Kapitel Acht
Selenes Sicht
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als Ronan das sagte.
Die Wache wurde mit demselben Gift vergiftet wie ich.
Wer auch immer es getan hat, war näher, als ich dachte. Der Raum wirkte enger, und mein Herz hämmerte heftig in meiner Brust.
„Wenn er mit demselben Gift vergiftet wurde“, fuhr Ronan fort, „dann bedeutet das nur eines.“
„Was denn?“, fragte ich flüsternd.
„Das Gift ist noch nicht aus diesem Raum“, sagte Ronan, und seine Augen verrieten seine Vorwürfe.
Mein Brustkorb hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Es fühlte sich an, als würden die Wände sich um mich herum zusammenziehen.
Meine Brust schnürte sich zusammen, und mir stockte der Atem. Ich fühlte mich wie erstickt.
Ich rang nach Luft und hyperventilierte.
Ich hörte meinen Herzschlag in den Ohren, schnell, laut und schmerzhaft.
Ein erstickter Laut entfuhr mir, während ich nach Luft rang.
Ronans Gesichtsausdruck wechselte von Feindseligkeit zu Besorgnis.
„Selene?“, rief er.
Ich konnte nicht antworten.
Ich krallte mich in die Bettdecke, bis meine Knöchel weiß wurden.
Ich bekam keine Luft.
Ich brauchte Luft.
Draven kam in diesem Moment herein und bemerkte meinen Zustand.
Er eilte zu mir und packte meine Schultern.
„Sieh mich an“, sagte er mit sanfter Stimme.
„Selene, sieh mich an“, wiederholte er.
Ich versuchte es, aber meine Sicht verschwamm.
„Du hyperventilierst“, sagte er schnell. „Langsam atmen, durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen“, wies er mich an.
„Alles gut“, flüsterte Draven, „du bist in Sicherheit.“
Er hielt mich fest.
Meine Atmung beruhigte sich und meine Brust entspannte sich.
Ronan stand da und beobachtete mich mit zusammengebissenen Zähnen.
Draven legte mich aufs Bett und ich schloss die Augen.
„Was ist los mit dir?“, fuhr Draven mich an.
„Sie hat die Wache vergiftet“, erwiderte Ronan.
„Das ist lächerlich, Ronan. Sie ist schon den ganzen Tag hier drin“, unterbrach Draven ihn scharf.
Bevor Ronan antworten konnte, hallten mehrere Schritte durch den Flur des Krankenflügels.
Sie blieben direkt vor dem Zimmer stehen.
Die Tür öffnete sich.
„Was ist hier los?“, fragte eine kalte, vertraute Stimme.
Lyra
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen.
Sie stand völlig gefasst da.
„Warum ist sie nicht in Gewahrsam?“, fragte sie Ronan.
„Sie braucht Ruhe“, murmelte Draven.
Lyras Blick verhärtete sich, als sie sich zu Draven umdrehte.
„Vergiss nicht, Heiler, ich bin die Luna.“
Draven senkte den Kopf.
„Ich bitte um Verzeihung.“
Sie trat vor und blieb direkt neben meinem Bett stehen.
„Du hinterlistiges Ding“, höhnte sie, „du wurdest erwischt. Als ob der Versuch, den Alpha zu vergiften, nicht schon genug gewesen wäre, bringst du jetzt auch noch die Wache um, die dich bewachen sollte?“
„Ich war’s nicht“, sagte ich mit schwacher, aber fester Stimme.
„Damon hätte dich niemals am Leben lassen dürfen“, murmelte sie leise.
„Wachen!“, zischte sie, und zwei uniformierte Soldaten marschierten in den Raum.
„Bringt sie in den Kerker!“
„Was?“, keuchte ich. „Ich habe nichts falsch gemacht.“
Die Soldaten packten meine Arme.
Ich versuchte, mich zu wehren, aber ihr Griff war zu stark und ich zu schwach.
Endlich zogen sie mich vom Bett, meine Beine gaben nach und ich brach auf dem Boden zusammen.
Tränen rannen mir über die Wangen.
Lyra kauerte neben mir.
„Du ahnst nicht, welche Schmerzen und welche Folter dich erwarten“, flüsterte sie.
Die Tür wurde aufgerissen.
Damon stand im Türrahmen, seine Augen verdunkelten sich vor Wildheit.
Er blickte von mir am Boden zu Lyra.
Wut loderte in seinen Augen.
„Was ist hier los?“, fragte er mit gefährlich leiser Stimme.
Alle verbeugten sich sofort.
„Geht“, murmelte Lyra den Soldaten zu.
Die Tür schloss sich hinter ihnen.
„Was ist hier los?“, wiederholte Damon mit einer Stimme, die Metall durchschneiden konnte.
„Ich habe verlangt, dass sie zum Verhör hereingebracht wird“, antwortete Lyra. Ihre Stimme zitterte, doch sie versuchte, sie zu fassen.
Damon bewegte sich wortlos. Er beugte sich vor, schob eine Hand unter meine Knie und die andere hinter meine Schultern.
Mühelos hob er mich hoch und legte mich aufs Bett.
Lyras Blick sauste auf mich zu.
„Warum befragt ihr sie?“, fragte Damon.
„Die Wache vor ihrem Zimmer ist gestorben“, sagte Ronan. „Dieselbe Symptomatik wie bei ihr.“
„Stimmt das?“, fragte Damon und wandte sich an Draven.
„Ja, Alpha.“
„Hat sie heute das Zimmer verlassen?“
„Nein, Alpha.“
„Du kannst gehen“, sagte Damon, und Draven ging.
„Warum befragt ihr sie dann?“, fragte Damon.
„Wir vermuten, dass sie es getan hat“, zischte Lyra.
„Sie ist nicht vor die Tür gegangen. Die Wache kam nicht herein. Wie genau hat sie es getan?“ Damon fragte:
Lyra stammelte: „Ähm …“
„Hast du die Aufnahmen der Überwachungskameras überprüft?“, fügte Damon hinzu.
„Nein, noch nicht“, antwortete Ronan und eilte aus dem Zimmer.
Lyra schnaubte: „Wir haben zwar keine handfesten Beweise, aber die Vergiftungen begannen, nachdem sie zu Nightshade gekommen war. Also muss das alles irgendwie mit ihr zusammenhängen.“
Damon schwieg einen Moment lang.
Dann seufzte er.
„Du hast recht, Lyra.“
Ronan kam mit einem Tablet in der Hand zurück. Er reichte es Damon.
Ich sah, wie sich sein Gesichtsausdruck von Schock zu Wut wandelte.
Er funkelte Lyra an und drückte ihr das Tablet in die Hand.
Ihr Gesicht wurde kreidebleich.
„Was ist das?“ Ich flüsterte.
Lyra zögerte, dann legte sie mir das Tablet auf den Schoß.
Eine Videoaufnahme wurde abgespielt.
Ein maskierter Mann kam auf mein Zimmer zu, wurde aber von der Wache aufgehalten.
Der Mann behauptete, er habe auf Dravens Befehl ein Getränk gebracht.
Die Wache verweigerte ihm den Zutritt, nahm ihm aber das Getränk ab.
Der Mann ging.
Die Wache trank es.
Sekunden später brach er zusammen, erbrach Blut und krampfte.
Ich blinzelte, Tränen strömten mir unkontrolliert über die Wangen.
Das Gift war für mich bestimmt.
Lyra riss mir das Tablet aus der Hand.
„Es tut mir leid, Alpha“, sagte Ronan. „Ich hätte besser nachforschen sollen, bevor ich handelte.“
Ich saß schweigend auf dem Bett.
Die Videoaufnahme zeigte die Wahrheit.
Das Gift war Vermillion Ruin.
Es gab keinen Zweifel.
Jemand von Crescent war Hier.
Jemand versuchte immer noch, mich umzubringen.
Damon sprach endlich:
„Es ist klar, dass sie das Ziel war.
Von nun an steht sie unter meinem Schutz.“
„Ronan, finde heraus, wer der maskierte Mann ist, und bring ihn zu mir.“
„Ja, Alpha.“ Er verbeugte sich und eilte aus dem Zimmer.
Damon wandte sich mir zu, sein Blick wurde etwas weicher.
„Ich bringe dich zu mir nach Hause“, sagte er.
Bevor ich protestieren konnte, hob er mich wieder hoch und wandte sich der Tür zu.
Lyra stellte sich vor ihn und versperrte ihm den Weg.
„Was tust du da?“, zischte sie.
„Ich bin dir nicht gehorsam“, sagte Damon.
Er ging an ihr vorbei, als wäre sie nicht da.
Raus aus dem Krankenflügel.
Hinaus in die Nacht.
Alpha Damon trug mich in seinen Armen.