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Fünf Jahre zuvor im Nordkaukasus
Peter
»Papa!« Dem schrillen Aufschrei folgt das Geräusch kleiner Füße, als mein Sohn durch die Tür stürmt und seine dunklen, welligen Haare dabei um sein glühendes Gesicht fliegen.
Ich lache, als ich seinen kleinen, robusten Körper auffange, der auf mich zufliegt. »Hast du mich vermisst, Pupsik?«
»Ja!« Seine kurzen Arme umfassen meinen Hals, und ich atme tief ein, um seinen süßen, kindlichen Duft aufzusaugen. Auch wenn Pasha schon fast drei Jahre alt ist, riecht er immer noch nach Milch – nach gesundem Baby und Unschuld.
Ich drücke ihn fest an mich und spüre, wie die Eiseskälte in mir schmilzt, als sich eine weiche, strahlende Wärme in meiner Brust ausbreitet. Es ist schmerzhaft, so wie wenn man in heißes Wasser eintaucht, nachdem man gefroren hat, aber es ist ein guter Schmerz. Ich fühle mich dadurch lebendig, die Leere in mir wird gefüllt, bis ich fast glauben kann, dass ich vollständig bin und die Liebe meines Sohnes verdiene.
»Er hat dich vermisst«, sagt Tamila, als sie in den Flur kommt. Wie immer bewegt sie sich leise, fast lautlos, und hat ihre Augen auf den Boden gerichtet. Sie blickt mich nicht direkt an. Seit ihrer Kindheit ist sie dazu erzogen worden, Augenkontakt mit Männern zu vermeiden, also sehe ich nur ihre langen Wimpern, während sie nach unten schaut. Sie trägt ein traditionelles Kopftuch, das ihre langen, dunklen Haare versteckt, und ihr graues Kleid ist lang und formlos. Trotzdem sieht sie wunderschön aus – so schön wie sie vor dreieinhalb Jahren, als sie sich in mein Bett geschlichen hatte, um der Hochzeit mit einem der älteren Männer aus dem Dorf zu entfliehen.
»Und ich habe euch beide vermisst«, erwidere ich, als mein Sohn gegen meine Schultern drückt, weil er herunter möchte. Grinsend setze ich ihn auf dem Boden ab, und er ergreift augenblicklich meine Hand und zieht an ihr.
»Papa, willst du meinen LKW sehen? Willst du, Papa?«
»Das will ich«, antworte ich und grinse noch breiter, während er mich ins Wohnzimmer zieht. »Was für ein LKW ist es?«
»Ein großer!«
»Okay, dann zeig mal her.«
Tamila kommt langsam hinter uns her, und ich bemerke, dass ich noch gar nichts zu ihr gesagt habe. Ich bleibe stehen, drehe mich herum und schaue meine Frau an. »Wie geht es dir?«
Sie blickt mich kurz durch ihre Wimpern an. »Mir geht es gut. Ich freue mich, dich zu sehen.«
»Und ich freue mich, dich zu sehen.« Ich möchte sie küssen, aber ich weiß, dass es ihr peinlich ist, wenn ich es vor Pasha tue, also halte ich mich zurück. Stattdessen berühre ich sanft ihre Wange und lasse mich dann von meinem Sohn zu seinem LKW führen, den ich als denjenigen wiedererkenne, den ich ihm vor drei Wochen aus Moskau geschickt habe.
Er führt mir stolz alle Funktionen des Fahrzeugs vor, während ich neben ihm hocke und sein lebhaftes Gesicht betrachte. Er hat Tamilas dunkle, exotische Schönheit einschließlich der Wimpern, aber er hat auch etwas von mir, selbst wenn ich nicht genau sagen kann, was.
»Er hat deine Furchtlosigkeit«, sagt Tamila leise, während sie sich neben mich kniet. »Und ich denke, dass er genauso groß werden wird wie du, auch wenn man das wahrscheinlich so früh noch nicht sagen kann.«
Ich blicke sie kurz an. Sie tut das häufig, mich so gründlich zu durchschauen, dass es scheint, als könne sie meine Gedanken lesen. Andererseits ist es auch keine Kunst, zu erahnen, was ich gerade denke. Ich habe einen Vaterschaftstest gemacht, noch bevor Pasha geboren wurde.
»Papa. Papa.« Mein Sohn zieht wieder an meiner Hand. »Spiel mit mir.«
Ich lache und wende meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. In der nächsten Stunde spielen wir mit dem LKW und einem Dutzend weiterer Spielzeuge, die auch alle Autos sind. Pasha ist besessen von Spielzeugautos, angefangen von Krankenwagen bis hin zu Rennwagen. Es ist egal, wie viele andere Spielsachen er von mir bekommt, er spielt nur mit denjenigen, die Räder haben.
Nach dem Spielen essen wir Abendbrot, und Tamila badet Pasha, bevor er ins Bett geht. Ich bemerke, dass die Badewanne Risse hat, und speichere in meinem Hinterkopf ab, eine neue zu bestellen. Das kleine Dorf Daryevo liegt hoch oben im Kaukasus und ist schlecht zu erreichen, also kann ich nicht einfach in einem Geschäft bestellen. Trotzdem habe ich meine Möglichkeiten, Dinge hierherbringen zu lassen.
Als ich Tamila von meinem Vorhaben erzähle, schnellen ihre Wimpern in die Höhe, und sie schaut mir ausnahmsweise mit einem strahlenden Lächeln in die Augen. »Das wäre sehr schön, vielen Dank. Ich musste fast jeden Abend Wasser vom Boden aufwischen.«
Ich lächele zurück, und sie fährt damit fort, Pasha zu baden. Nachdem sie ihn abgetrocknet und ihm den Schlafanzug angezogen hat, trage ich ihn in sein Bett und lese ihm eine Geschichte aus seinem Lieblingsbuch vor. Er schläft fast augenblicklich ein, und ich küsse seine zarte Stirn, wobei sich mein Herz voller Gefühl zusammenzieht.
Das ist Liebe. Ich erkenne sie, auch wenn ich sie niemals zuvor gefühlt habe – auch wenn ein Mann wie ich kein Recht darauf hat, sie zu fühlen. Keines der Dinge, die ich jemals getan habe, zählt hier, in diesem kleinen Dorf in Dagestan.
Wenn ich bei meinem Sohn bin, verbrennt das Blut an meinen Händen nicht meine Seele.
Ich stehe vorsichtig auf, um Pasha nicht aufzuwecken, und verlasse den winzigen Raum, der sein Schlafzimmer ist. Tamila wartet bereits in unserem Schlafzimmer auf mich, also ziehe ich mich aus, begebe mich zu ihr ins Bett und liebe sie so zärtlich, wie ich kann.
Morgen werde ich den hässlichen Seiten dieser Welt ins Auge sehen, aber heute bin ich glücklich.
Heute kann ich lieben und geliebt werden.
»Bitte geh nicht, Papa.« Pashas Kinn zittert, als er versucht, nicht zu weinen. Tamila hat ihm vor einigen Wochen gesagt, dass große Jungs nicht weinen, und er hat alles versucht, um ein großer Junge zu sein. »Bitte, Papa. Kannst du nicht noch ein wenig bleiben?«
»Ich werde in ein paar Wochen wieder hier sein«, verspreche ich ihm und hocke mich hin, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. »Ich muss arbeiten, verstehst du das?«
»Du musst immer arbeiten.« Sein Kinn zittert stärker, und in seinen großen, braunen Augen fließen die Tränen über. »Warum kann ich nicht mit dir zur Arbeit kommen?«
Bilder der Terroristen, die ich letzte Woche gefoltert habe, steigen in meinem Kopf auf, und ich muss mich anstrengen, meine Stimme ruhig zu halten, als ich sage: »Es tut mir leid, Pashen’ka. Mein Arbeitsplatz ist kein Ort für Kinder.« Oder für Erwachsene, aber das sage ich nicht. Tamila weiß einige Dinge der Sachen, die ich als Teil der Speznas, der russischen Spezialeinheiten, tue, aber selbst sie kennt die dunkle Realität meiner Welt nicht.
»Aber ich würde mich gut benehmen.« Jetzt weint er richtig. »Ich verspreche es, Papa. Ich würde mich gut benehmen.«
»Ich weiß, dass du das würdest.« Ich ziehe ihn an mich und umarme ihn fest, während ich spüre, wie sein kleiner Körper von Schluchzern erschüttert wird. »Du bist mein guter Junge, und du musst dich bei Mama gut benehmen, während ich weg bin, okay? Du musst auf sie aufpassen, so wie das große Jungen wie du machen.«
Das scheinen die magischen Worte zu sein, weil er nur noch einmal schnieft und sich dann aufrichtet. »Das werde ich.« Der Rotz läuft aus seiner Nase, und seine Wangen sind nass, aber sein Kinn wirkt entschlossen, als er mir in die Augen blickt. »Ich werde auf Mama aufpassen, das verspreche ich dir.«
»Er ist so intelligent«, meint Tamila, die sich neben mir hinkniet, um Pasha zu umarmen. »So als sei er fast fünf und nicht erst fast drei.«
»Ich weiß.« Meine Brust schwillt voller Stolz an. »Er ist fantastisch.«
Sie lächelt mich an und blickt zu mir hoch, so dass ich wieder in ihre großen, braunen Augen schaue, die Pashas so sehr ähneln. »Pass auf dich auf und sei bald wieder zu Hause, okay?«
»Das werde ich.« Ich beuge mich nach vorn, um ihre Stirn zu küssen, und streiche danach über Pashas seidige Haare. »Ich werde zurück sein, bevor ihr bemerkt, dass ich weg bin.«
Ich bin in Grosny, Tschetschenien, und verfolge gerade die Spur einer neuen radikalen aufständischen Gruppe, als ich die Nachricht bekomme. Derjenige, der mich anruft, ist mein Boss aus Moskau, Ivan Polonsky.
»Peter.« Seine Stimme ist ungewöhnlich ernst, als ich das Gespräch annehme. »Es gab einen Zwischenfall in Daryevo.«
Mein Innerstes vereist. »Was für ein Zwischenfall?«
»Es gab eine Operation, von der wir nichts wussten. Die NATO war daran beteiligt. Und es gab ... Opfer.«
Eiseskälte breitet sich in mir aus, zerfetzt mich innerlich, und ich kann kaum die Worte, die ich sagen muss, aus meinem Hals zwingen. »Tamila und Pasha?«
»Es tut mir leid, Peter. Einige der Dorfbewohner wurden während des Kreuzfeuers getötet, und ...«, er schluckt hörbar, »die Vorberichte sagen aus, dass Tamila unter ihnen war.«
Meine Finger zerquetschen fast das Telefon. »Was ist mit Pasha?«
»Das wissen wir noch nicht. Es gab einige Explosionen und ...«
»Ich bin auf dem Weg.«
»Peter, warte ...«
Ich beende das Gespräch und eile aus der Tür.
Bitte, bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte, ich werde alles tun, lass ihn einfach nur am Leben sein.
Ich bin nie religiös gewesen, aber als der Militärhubschrauber über die Berge fliegt, erwische ich mich dabei, wie ich bete, darum bettele und flehe, ein kleines Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, eine kleine Barmherzigkeit zu erleben. Das Leben eines Kindes ist bedeutungslos für die Welt, aber für mich bedeutet es alles.
Mein Sohn ist mein Leben, der Grund dafür, dass ich existiere.
Der Lärm des Hubschraubers ist ohrenbetäubend, aber er ist nichts im Vergleich zu dem Lärm in meinem Kopf. Ich kann nicht atmen, kann wegen der Wut und der Angst, die mich innerlich ersticken, nicht denken. Ich weiß nicht, wie Tamila gestorben ist, aber ich habe genügend Leichen gesehen, um mir ihren Körper vorstellen zu können, um ganz deutlich ihre wunderschönen Augen, die jetzt ausdruckslos und blind sein müssen, und ihren schlaffen und blutverkrusteten Mund zu sehen. Und Pasha ...
Nein. Daran kann ich jetzt nicht denken. Nicht, bis ich es mit Sicherheit weiß.
Das hätte nicht passieren sollen. Daryevo liegt nicht in der Nähe der bekannten Krisenherde in Dagestan. Es ist eine kleine, friedliche Siedlung ohne Verbindungen zu Rebellengruppen. Sie hätten hier in Sicherheit sein müssen, weit weg von meiner gewalttätigen Welt.
Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein.
Der Flug scheint ewig zu dauern, aber endlich durchbrechen wir die Wolkendecke, und ich sehe das Dorf. Mein Hals wird eng, und ich kann nicht mehr atmen.
Rauch steigt von vielen Gebäuden im Zentrum auf, und bewaffnete Soldaten befinden sich vor Ort.
Ich springe aus dem Hubschrauber, sobald er den Boden berührt.
»Peter, warte. Du brauchst Deckung«, ruft der Pilot, aber ich renne bereits und stoße die Menschen, die mir im Weg stehen, einfach beiseite. Ein junger Soldat versucht, mich aufzuhalten, aber ich reiße ihm seine M16 aus den Händen und richte sie auf ihn.
»Führe mich zu den Leichen. Jetzt.«
Ich weiß nicht, ob es an der Waffe oder meinem tödlichen Ton liegt, aber der Soldat gehorcht und eilt zu einem Schuppen am anderen Ende der Straße. Ich folge ihm, während das Adrenalin wie Gift durch meine Adern fließt.
Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein.
Ich sehe die Leichen hinter dem Schuppen, einige ordentlich hingelegt, und andere aufeinandergestapelt auf dem schneebedeckten Gras. Niemand ist bei ihnen; die Soldaten müssen die Dorfbewohner bis jetzt von ihnen ferngehalten haben. Ich erkenne sofort einige der Toten - die älteren Menschen des Dorfes, mit denen Tamila auch zu tun hatte, die Frau des Bäckers, der Mann, von dem ich schon einmal Ziegenmilch gekauft habe - aber andere kann ich nicht identifizieren, einerseits wegen der Ausmaße ihrer Wunden und andererseits, weil ich nicht viel Zeit im Dorf verbracht habe.
Ich habe eigentlich gar keine Zeit hier verbracht, und jetzt ist meine Frau tot.
Ich bereite mich psychisch auf das vor, was jetzt kommen wird, knie mich neben einen schlanken Frauenkörper, lege die M16 ins Gras und ziehe das Tuch, das den Kopf bedeckt, zur Seite. Ein Teil des Kopfes ist von einer Kugel weggeschossen worden, aber ich kann genug von dem Gesicht erkennen, um zu wissen, dass es nicht Tamila ist.
Ich untersuche den nächsten Frauenkörper, der mehrere Einschusslöcher in der Brust hat. Es ist Tamilas Tante, eine schüchterne Frau in den Fünfzigern, die in den letzten drei Jahren weniger als fünf Worte mit mir gesprochen hat. Für sie und den Rest von Tamilas Familie bin ich immer ein Fremder gewesen, ein angsteinflößender Fremder aus einer anderen Welt. Sie haben Tamilas Entscheidung, mich zu heiraten, nicht verstanden, sie sogar verurteilt, aber Tamila war das egal.
Sie war immer unabhängig gewesen.
Ein weiterer Frauenkörper zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Frau liegt auf der Seite, aber die sanfte Kurve ihrer Schultern ist schmerzhaft vertraut. Meine Hand zittert, als ich sie umdrehe, und weißglühender Schmerz durchfährt mich, als ich ihr Gesicht sehe.
Tamilas Mund ist genauso locker, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, aber ihre Augen sind nicht leer. Sie sind geschlossen, ihre langen Wimpern versengt und ihre Augenlider von Blut verklebt. Mehr Blut bedeckt ihre Brust und ihre Arme, und ihr graues Kleid ist fast schwarz davon.
Meine Frau, meine wunderschöne junge Frau, die den Mut hatte, ihr eigenes Schicksal zu wählen, ist tot. Sie ist gestorben, ohne jemals ihr Dorf verlassen zu haben, ohne jemals Moskau gesehen zu haben, wovon sie immer geträumt hatte. Ihr Leben wurde ausgelöscht, bevor sie eine Chance hatte, zu leben, und es ist meine Schuld. Ich hätte hier sein sollen, hätte sie und Pasha beschützen müssen. Zur Hölle, ich hätte über diese beschissene Operation Bescheid wissen müssen; niemand hätte hierherkommen sollen, ohne dass mein Team und ich darüber informiert wurden.
Wut steigt in mir auf, vermischt sich mit qualvollem Schmerz und Schuldgefühlen, aber ich verdränge das alles und zwinge mich dazu, mich weiter umzuschauen. Die Leichen, die in Reihen ausgebreitet wurden, sind ausschließlich Erwachsene, aber es gibt ja noch diesen anderen Haufen.
Bitte lass ihn am Leben sein. Ich werde alles tun, solange er nur lebt.
Meine Beine fühlen sich wie abgebrannte Streichhölzer an, als ich mich dem Haufen nähere. Er besteht aus einzelnen Gliedmaßen und Körpern, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind. Das müssen die Opfer der Explosionen sein. Ich lege jeden Körperteil zur Seite, nachdem ich ihn betrachtet habe. Der Geruch nach altem Blut und verbranntem Fleisch hängt d**k in der Luft. Ein normaler Mann würde sich bereits übergeben haben, aber ich bin noch nie normal gewesen.
Bitte lass ihn am Leben sein.
»Peter, warte. Eine Spezialeinheit ist auf dem Weg hierher, und sie wollen nicht, dass wir die Leichen anfassen.« Der Pilot, der mich hierhergebracht hat, Anton Rezov, kommt vom Schuppen aus zu mir. Wir arbeiten seit Jahren zusammen, und er ist ein enger Freund, aber wenn er versuchen sollte, mich zu stoppen, werde ich ihn töten.
Ohne zu antworten, fahre ich mit meiner grausamen Aufgabe fort und betrachte alle Gliedmaßen und jeden verbrannten Rumpf, bevor ich alles zur Seite lege. Die meisten Körperteile scheinen zu Erwachsenen zu gehören, auch wenn ich auf einige wenige in Kindergröße stoße. Sie sind allerdings zu groß, um Pashas zu sein, und ich bin egoistisch genug, um darüber erleichtert zu sein.
Dann sehe ich es.
»Peter, hast du mich gehört? Du kannst das noch nicht tun.« Anton will meinen Arm ergreifen, aber bevor er mich berühren kann, wirbele ich herum, und meine Hand formt automatisch eine Faust. Diese Faust kracht auf seinen Kiefer, er wird durch die Wucht des Aufschlags zurückgeschleudert und seine Augen verdrehen sich. Ich schaue nicht dabei zu, wie er fällt; ich bewege mich bereits und wühle mich durch den restlichen Stapel der Körper, um die kleine Hand zu finden, die ich eben gesehen habe.
Eine kleine Hand, die ein kaputtes Spielzeugauto umklammert.
Bitte, bitte, bitte. Bitte, lass es eine Verwechslung sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein.
Ich arbeite wie ein Besessener und konzentriere mich auf ein einziges Ziel: zu dieser Hand zu gelangen. Einige der Körper ganz oben auf dem Stapel sind beinahe intakt, aber trotzdem spüre ich ihr Gewicht nicht, als ich sie zur Seite lege. Ich fühle das Brennen meiner Muskeln durch die Anstrengungen nicht, genauso wenig wie ich den widerlichen Gestank des gewaltsamen Todes rieche. Ich beuge mich einfach immer wieder nach unten und werfe die Körperteile zur Seite, bis ich von ihnen umgeben und blutdurchtränkt bin.
Ich höre nicht auf, bis ich den kleinen Körper freigelegt habe und jeder Zweifel verschwunden ist.
Zitternd sinke ich auf die Knie, da meine Beine mich nicht mehr halten können.
Wie durch ein Wunder ist eine Gesichtshälfte Pashas unverletzt, seine weiche Babyhaut hat nur einen Kratzer abbekommen. Eines seiner Augen ist geschlossen, sein kleiner Mund ist geöffnet, und würde er wie Tamila auf der Seite liegen, könnte man ihn für ein schlafendes Kind halten. Aber er liegt nicht auf der Seite, und ich sehe das klaffende Loch, das die Explosion hinterlassen hat, als sie die Hälfte seines Schädels wegsprengte. Sein linker Arm fehlt ebenfalls, genauso wie sein linkes Bein ab dem Knie. Sein rechter Arm ist allerdings unversehrt, und seine Finger umklammern das Spielzeugauto.
Aus einiger Entfernung höre ich ein Heulen, ein verrücktes, gebrochenes Geräusch menschlicher Wut. Erst als mir auffällt, dass ich den kleinen Körper an meine Brust drücke, verstehe ich, dass ich dieses Geräusch von mir gebe. Ich verstumme, aber ich kann nicht damit aufhören, hin und her zu schaukeln.
Ich kann nicht aufhören, ihn zu umarmen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so verharre, die Überreste meines Sohnes an mich drücke, aber als die Soldaten der Spezialeinheit ankommen, ist es bereits dunkel. Ich wehre mich nicht. Das wäre sinnlos. Mein Sohn ist von uns gegangen, bevor sein helles Licht die Gelegenheit hatte, zu scheinen.
»Es tut mir leid«, flüstere ich, als sie mich wegzerren. Mit jedem Meter Abstand zwischen uns wächst meine innere Kälte, und die letzten Reste von Menschlichkeit verlassen meine Seele. Ich kann nicht mehr Bitten, keine Verhandlungen mit irgendjemandem oder irgendetwas führen. Ich habe alle Hoffnung verloren, meine Liebe und Wärme ist mir genommen worden. Ich kann die Zeit nicht zurückstellen und meinen Sohn länger halten, ich kann nicht warten, so wie ich es sollte. Ich kann nicht nächstes Jahr mit Tamila nach Moskau reisen, so wie ich es ihr versprochen hatte.
Es gibt nur eine Sache, die ich für meine Frau und meinen Sohn tun kann, und deshalb lebe ich weiter.
Ich werde dafür sorgen, dass ihre Mörder bezahlen.
Jeder Einzelne von ihnen.
Sie werden für dieses Massaker mit ihrem Leben bezahlen.