DREI
AUSLASSEN
Bighorn Mountains, Buffalo, Wyoming
Samstag, 5. März 1977, 11:20 Uhr
Trish
»Wirst du, also, überhaupt versuchen, Ski zu fahren?« Brandon Lewis zog an einem von Trishs langen blonden Flechtzöpfen.
Trish neigte ihren Kopf und schaute ihn unter ihren Wimpern hervor an. Sie saß auf der Bank an einem Picknicktisch draußen auf der Terrasse, ihm zugewandt. Die Almhütte blockierte den Wind. Menschen liefen mit ihren Jacken in der strahlenden Sonne umher. Sie konnte sich fast vorstellen, dass sie und Brandon in ihren Flitterwochen an einem schicken europäischen Skiort waren, solange sie den Aufzug der Menschen um sich herum nicht zu genau anschaute, der hauptsächlich aus Bluejeans und Carhartt bestand.
»Nicht ohne dich«, sagte sie.
»Ich kann nicht Ski fahren. Die Endspiele sind echt wichtig für mich, weißt du?«
»Ist okay. Ich habe Spaß.« Sie hob ihre Tasse heiße Schokolade an ihren Mund.
Die Staatsendspiele des Basketballturniers waren nächstes Wochenende in Laramie, und Brandon war ein Forward in der Startaufstellung im Jungenteam von Buffalo. Er wollte auf die University of Wyoming, aber er brauchte wirklich das Geld eines Stipendiums. Es war wichtig, dass er in Laramie vor dem Trainerstab der Cowboys gut spielte. Das Jungenteam hatte die Staatlichen erst vor ein paar Jahren auch zweimal hintereinander gewonnen, also waren sie entschlossen, ihren Titel zurückzuholen, selbst wenn es bedeutete, Wintersport aufzugeben. Er konnte keine Verletzung auf den Skipisten riskieren.
Die Mädchen verteidigten auch ihren eigenen Staatstitel. Trish hätte sehr gerne gespielt, aber sie schmachtete im zweiten Team der Junior-Schulauswahl. Coach Lamkin schien die meiste Zeit nicht einmal zu wissen, dass sie lebte. Die Fantastilliarde an Horse-Spielen, die Trish mit ihrem Dad gespielt hatte, schienen sich nicht auszuzahlen, obwohl mit ihm zu joggen dies getan hat – sie hielt bei Konditionsübungen immer am längsten durch. Und Kondition war wichtig, da jetzt alle Spiele der Mädchen wie bei den Jungs auf dem vollen Feld stattfanden.
Trish beaugapfelte ihren festen Freund. Sie liebte es, ihm beim Basketball spielen zuzuschauen. Sie liebte es, ihm bei wirklich allem zuzuschauen. Er hatte lockiges blondes Haar, das hinten fast seine Schultern berührte. Er war groß und hatte kein Gramm Fett an seinem Körper, dafür aber nette Muskeln an seinen Armen und Schultern. Als sie ihn im letzten Sommer im Stadtbad in Badehosen gesehen hatte, bevor sie ausgingen, war sie von seinem Waschbrettbrauch gebannt gewesen. Sie konnte nicht glauben, wie viel Glück sie hatte, mit einem solch heißen Typen auszugehen.
Sie hatten vor Weihnachten eine Weile lang Schluss gemacht. Und er war sogar mit ihrer Erzrivalin Charla Newby ausgegangen. Aber nur ein Mal. Trish hatte ihn angerufen und ihm gesagt, dass sie ihn vermisste, und sie waren wieder zusammengekommen. Die Dinge waren jedoch nicht ganz so wie zuvor. Er hat sie für den Anfang versprechen lassen, dass sie ihn nicht herumkommandieren und vor seinen Freunden blamieren würde. Das war kein Problem. Sie konnte zugeben, dass sie zuvor nicht die einfachste Freundin gewesen war und sie wäre über Glas gelaufen, um ihn zurückzubekommen. Er war außerdem ein wenig gestresster, da er so hart auf ein Stipendium zuarbeitete, und gelegentlich machte ihn das weniger geduldig mit ihr. Aber er war ihr Seelenverwandter, der Junge, den sie heiraten würde, und sie war bereit, für ihre Beziehung zu arbeiten. Er hatte ihr seine Sportjacke, die Letter Jacket, die nur Mitglieder der ersten Schulmannschaft bekamen, und seinen Absolventenring gegeben. Das bedeutete etwas, oder? Sie behielt sie allerdings in ihrem Spind in der Schule – ein Geheimnis vor ihrer aller überbehütenden Eltern.
Und die Eltern waren ihr Hauptproblem, besonders Brandons Mom. Mrs. Lewis gab Trishs Familie die Schuld, dass ihr Bruder für Mord vor Gericht stand, und sie würde ihnen sogar noch mehr die Schuld geben, falls er verurteilt wurde, weil Trish und ihre Mom Schlüsselzeugen bei diesem Prozess gegen ihn waren. Es war Brandon nicht erlaubt, sie außerhalb der Schule zu sehen, obwohl sie beide das nicht aufhielt. Sie fanden Wege, um zusammen zu sein. Wie sie es heute getan hatten.
Trish und Brandon vermieden es, über seine Verwandten oder den Prozess zu sprechen. Es war besser so.
Ein kleiner, schlanker Mann in einem glänzenden grauen Geschäftsanzug ging an ihrem Tisch vorbei. Er rutschte aus und fing sich an Brandons Schulter. »Entschuldigung«, sagte er.
Brandon nickte. »Alles cool, Mann.«
Trish schaute auf die Füße des Mannes herunter. Er trug schmale Loafer zum Schnüren mit glatten Sohlen. Nicht das richtige Schuhwerk für vereiste Terrassen an Schneehütten.
Eine weitere Stimme zog ihre Aufmerksamkeit weg von ihm. »Trish Flint, bist du das?«
Vangie Sibley hatte einen starken Tennessee-Akzent, also war ihre Stimme ziemlich leicht zu erkennen. Trish wandte sich ihr zu. Vangie und ihre Mom waren im Grunde beste Freundinnen. Trish hatte Vangie seit einer Weile nicht gesehen und konnte nicht glauben, wie sehr ihr Bauch gewachsen war. Sie war so schwanger, dass es aussah, als wäre ihr Bauch kurz vor dem Explodieren. »O wow, Mrs. Sibley, Sie sehen …«
»Aus, als würde ich eine Wassermelone unter meinem Oberteil verstecken?«
Trishs Wangen wurden heiß. »Tut mir leid. Ich habe nicht, ich schätze, ähm, ich meine, Sie sehen großartig aus.« Und das tat sie. Ihre dunklen Augen funkelten und ihr schwarzes Haar sah in dem Kurzhaarschnitt supersüß aus. Sie sah beinahe jung genug aus, um eine Schülerin an der Buffalo High zu sein, aber sie war alt. Wahrscheinlich fast 30. »Wann kommt Ihr Baby?«
»Hank wird in wenigen Wochen zu uns stoßen. Oder jederzeit, wann auch immer ihm jetzt danach ist, schätze ich.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?«
Sie lächelte. »Ich habe nur so ein Gefühl.« Sie zwinkerte, wandte sich dann Brandon zu. Als Lehrerin an der Buffalo Grundschule hatte sie alle Kinder in der Stadt unterrichtet. »Hallo Brandon. Viel Glück beim Staatsturnier nächste Woche.«
Er zuckte mit den Schultern. »Danke, Mrs. Sibley.«
Trish blickte gerade rechtzeitig auf die Skipiste, um zu sehen, wie ein Mann eine ganze Reihe Leute plattmachte und niederschlug.
Brandon pfiff. »Oha. Das war irre.«
Trish spähte genauer hin, runzelte die Stirn, und erkannte eine Flanelljacke und dünner werdendes braunes Haar. »Ach du meine Güte. Das war mein Dad.« Dann lachte sie. »Mann, ich wette, das ist ihm peinlich. Ich hoffe, er hat niemandem wehgetan.«
Mrs. Sibley schirmte ihre Augen ab und stand auf ihre Zehenspitzen. »Einer der Leute, die er niedergeschlagen hat, könnte Richter Renkin sein. Das da an der Seite ist seine Frau, die sich etwas von der Jacke wegwischt.«
»Kaffee«, sagte Brandon. »Sie hält noch den Becher.«
Ein lauter Knall erklang, hallte dann über den See. Brandon und Trish sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ein Gewehr«, sagte er. »Ein Großes.«
»Es ist keine Jagdsaison«, sinnierte Mrs. Sibley.
Trish schaute sich um. Wo hätte der Schuss herkommen können?
Dann schrie eine Person, kurz danach gefolgt von einer weiteren, und noch einer.
»O mein Gott.« Mrs. Sibleys Hand flog, um ihren Mund zu bedecken.
»Was ist denn?«, fragte Trish.
»Jemand unten am Hang ist angeschossen worden.«
Trish verrenkte ihren Hals in Richtung des unteren Teils der Piste. Leute standen da und deuteten, blockierten ihr Sichtfeld. Sie sprang auf ihre Füße. Ihr Dad. Ihr Dad war da unten.
»Daddy«, schrie sie. »Daddy.«
Und dann rannte und stolperte sie unbeholfen in ihren Skistiefeln auf den Fleck zu, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.