Kapitel 1

2015 Worte
Paiges Perspektive An dem Tag, an dem ich meine Eltern beerdigte, hielt ich meinen neugeborenen Sohn in den Armen und meine jugendliche Schwester klammerte sich an meine Seite. In jenem Moment versprach ich ihr etwas: Wir würden überleben, egal zu welchem Preis. „Es tut mir leid, Paige, aber ich kann nichts tun. Jaxon hat dafür gesorgt, dass ein anderes Kind ins Krankenhaus musste. Gemäß der Schulrichtlinien haben wir keine andere Wahl, als ihn dauerhaft vom Unterricht auszuschließen“, erklärt Frau Bailey, die Schulleiterin meines Sohnes. „Das war doch eindeutig ein Unfall. Jaxon würde niemals absichtlich jemanden verletzen, schon gar nicht seinen besten Freund“, verteidige ich meinen Sohn. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie ein so junges Kind von der Schule werfen wollen. „Ich bin mir sicher, dass er ihn nicht in diesem Maße verletzen wollte. Aber Tatsache ist, dass er es getan hat. Ich muss eben auch das Wohl unserer anderen Schüler berücksichtigen. Das bedeutet, dass wir ihn nicht länger an dieser Schule unterbringen können. Ich werde aber eine Empfehlung schreiben, damit er an einer Schule in Betracht gezogen wird, die besser mit seinem Verhalten umgehen kann“, erklärt Frau Bailey mir mit einem mitfühlenden Lächeln. „Also geben Sie ihn einfach auf?“, frage ich, während sich ein Gefühl von Angst und Wut in meinem Magen breitmacht. „Nein, überhaupt nicht. Wir denken nur …“ „Vergessen Sie es! Ihre Empfehlung können Sie behalten! Wir brauchen nichts von Ihnen“, schnappe ich, bevor ich aufstehe und wütend aus dem Büro der Schulleiterin rausche. Mein Sohn wartet bereits draußen auf mich und sein kleines Gesicht erhellt sich, als er mich sieht. „Komm, Jax! Lass uns nach Hause gehen!“ Ich lächle ihn an und lasse ihn nicht erkennen, wie wütend ich gerade bin, während ich ihm meine Hand hinhalte. Jaxon legt seine kleine Hand in meine, dreht sich um und winkt seiner Schulleiterin unschuldig zum Abschied, während wir zu meinem Auto gehen. „Es tut mir leid, Mami“, sagt Jaxon, während ich meinen Kopf auf das Lenkrad lege, tief durchatme und versuche, meine Tränen zurückzuhalten. Jax ist erst sechs Jahre alt. Er sollte mich nicht weinen sehen müssen. Er ist ein süßer Junge, sehr liebevoll und wirklich klug. Aber in letzter Zeit hat er diese übermäßige Kraft in sich, die er nicht kontrollieren kann. Es bricht mir das Herz, zu sehen, dass er damit so sehr zu kämpfen hat. „Es ist okay, Schatz. Alles wird gut“, versichere ich ihm, während ich mein Gesicht zu einem Lächeln forme und ihn im Rückspiegel anschaue. „Ich werde mich morgen bei Robbie entschuldigen. Ich verspreche es“, sagt er und sieht mich mit seinen großen blauen Augen an, die so harmlos wirken. Wie soll ich ihm nur sagen, dass die Schule ihn dauerhaft ausgeschlossen hat und dass er nicht zu seinen Freunden zurückkehren darf? Oder dass es pures Glück wäre, wenn Robbies Eltern nicht die Polizei rufen werden? „Ich denke, eine kleine Auszeit wäre jetzt erstmal das Beste. Aber vielleicht könntest du Robbie ein schönes Bild malen. Wir können es dann am Wochenende zu ihm nach Hause bringen. Wie klingt das?“, frage ich, während ich den Motor starte und vom Parkplatz der Schule fahre. „Okay, ich werde ihm einen riesigen Roboter mit Laseraugen malen. Robbie liebt Roboter!“, ruft Jax aufgeregt, bevor er den Rest der Fahrt nach Hause wie ein Roboter agiert. Ich halte vor unserem Haus und sehe Gregs Auto in der Einfahrt. Er muss heute früher von der Arbeit gekommen sein. Der Gedanke daran, ihm zu erzählen, dass Jaxon vom Unterricht ausgeschlossen wurde, erfüllt mich mit Angst. Wir sind jetzt seit zwei Jahren verheiratet und er war die meiste Zeit ein guter Stiefvater für Jax, aber er kann manchmal auch sehr streng sein, was mich allerdings extrem stört. Ich habe bereits versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Aber er sagt dann immer, er versucht nur sicherzustellen, dass Jaxon nicht wie sein Vater wird. Ich denke aber, dass er einfach eine wachsende Abneigung gegen meinen Sohn entwickelt hat. „Können wir heute Abend Pizza essen, Mami? Das mag Greg am liebsten“, sagt Jax, während wir ins Haus gehen. Ich bleibe im Eingangsbereich stehen und lausche, wo Greg ist. Dann höre ich die Dusche oben. „Pizza klingt gut“, nicke ich. „Wie wäre es, wenn du in dein Zimmer gehst und das Bild für Robbie malst? Ich rufe dich, wenn das Abendessen fertig ist.“ Jaxon rennt aufgeregt die Treppe hinauf und ich gehe in die Küche und hole eine Pizza aus dem Gefrierschrank, um sie in den Ofen zu schieben. Dann piept mein Handy mit einer Textnachricht, gerade als ich den Timer am Ofen einstelle. Die Nachricht ist von Jaxons Pfadfindergruppenleiter, der mir mitteilt, dass er aufgrund des Vorfalls in der Schule und der Bedenken anderer Eltern nicht mehr Teil der Gruppe sein darf. In dieser Stadt verbreiten sich Nachrichten wirklich schnell. Wie kann sich die ganze Stadt so leicht gegen einen sechsjährigen Jungen wenden? Ja, es war falsch von ihm, seinen Freund zu schubsen, als dieser ihm ein Spielzeug wegnehmen wollte. Aber er konnte ja auch nicht wissen, dass Robbie sich den Kopf stoßen und genäht werden müsste. Kinder in seinem Alter stoßen und schubsen sich ständig gegenseitig. Jax ist einfach sehr stark für sein Alter. Das bedeutet nicht, dass er ein bösartiges Kind ist. „Ich gehe aus“, sagt Greg, als er an der Küche vorbeigeht, ohne mich wie sonst mit einem Kuss zu begrüßen. Ich habe bereits gemerkt, dass er sich in letzter Zeit von mir zurückzieht. „Wohin gehst du denn? Ich mache gerade Pizza und hatte gehofft, dass wir vor dem Abendessen reden könnten“, rufe ich ihm nach. „Ich treffe mich mit ein paar Freunden. Wir essen unterwegs. Warte nicht auf mich!“, ruft er, während er die Haustür öffnet. „Warte, Greg! Ich muss wirklich mit dir über …“ „Sie haben Jaxon von der Schule geschmissen“, unterbricht Greg mich. „Ich weiß es schon und es überrascht mich nicht. Ich habe dir schon immer gesagt, dass er genauso bösartig wie sein Vater werden wird.“ Die Haustür schließt sich hinter meinem Mann, bevor ich überhaupt die Chance bekomme, ihm zu antworten. Woher weiß er das? Hat die Schule ihn angerufen? Ich verstehe auch nicht, warum er Ryder so hasst. Er hat ihn schließlich nie getroffen und weiß nur das über ihn, was andere ihm erzählt haben. Es stimmt, dass Ryder damals kein Engel war, aber er war auch nicht so schlimm, wie Greg ihn immer darstellt. Er war damals bei Pflegeeltern untergebracht. Seine Pflegefamilie war allerdings keine gute Wahl für ihn und er wurde in der Schule schrecklich gemobbt. Als wir dann auf die Uni gingen, geriet er oft in Streit mit unseren Kommilitonen. Aber zu mir war er immer nett. Obwohl er immer Interesse zeigte, fühlte ich mich nie von ihm unter Druck gesetzt, mit ihm s*x zu haben. Ich entschied dann am Vorabend seines achtzehnten Geburtstags, dass es an der Zeit war, mit ihm zu schlafen. Unsere Geburtstage lagen nur zwei Tage auseinander, aber er neckte mich oft und sagte, dass er anscheinend auf ältere Frauen stehen würde, weil ich ganze zwei Tage älter war als er. Am Tag nach unserem unbeholfenen Tête-à-Tête in einem Zelt wachte ich allein auf. Er war einfach verschwunden. Sein Handy war abgeschaltet und er kehrte auch nie wieder an die Uni zurück. Ich bin dann sogar ein paar Mal zu ihm nach Hause gefahren, aber es machte mir niemand die Tür auf. Als ich sechs Wochen später erfuhr, dass ich von ihm schwanger war, wurde ich fast besessen davon, ihn zu finden. Ein Nachbar hatte schließlich Mitleid mit mir und informierte mich, dass die Familie überstürzt gepackt hatte und dann weggezogen war. Es war so schwer zu glauben und es dauerte fast zwei Jahre, bis ich es akzeptieren konnte. Ich konnte nicht glauben, dass mein Ryder mir so etwas angetan hatte. Wir waren verliebt, also warum verließ er mich einfach ohne ein Wort mitten in der Nacht? Nach dem Abendessen, als Jax bereits im Bett, aber Greg immer noch nicht zurückgekehrt ist, gehe ich nach oben, um zu duschen. Während ich mich ausziehe und meine schmutzige Kleidung in den Wäschekorb lege, fällt mir etwas auf, das aufleuchtet. Es ist Gregs Arbeitshandy, das aus seiner Hosentasche ragt. Er hat Glück, dass ich es gesehen habe, bevor ich die Kleidung in die Waschmaschine gesteckt habe. Ich lege das Handy auf die Badezimmerablage und dusche, um den Stress des Tages abzuwaschen. Morgen muss ich eine neue Schule für Jax finden, aber heute Abend brauche ich Entspannung mit einem guten Buch und einer Tasse Kamillentee. Ich höre Gregs Handy trotz des Wasserrauschens vibrieren und es fängt an, mich ein wenig zu nerven. Wer kontaktiert ihn ununterbrochen so spät nach Feierabend? Er arbeitet in einem Sportgeschäft. Niemand sollte ihn so spät am Abend noch brauchen. Weil sein Handy immer noch unaufhörlich vibriert, stelle ich mit einem Seufzen die Dusche ab, um das Handy auszuschalten. Aber als ich die Nachrichten auf dem Bildschirm sehe, spüre ich einen Stich in meinem Herzen. Jemand namens Leanne hat ihm mehrere Nachrichten geschickt. Obwohl ich nur die erste Zeile jeder Nachricht sehen kann, ist der Kontext ziemlich leicht zu verstehen. Leanne: „Ich vermisse dich.“ Leanne: „Hast du es ihr schon gesagt?“ Leanne: „Danke für den schönen Tag heute. Ich liebe dich so sehr.“ Ich lasse das Handy fallen, denn ich bin unfähig, noch mehr zu lesen. Mein Mann betrügt mich! Ein Schluchzen entweicht mir, als ich spüre, wie meine ganze Welt um mich herum zusammenbricht. Ich weiß, dass in letzter Zeit nicht alles perfekt war, aber wie konnte er das nur tun? Warum bin ich für ihn nicht mehr genug? Warum verlassen mich die Menschen, die ich liebe, immer? Ich wickele ein Handtuch um meinen Körper und eile ins Schlafzimmer, um die einzige Person anzurufen, auf die ich mich immer verlassen kann. Meine Schwester, Poppy. Sie ist kürzlich weggezogen, um auf die Universität zu gehen. Sie studiert Veterinärmedizin und ich könnte nicht stolzer auf sie sein. Poppy nimmt meinen Anruf beim ersten Klingeln entgegen und hört mir dann zu, während ich ihr mein Herz ausschütte. Ich erzähle ihr, was in Jaxons Schule passiert ist und auch von der Nachricht seines Pfadfindergruppenleiters. Und dann erzähle ich ihr, was Greg getan hat. „Paige, du musst aus dieser Stadt raus! Nicht weit von meiner Universität entfernt ist ein kleines Haus zu vermieten. Ich habe es mir heute angesehen, aber die Busverbindung ist nicht wirklich gut. Es ist einfach zu weit von der Uni entfernt, um ohne Auto täglich zu pendeln. Es ist aber ein süßes kleines Haus mit zwei Schlafzimmern. Und es ist bereits komplett möbliert. Die Stadt wirkt auch irgendwie heimelig und einladend. Also, pack deine Sachen und fang mit mir am anderen Ende des Landes ein neues Leben an! Dort, wo du jetzt bist, hält dich doch nichts mehr“, schlägt Poppy vor. „Aber was ist, wenn …“ „Er ist es nicht wert, Paige! Gib ihm keine zweite Chance!“, unterbricht Poppy mich rigoros. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Sie hat recht. In dieser Stadt hält mich wirklich nichts mehr. Poppy ist weggezogen, meine Eltern sind tot, Jaxon hat keine Schule mehr, Greg verlässt mich für eine andere Frau und ich habe bereits vor langer Zeit akzeptiert, dass Ryder nicht zu mir zurückkommen wird. Warum soll ich also an einem Ort bleiben, der mehr schlechte Erinnerungen als gute birgt? In eine neue Stadt zu ziehen, wäre auch nicht allzu schwierig. Als Redakteurin kann ich von jedem Ort aus arbeiten und da Jaxon hier keine Schule mehr hat, gibt es wirklich keinen Grund mehr, noch hierzubleiben. Poppy hat recht. Ein Neuanfang an einem neuen Ort ist genau das, was wir jetzt brauchen. „Okay, Poppy. Dann schick mir die Details des Hauses!“
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