnen leider nichts zu trinken anbieten.” entschuldigt er sich. “Das macht nichts. Es ist schließlich ein Hotelzimmer.” flüstert sie und sieht auf ihre im Schoß gefalteten Hände. “Das stimmt.” lacht er. “Dennoch, schade.” Sein Blick fliegt für einen Moment durch das Zimmer, bis er wieder sie trifft und er fragt, “Wie heißen Sie eigentlich?” “V-van der Woodsen.” haucht sie. “Van der Woodsen?” wiederholt er überrascht. “Sie kommen aus den Niederlanden? Sie sprechen ein sehr gutes Englisch!” Oha, ein Lob. Und das aus seinem Mund. Widersprechend schüttelt sie den Kopf. “Nein, ich bin Deutsche. Ich komme aus Berlin.” “Tatsächlich?” Nun wirkt er überrascht. “Und haben Sie auch einen Vornamen?” “Warum sollte ich Ihnen den sagen? Ich kenne ja Ihren auch nicht.” Wo kommt denn plötzlich ihr Mut her? Erneut scheint das, was sie sagt ihn zu belustigen. Amüsiert entgegnet er, “Michael Thompson.” Automatisch ergreift sie seine ausgestreckte Hand. “Angenehm. Anthea.” Nun hatte sie es geschafft, er war noch eine Spur überraschter. “Anthea? Ehrlich?” “Ehrlich.” Erleichterung, weil das Gespräch langsam an Anspannung verlor, antwortet sie, “Meine Eltern haben ein Fable für alles, was griechisch ist.” Ergeben hebt sie die Schultern. “Allerdings heißt mein Bruder Aiden. Das ist irisch und so gar nicht griechisch.” Was plappert sie denn da? Amüsiert lehnt er sich zurück und mustert sie eindringlich. Sofort wird ihr wieder heiß und kalt zugleich. “Entschuldigung.” murmelt sie. “Nein, nein, wieso denn? Ich höre Ihnen sehr gerne zu.” entgegnet er leise. Praktisch kann sie vor sich sehen, wie ihr Gesicht die Farbe wechselt. “J-a, jedenfalls komme ich aus Berlin und b-bin Schriftstellerin. Damit tue ich etwas völlig anderes als wie sich meine Eltern für mich gewünscht haben.” “Ist das so?” Sie nickt. “Meine Eltern führen, in der vierten Generation ein Herrenmodegeschäft.” “Sie sind Schneider?” In seiner Stimme schwingt echte Bewunderung mit. “Ja, mein Vater, davor sein Vater und sein Großvater, cetera pp.” erklärt sie lächelnd. “Aber meine Liebe galt schon immer den Büchern und nicht Seide, Musselin oder Kaschmir.” Geheimnisvoll lächelnd beugt er sich vor und raunt, “Raten Sie, was ich beruflich mache!” “S-sie? Beruflich?” Er nickt schweigend und legt die Fingerspitzen aneinander. Sie mustert ihn eindringlich. Er hat ja praktisch dazu aufgefordert. Gut sitzende Anzughose. Ebenso teuer wie das Hemd. Schon wieder. Eine Seidenkrawatte liegt über der Sessellehne. Seine Lederschuhe sehen handgefertigt aus. Dass er Geld wie Heu hat, strömt aus jeder seiner Poren. “Hm.” macht sie, um Zeit zu schinden. “Sie kleiden sich geschmackvoll und hochwertig. Darf ich mal Ihre Hände sehen!” Auffordernd hält sie ihm die Handfläche hin. Beinahe im sofort legt er seine große Hand schwer in die ihre. Mit einem schnellen Blick registriert sie, dass diese Hände schwere Arbeit nicht gewohnt sind. Ja sogar perfekt manikürt sind sie. “Sie arbeiten im Büro.” deduziert sie. “Das ist richtig.” nickt er. “Sie arbeiten … Arbeiten Sie mit Geld? Sind Sie Bankier?” “Nö.” grinst er. “Aber ich schiebe schon so einige Millionen hin und her.” Was? Jetzt war sie vollkommen verwirrt. Wer macht denn sowas. Ach so, ja, natürlich. “Sie sind Manager.” Entschlossen nickt sie und sieht ihm fest in die Augen. Gespannt wartet sie darauf, dass er auflöst, wo er angestellt ist. “Wieder falsch.” Sein Blick wandert hinunter auf ihre Hände und da erst bemerkt Anthea, dass sie noch immer seine Hand in der ihren hält. Erschrocken lässt sie sie los. Leise lachend lehnt er sich zurück und sagt, “Soll ich Sie erlösen?” “B-bitte.” murmelt sie und reibt sich gedankenverloren die Hand. Die Wärme, die er ihr geschenkt hat, ist noch immer zu spüren. “Studiert habe ich Linguistik und Englische Literatur des Mittelalters in Oxford, obwohl ich viel lieber Medizin studiert hätte.” “Medizin? Was hat Sie bewogen, sich dann doch umzuentscheiden?” Sein Blick verdunkelt sich für einen Moment. “Meine Familie.” “Wieso?” “Das ist des Rätsels Lösung. Ich musste in die Fußstapfen meines Vaters treten. Eine Familientradition fortführen.” erklärt er langsam und sie spürt, dass ihm diese Entscheidung damals nicht leicht gefallen war. Sie mustert ihn erneut und plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Er hatte gelächelt, als sie ihm eröffnete, dass sie Bücher schreibt. Dazu seine kostspielige Kleidung. “Sie sind nicht zufällig Verleger?” Grinsend deutet er mit dem Zeigefinger auf sie und ruft freudig, “Treffer! Wie haben Sie das nur so schnell erraten?” Das war ein Witz. Sie geht nicht darauf ein. “In welchem Verlag sind Sie angestellt?” “Fragen Sie aus beruflichem Interesse? Suchen Sie einen Verlag für Ihr neuestes Werk?” zieht er sie auf. Auch diese spitze Bemerkung überhört sie. “Und?” Michael grinst. “Wer sagt denn, dass ich in einem angestellt in?” “Sie leiten also einen Verlag?” “Wieder nicht ganz richtig.” So langsam gehen ihr seine Spielchen auf die Nerven. “Ach so?” brummt sie daher nur. “Ich besitze einen Verlag. Hier in London. Ein Traditionsunternehmen.” Seine gute Laune scheint dahin. “Wirklich?” Nun war ihr Interesse doch wieder geweckt. “Ja.” nickt er. “Leider. Denn wie gesagt, ich hatte andere Pläne.” “Aber Ihre Eltern wollten davon nichts wissen?” Ein deutlicher Hauch von Mitgefühl schwingt in ihrer Stimme mit. “So ist es. Stets zählte nur, was Vater wollte. Meine Mutter hat das nicht lange ausgehalten. Sie ist gegangen.” “Oje. Ist sie …?” “Sie ist nicht gestorben, wenn Sie das meinen.” brummt er. “Nicht?” “Nein. Sie ist nur einfach gegangen.” Tiefe Trauer schwingt in seinen Worten mit. “Hat sie Sie etwa allein gelassen? Ich meine, bei Ihrem Vater?” Welche Mutter tut denn so etwas? “Genau. Heiliger Abend vor 33 Jahren.” “E-einfach so?” “Jup.” Damit erhebt er sich und geht zum Nachttischchen neben seinem Bett. Dort hatte er doch etwas zu Trinken stehen. Einen tiefen Schluck direkt aus der Flasche nehmend, wendet er sich von ihr ab. Nachdem er getrunken hat, wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund und kehrt zu ihr zurück. “Entschuldigung. Ich denke nicht, dass Sie etwas davon haben wollen.” Sie schüttelt den Kopf. “Nein, danke.” Sie schenkt ihm ein Lächeln. “Ihre Mutter hat Sie also allein bei ihrem Vater gelassen?” “Ja. Sie verschwand und ließ mich zurück.” erwidert er verbittert. Sein Blick huscht unentwegt im Raum umher. Weicht dem ihren aus. Da steckt einige Wut, Hilflosigkeit und Trauer in ihm, das spürt sie genau. “Michael. Es … es ist gut über so etwas zu reden.” flüstert sie und streckt die Hand nach seinem Unterarm aus. Doch er weicht zurück und starrt auf ihre Hand. Sofort zieht sie sie zurück. “Entschuldigung.” “Nein, nein Sie haben ja recht. Wir müssen reden. Aber nicht über meine verkorkste Kindheit, sondern über mein Hemd. Als Fachfrau haben Sie sicherlich bemerkt, dass es teuer war!” Sie nickt betreten. “Ja. A-aber, w-wenn ich es Ihnen jetzt sofort ersetzen soll, dann … dann sprengt das meine Urlaubskasse.” “Und das interessiert mich, weil …?” fährt er sie an. Erschrocken zuckt sie zurück. Er bemerkt es und entschuldigt sie rasch, “Entschuldigung! So meinte ich es gar nicht. Natürlich können Sie es mir irgendwann ersetzen.” Er steht wieder auf und beginnt im Zimmer auf und ab zu gehen. “Sie können es aber auch bleiben lassen. Es stört mich nicht.” Anthea tut es ihm nach und steht auf. Mutig stellt sie sich ihm in den Weg und erklärt mit fester Stimme, “Selbstverständlich ersetze ich es Ihnen. Es wäre aber freundlich von Ihnen, wenn das bis zu meiner Heimreise warten könnte. Dann schicke ich es Ihnen.” “Aus Papas Fundus?” lacht er bitter. Sie schluckt. “Ähm, ja, in der Tat.” holt tief Luft und fährt fort, “Dann bräuchte ich nur noch Ihre Adresse.” Michaels Kopf fliegt herum. “Das geht nicht!” “Was? Warum denn nicht?” “Ich gebe nicht jedem Hinz und Kunz meine Adresse.” Jetzt reicht's aber! “Na hören Sie mal, Michael!” wehrt sie sich. Kämpferisch stemmt sie beide Hände in die Seiten. “Ich habe nicht vor, Sie zu stalken, sondern möchte nur mein Missgeschick wiedergutmachen.” Einen Augenblick mustert er sie wortlos. Plötzlich kommt Leben in ihn. Grob packt er sie am Oberarm und zieht sie zur Tür. Schwungvoll kracht diese an die Wand daneben als sie auffliegt. “Gehen Sie! Sofort!” herrscht er sie unfreundlich an. “Was?” kreischt sie schrill. “Was habe ich denn … Was ist denn los?” “Nichts. Zumindest nichts, was Sie etwas anginge.” Er schiebt sie auf den Flur hinaus und ohne ein weiteres Wort knallt die Tür ins Schloss. Unschlüssig, ob sie verwirrt sein oder weinen sollte steht Anthea im Flur und starrt auf die dunkle Mahagonitür. Dahinter ist kein Laut zu hören. Ich spielte mit Cathy Monopoly und hatte soeben ordentlich Geld von ihr abkassiert. Wieder einmal werde ich sie abzuzocken. Wie im echten Leben war Cathy einfach nicht dafür gemacht Geld zu scheffeln. Das stand mir zu. Das ist zumindest so vorgesehen, wenn es nach meinem Vater geht. Gespielt jammert sie in ihrem irischen Dialekt, "Michael, du machst mich fertig." "Es ist so wie immer, Cathy." lache ich. Mein glockenhelles Kinderlachen schallt durch den Raum. Mit einem Mal wird es von der dunklen Stimme meines Vaters unterbrochen "Michael, komm sofort her!" kommt es aus dem Erdgeschoss. Was hatte ich nun wieder angestellt? Hatte ich, wie letztens beim Frühstück, wieder einmal meine Milch verschüttet oder hatte ich vom Herumtollen im Park Grasflecken an der Hose? "Michael." hallt es erneut durchs Haus. "Ich glaube es ist besser du gehst zu ihm." meint Cathy leise und drückt meine kleine Hand. Hilfesuchend sehe ich ihr in die Augen. Sie hatte ja keine Ahnung von den ‚Erziehungsmaßnahmen‘ meines Vaters, obwohl, meine blauen Flecken sind teilweise ziemlich deutlich zu sehen. "Ich weiß, du hast Angst.", flüstert sie tonlos. Sie hat ja keine Ahnung. "Ich will nicht!" Tränen steigen mir in die Augen. "Ich will nicht! Ich habe Angst." Hilflos schüttle ich den Kopf. "Michael, Gott ist bei dir. Er ist immer da." War der fromme Rat, den sie mir geben konnte. Weiter konnte sie nichts tun, das wusste sie ebenso wie ich. "Michael, wenn du nicht sofort herkommst, wird es dir leidtun." Mittlerweile hatte sich die Stimme seines Vaters zu einem wütenden Brüllen gesteigert. Langsam erhebe ich mich, wenn ich es nicht noch schlimmer machen wollte, musste ich ihm folgeleisten. Cathys aufmunterndes Lächeln verrutscht ihr. Panik, gepaart mit Hilflosigkeit, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Langsam verlasse ich ihr Reich, die Küche und laufe den Gang entlang, die Treppe hinauf und durch das Foyer. Die Standuhr schlägt zur vollen Stunde. Mahnend, wie Michael findet. Mit jeder Stufe, die er höher steigt, werden die Beine schwerer und schwerer. Schier unendlich wünscht er sich die Treppe. Damit er nicht oben ankommen und ertragen muss, was ihn dort erwartet. Er wusste ganz genau, wo sich sein Vater befand. In seinem Schlafzimmer. Konzentriert setzt er einen Fuß direkt vor den anderen. Den Kopf gesenkt, starrt er auf die Schuhspitzen seiner dunkelblauen Lederschuhe. Näher und näher kommt die angelehnte Tür, durch deren Spalt Licht hinaus auf den Gang fällt. Als ich davor stehe, sehe ich Vater abwartend auf der Bettkante sitzen. Seine Pantoffeln sorgfältig parallel zueinander unter dem Bett, die Tagesdecke zurückgeschlagen, wartet er in auf mich. Gerade als sich meine kleine Hand auf die Klinke legt, nimmt er seine kostbare goldene Armbanduhr vom Handgelenk und legte sie neben das Glas mit seinem geliebten Whiskey auf den Nachttisch. "Komm rein und schließe die Tür!", befiehlt er ruhig. Schweigend und mit Bauchschmerzen leiste ich dem Folge. Kaum fällt die Tür ins Schloss reißt Michael die Augen auf. Vollkommen nass geschwitzt, fährt er aus dem Bett hoch. Wieder einmal, dieser Alptraum. Wieder einmal, holt ihn seine Vergangenheit ein. Und wieder einmal wird er die kommenden Stunden nur mit Jacks Hilfe überstehen können. Fahrig greift er nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch. Zitternd tippt er darauf herum, bis endlich die Nummer seines Dealers gewählt wird. Fest drückt er sich das Gerät an das verschwitzte Ohr und wartet ab. Nach dem dritten Klingelton nimmt endlich jemand ab. "Kannst du mir helfen?", stöhnt er und fährt sich mit der Hand durch das feuchte Haar. Ein paar Sekunden verstreichen, in dem Jack vielleicht überlegt, wer hier dran ist dann kommt "20 Minuten." zurück und das Gespräch wird unterbrochen. Erleichtert atmet Michael auf. Und als wäre es ein böses Omen gewesen, ist das Erste, was ich am Morgen im Büro zu hören bekomme, dass seines Vaters Anwalt ihn zu sehen wünscht. “Was ist das hier, Loreen?” fragt er die Sekretärin im Vorzimmer. Sie sieht von ihrem Bildschirm auf und erwidert, “Der Sekretär Ihres Vaters hat gestern mitgeteilt, dass er Sie heute zu treffen wünscht.” “Typisch für meinen Vater und seine Angestellten. Auf die Idee mal nachzufragen, ob der andere vielleicht auch andere Termine hat, kommen sie nicht.” denkt er grummelnd. Laut fragt er, “Hat er auch gesagt, was der Anlass ist?” Loreen zuckt die schmalen Schultern. “Nein. Nur, dass ein Tisch im `Harry's Dolce vita` zu zwölf Uhr reserviert ist.” “Verstehe.” murmelt Michael und zieht sich zurück in sein Büro. Schwungvoll fällt die gläserne Tür ins Schloss. Bis zu der Lunchverabredung waren es noch gute zwei Stunden, Zeit genug um etwas zu arbeiten. Dank Jack fühlte er sich endlich mal wieder dazu in der Lage. Pünktlich trifft er zur verabredeten Zeit im Restaurant ein. Der Anwalt wartete schon. “Mister Thompson, wie schön, dass Sie es einrichten konnten!” grüßt er freundlich und schüttelt Michaels ausgestreckte Hand. “Hatte ich eine Wahl?” kontert dieser und setzt sich. Kaum berührt sein Hintern das Stuhlpolster, kommt auch schon ein Kellner an den Tisch und bittet um die Getränkebestellung. “Wie kann ich Ihnen helfen?” fragt er weiter, kaum, dass dieser wieder verschwunden ist. “Um die Gesundheit Ihres Herrn Vaters ist es, wie Sie ja sicherlich wissen, nicht gut bestellt?” “Yeah, ich weiß.” freut er sich insgeheim. Stumm nickt er würdevoll und lässt den Advokaten fortfahren. “Und weil dies so ist, muss die Nachfolge des Verlags geklärt werden.” “Was gibt es denn da großartig abzuklären?” erwidert der Jüngere. “Ich springe doch seit jeher nach seiner Pfeife. Habe mein Leben umgekrempelt und Literatur studiert. Und ich leite den Laden doch eh schon längst. Warum will er jetzt noch was klären?” “Nun ja …” hüstelt der andere. “ ... Ihr Vater hat schon noch das Hauptbestimmungsrecht.” Michael zuckt gelangweilt die Schultern. “Und dass Sie ihr Leben, wie Sie sagen, nach den Wünschen Ihres Vaters umgekrempelt haben … nun ja, das ist ihm nicht anzulasten. Das war doch sicher Ihre freie Entscheidung.” Wenn der wüsste. “Aber da Sie jetzt schon selbst angesprochen haben …” “Was?” Der Kellner kehr zurück und serviert zwei Tassen Kaffee. “Haben Sie gewählt?” Wir nicken unisono. “Salat, bitte.” ordert der Anwalt. Michael nimmt eine Gemüselasagne und reicht die Karte dem eifrigen Kellner, der damit wieder verschwindet. “Zurück zum Thema.” beginnt er und sieht sein Gegenüber forschend an. “Wie meinten Sie das, von wegen, wo ich das Thema selbst angeschnitten habe?” Verlegen hüstelt der andere wieder. “Folgendes, Ihr … besonderer Lebensstil … nun ja, der missfällt Ihrem Vater doch sehr.” “Das ist nichts Neues. Was habe ich denn nun wieder angestellt?” “Kürzlich hat Ihr Vater Zeitung gelesen …” Mist! “Ist es wegen der Trennung?” “Trennung? Ja, genau. Wieder einmal, wie er sagte. Aber darum geht es nicht nur. Das war nur der Tropfen auf den heißen Stein, wie es so schön heißt.” “Sondern?” So langsam stieg die Neugier in Michael. “Ihr Herr Vater, ich muss und soll es Ihnen ganz unverblümt eröffnen, wird sterben.” Yeah! “Ich ahnte so etwas schon.” entgegnet Michael ungerührt. Der Anwalt nickt verständig. “Ja, und da das so ist, möchte er alles geklärt haben.” “Ich verstehe. Was ich nur nicht verstehe ist, weshalb er Sie mir auf den Hals hetzt? Hätten das nicht unsere Sekretärinnen unter sich erledigen können?” “Nun, das ist eben nicht möglich.” umschifft er den Kern dieser Unterhaltung. “Und warum nicht?” Genervt vergräbt Michael das Gesicht in den Händen. Langsam aber sicher ließ die Wirkung seiner Medikamente nach. “Ihr Vater wünscht, und stellt das auch ganz klar zur Bedingung, dass Sie ihr Leben auf die Reihe kriegen.” Bei den Worten zeichnet er mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. “Ich lebe doch.” entgegnet Michael lapidar. Zweifelnd mustert ihn der ältere. “Nun ja, die Vorstellung Ihres Vaters von einem guten Leben ist offenbar eine andere. Er wünscht, dass Sie Schluss machen mit den Drogen, mit den Frauengeschichten und ein seriöses Leben führen.” “Das fordert er?” Er nickt. “Und was, wenn ich so weiter mache?” “Sonst eben Sie keinen einzigen Cent und verlieren zudem noch Ihre Anteile am Verlag.” Entsetzt starrt Michael sein Gegenüber einige Minuten stumm an. “Was geht es ihn an, wie ich mein Leben führe?” Will er dann aber doch wissen. “Er ist Ihr Vater. Er macht sich Sorgen.” wird ihm entgegnet. Eindeutig spricht da ein Vater. Doch Michael hat für solche Floskeln nur ein müdes Schnauben übrig. “Pha, der und sich Sorgen machen? Das glaubt er doch selbst nicht.” blafft er. Die Schultern des Anwalts heben sich entschuldigend. “Ich gebe nur weiter, was mir aufgetragen wurde. Und mahne, dass wenn Sie sich nicht ändern, eben folgende Gegebenheiten eintreffen.” “Was soll denn dann aus dem Verlag werden? Mutter hat doch sicherlich kein Interesse bekundet.” “Nein. Da vermuten Sie ganz richtig.” lacht der andere. “Sie erbt ihren Pflichtteil und alles andere, die Immobilien, Kunstobjekte, Fahrzeuge und der Erlös aus dem Verkauf des Verlags geht an eine Stiftung zum Erhalt britischer Bibliotheken.” “Er vererbt lieber wildfremden alles als seinem eigenen Sohn?” staunt er entsetzt und fällt fast vom Stuhl als der andere zustimmend nickt. Michael zwingt sich mehrere Male tief durchzuatmen, ehe er fortfährt, “Und was genau stellt sich mein Vater vor, was ich ändern soll? Wie sieht ein gut bürgerliches Leben seiner Meinung nach aus?” “Sie sind jetzt 43 Jahre alt, nicht? Sie sollten sich eine Frau suchen, heiraten und eine Familie gründen. Ihr Vater wünscht sich Enkel.” “Ich denke, er ist todkrank?” brummt Michael. “Das ist wahr. Aber die Mediziner sind sich uneins. Einerseits sagt man, er habe nur noch wenige Monate, andere sagen, er hat noch Jahre zu leben.” “Ich verstehe.” murmelt er. “Frau und Kinder also. Wünscht er auch ein blutiges Bettlaken als Beweis der Ehedurchführung oder reicht die Eheurkunde?” “Sie brauchen das jetzt nichts ins Lächerliche zu ziehen!” wird er gerügt. “Ihrem Vater ist es ernst. Sie sollen ihr Leben in den Griff kriegen. Gesund werden.” Jetzt wird Michael hellhörig. Gesund werden. Wusste sein Vater von den Drogen? “G-gesund werden?” stammelt er leise. Der Anwalt nickt. “Genau. Er ist es leid Ihnen dabei zusehen zu müssen, wie Sie körperlich mehr und mehr abbauen, wie er sagt. Er sorgt sich, dass Sie noch eher unter die Erde kommen als er selbst.” Das war deutlich. Entsetzt greift sich Michael an die Brust. Hat sich sein Herz schon immer so auffällig verkrampft? “A-aber ich … ich … nehme doch …” Wissend zieht der andere die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. “Wir wissen sehr genau wie es um Sie steht, Mister Thompson.” “Wie-wieso? Woher denn?” “Ihr Vater lässt Sie bereits seit Jahren … na ja, beschatten.” “Er lässt WAS?” schreit er. “Beruhigen Sie sich!” beschwichtigt Anwalt Bloomberg. “Das zeigt doch nur, dass es Ihrem Vater ernst ist.” “Meinen Sie? Ich nenne das Kontrolle.” blafft Michael beleidigt. “Wie auch immer. Ihr Vater setzt Ihnen eine Frist …” “WAS? Eine Frist für den ganzen Bullshit gibt's auch noch?” schreit Michael. “Mister Thompson, bitte.” Beschwichtigend bedeutet er ihm sich zu beruhigen. “In der Tat, es gibt eine Frist. Eigentlich war diese auf ein Jahr angesetzt. …” “Ein Jahr?” Der Anwalt übergeht die erneute Unterbrechung. “Ich habe ihn jedoch davon überzeugen können, dass ein solches Vorhaben beinahe unmöglich in nur zwölf Monaten umzusetzen ist.” Michael sieht sich dazu befleißigt, ein gemurmeltes “Danke.” auszustoßen. “Danken Sie mir nicht.” Gnädig nickt er ihm zu. “Handeln Sie, Michael! Begeben Sie sich in eine Entzugsklinik, finden und heiraten Sie ein tolles Mädel und gründen Sie schnellstmöglich eine Familie!” “Wenn es weiter nichts ist.” brummt er. “Sind Sie verheiratet?” “Ja.” “Und waren Sie drogenabhängig als Sie sie kennenlernten?” “Selbstverständlich nicht. Ich rauche nicht einmal.” “Sehen Sie.” erwidert Michael entmutigt. “Wie soll ich es da schaffen? Wissen Sie, wie lange ein Entzug dauert?” “Nein.” Entschuldigend hebt sein Gegenüber die Schultern. “Ich auch nicht.” gibt er zu. “ Aber ich weiß, dass man währenddessen ebenso scheiße aussieht wie man sich fühlt. Welche Frau, frage ich Sie, gibt sich mit so etwas ab?” Das kann ihm der Anwalt auch nicht sagen. Muss er auch nicht, denn in diesem Moment wird ihr Essen serviert.
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