3
Sara
Ich schreie nicht. Nicht, weil es das Cleverste in dieser Situation ist, sondern weil ich kein Geräusch von mir geben kann. Ich bin vor Entsetzen wie versteinert und ganz und gar gelähmt. Meine Muskeln, einschließlich meiner Stimmbänder, haben sich verkrampft, und meine Lunge hat aufgehört zu arbeiten.
»Ich werde meine Hand von deinem Mund nehmen«, flüstert er in mein Ohr, und sein Atem fühlt sich auf meiner feuchten Haut warm an. »Und du wirst ruhig bleiben. Verstanden?«
Ich kann nicht einmal ein wimmerndes Geräusch von mir geben, aber ich schaffe es, leicht zu nicken.
Er nimmt seine Hand weg, legt seinen Arm stattdessen um meine Rippen, und meine Lungen fangen genau in diesem Moment wieder an zu funktionieren. Ohne es zu wollen, atme ich pfeifend ein. Sofort drückt sich das Messer tiefer in meine Haut, und ich versteinere erneut, als ich spüre, wie warmes Blut an meinem Hals hinunterläuft.
Ich werde sterben. Oh mein Gott, ich werde hier sterben, in meiner eigenen Küche. Das Entsetzen in mir ist ein monströses Etwas, das mich mit eisigen Nadeln sticht. Ich war noch nie so kurz davor, zu sterben. Nur einen Zentimeter nach rechts und ...
»Du musst mir zuhören, Sara.« Die Stimme des Eindringlings ist sanft, straft das Messer, das in meinen Hals schneidet, Lügen. »Wenn du kooperierst, wirst du das hier lebendig überstehen. Wenn nicht, wirst du in einem Leichensack enden. Du hast die Wahl.«
Lebendig? Ein Hoffnungsschimmer dringt durch den panischen Nebel in meinem Gehirn, und mir fällt auf, dass der Mann einen leichten Akzent hat. Einen exotischen. Naher Osten vielleicht, oder osteuropäisch.
Eigenartigerweise sammele ich mich durch dieses Detail, das meinem Gehirn etwas Konkretes bietet, auf das es sich konzentrieren kann, ein wenig. »W-was wollen Sie?« Diese Worte sind ein bebendes Flüstern, aber es ist schon ein Wunder, dass ich überhaupt sprechen kann. Ich fühle mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht, betäubt und überwältigt, und meine Denkprozesse sind seltsam verlangsamt.
»Nur einige Antworten«, antwortet er und zieht sein Messer ein wenig zurück. Ohne den kalten Stahl, der in meine Haut schneidet, verschwindet ein Teil meiner Panik, und ich bemerke weitere Details wie die Tatsache, dass mein Angreifer mindestens einen Kopf größer als ich und muskelbepackt ist. Der Arm um meinen Brustkorb ist wie ein Stahlband, und der große Körper, der sich gegen meinen Rücken presst, gibt nicht einen Millimeter nach, lässt keine Weichheit spüren. Ich bin eine durchschnittlich große Frau, aber schlank und zierlich, und er ist so muskulös, dass ich vermute, dass er fast das Doppelte wiegt wie ich.
Selbst wenn er kein Messer hätte, könnte ich ihm nicht entkommen.
»Was für Antworten?« Meine Stimme ist jetzt ein wenig ruhiger. Vielleicht ist er nur hier, um mich auszurauben, und alles, was er braucht, ist meine Safekombination. Er riecht sauber, nach Waschmittel und gesunder, männlicher Haut, also ist er kein Meth-Süchtiger oder Penner von der Straße. Vielleicht ein professioneller Einbrecher? Falls ja, verzichte ich gerne auf den Schmuck und das Notfall-Bargeld, das George hier im Haus versteckt hat.
»Ich möchte, dass du mir von deinem Mann erzählst. Ganz besonders bin ich an seinem Aufenthaltsort interessiert.«
»George?« Mein Kopf wird leer, als mich eine neue Angstwelle überkommt. »W-was ... warum?«
Das Messer drückt sich in meine Haut. »Ich stelle hier die Fragen.«
»B-bitte«, presse ich heraus. Ich kann nicht denken, kann mich auf nichts anderes als das Messer konzentrieren. Heiße Tränen laufen mein Gesicht hinunter, und ich zittere am ganzen Körper. »Bitte nicht ...«
»Beantworte einfach meine Frage. Wo ist dein Mann?«
»Ich ...« Oh Gott, was soll ich ihm nur sagen? Er muss einer von ihnen sein, dem Grund für die ganzen Vorsichtsmaßnahmen. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich fast hyperventiliere. »Bitte, ich weiß nicht ... ich habe keine ...«
»Lüg mich nicht an, Sara. Ich brauche seinen ...Aufenthaltsort. Jetzt.«
»Ich weiß es nicht, ich schwöre es. Bitte, wir sind ...« Meine Stimme wird brüchig. »Wir haben uns getrennt.«
Der Arm um meinen Brustkorb legt sich fester um mich, und das Messer dringt ein wenig tiefer in meine Haut ein. »Möchtest du sterben?«
»Nein. Nein, das möchte ich nicht. Bitte ...« Ich zittere stärker, und die Tränen strömen unkontrolliert meine Wangen hinunter. Nach dem Unfall gab es Tage, an denen ich dachte, dass ich sterben möchte, als die Schuldgefühle und das schmerzhafte Bedauern überwältigend waren, aber jetzt mit dem Messer an meiner Kehle will ich leben. Das will ich unbedingt.
»Dann sage mir, wo dein Mann ist.«
»Ich weiß es nicht!« Meine Knie drohen damit, nachzugeben, aber ich kann George nicht einfach so verraten. Ich kann ihn nicht diesem Monster aussetzen.
»Du lügst.« Die Stimme meines Angreifers ist so kalt wie Eis. »Ich habe deine Nachrichten gelesen. Du weißt genau, wo er sich befindet.«
»Nein, ich ...« Ich versuche, eine plausible Lüge zu finden, aber mir fällt keine ein. Ich kann die Panik auf meiner Zunge schmecken, als mir hektische Fragen durch den Kopf gehen. Wie konnte er die Nachrichten lesen? Wann? Wie lange verfolgt er mich schon? Ist er einer von ihnen? »Ich - ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Das Messer schneidet noch eine Spur tiefer ein, und ich kneife die Augen zusammen, während mein Atmen zu einem schluchzenden Keuchen wird. Ich bin dem Tod so nahe, dass ich ihn schmecken, riechen ... ihn mit jeder Faser meines Körpers fühlen kann. Er ist in dem metallischen Geruch meines Blutes, dem kalten Schweiß, der meinen Rücken hinunterläuft, dem Dröhnen meines Pulses in meinen Schläfen und in der Anspannung meiner zuckenden Muskeln. Noch eine Sekunde länger, und er wird meine Halsschlagader aufschneiden und ich werde ausbluten, genau hier auf dem Fußboden meiner Küche.
Habe ich das verdient? Werde ich so für meine Sünden zahlen?
Ich beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht klappern. Bitte verzeih mir, George. Wenn es das ist, was du brauchst ...
Ich höre, wie mein Angreifer seufzt, und im nächsten Moment ist sein Messer verschwunden und ich liege umgedreht auf der Theke. Mein Rücken trifft auf den harten Granit, und mein Kopf fällt nach hinten in die Spüle, wobei meine Nackenmuskeln vor Belastung schreien. Keuchend trete ich aus und versuche, ihn zu schlagen, aber er ist zu stark und schnell. Wie ein Blitz springt er auf die Theke, spreizt meine Beine und fixiert mich mit seinem Gewicht. Er sichert meine Handgelenke mit etwas Hartem und Unzerbrechlichem, bevor er sie mit einer Hand ergreift, und ich sie nicht befreien kann, egal, wie sehr ich es versuche. Meine Fersen rutschen nutzlos über den glatten Tresen, und meine Nackenmuskeln brennen davon, meinen Kopf oben halten zu müssen. Ich bin hilflos, werde festgehalten, und eine neue Art von Panik überkommt mich.
Bitte nicht das, oh Gott. Alles, aber keine Vergewaltigung.
»Wir werden etwas anderes ausprobieren«, sagt er, und ein Stück Stoff fällt über mein Gesicht. »Mal schauen, ob du wirklich für diesen Bastard sterben willst.«
Keuchend werfe ich meinen Kopf von einer Seite zur anderen und versuche, den Stofffetzen loszuwerden, aber er ist zu lang, und ich kann unter ihm kaum atmen. Versucht er, mich zu ersticken? Ist das der Plan?
Dann quietscht der Griff des Wasserhahns, und ich verstehe, was er vorhat.
»Nein!« Ich werfe mich stärker hin und her, aber er ergreift meine Haare mit seiner freien Hand und hält meinen zurückgeworfenen Kopf unter den Wasserhahn.
Der anfängliche Schock über die Nässe ist nicht so schlimm, aber innerhalb weniger Sekunden wandert das Wasser meine Nase hinauf. Mein Hals verengt sich, meine Lungen verkrampfen sich und mein ganzer Körper versucht, sich aufzurichten, während ich würge und nach Luft schnappen will. Die Panik ist instinktiv und unkontrollierbar. Der Stofffetzen fühlt sich wie eine nasse Pfote an, die über meiner Nase liegt und sie zusammendrückt. Das Wasser ist in meiner Nase und in meinem Hals. Ich ersticke, ertrinke. Ich kann nicht atmen, kann nicht atmen ...
Der Wasserhahn wird abgestellt und der Stofffetzen von meinem Gesicht gerissen. Hustend atme ich Luft ein, während ich gleichzeitig schluchze und keuche. Mein ganzer Körper ist ein zuckendes, zitterndes Etwas, und weiße Punkte tanzen vor meinen Augen. Bevor ich mich erholen kann, wird der Stofffetzen erneut auf mein Gesicht gelegt, und das Wasser wird wieder angestellt.
Dieses Mal ist es noch schlimmer. Meine Nasenhöhlen brennen von dem Wasser, und meine Lungen schreien nach Luft. Ich zucke und würge, ersticke und weine. Ich kann nicht atmen. Oh mein Gott, ich sterbe; ich kann nicht atmen ...
Im nächsten Moment ist das Tuch verschwunden, und ich schnappe krampfhaft nach Luft.
»Sag mir, wo er ist, und ich höre damit auf.« Seine Stimme ist ein dunkles Flüstern über mir.
»Ich weiß es nicht! Bitte!« Ich kann das Erbrochene in meinem Hals schmecken, und das Wissen, dass er das noch einmal tun wird, verwandelt mein Blut in Säure. Es war leicht, bei dem Messer mutig zu sein, aber nicht bei dem hier. Ich kann nicht so sterben.
»Letzte Chance«, meint mein Peiniger leise, und der nasse Stofffetzen fällt erneut auf mein Gesicht.
Der Griff des Wasserhahns beginnt zu quietschen.
»Stopp! Bitte!«, bricht ein Schrei aus mir heraus. »Ich sage es Ihnen! Ich sage es Ihnen!«
Das Wasser wird ausgestellt, und der Stofffetzen wird von meinem Gesicht gezogen. »Sag es mir.«
Ich schluchze und huste zu sehr, um einen zusammenhängenden Satz herauszubekommen, also zieht der Mann mich vom Tresen auf den Boden und kniet sich hin, um mich in seine Arme zu schließen. Auf einen Außenstehenden könnte es gerade so wirken wie eine tröstende Umarmung oder die beschützende Geste eines Liebhabers. Diese Illusion wird durch die weiche und sanfte Stimme meines Peinigers verstärkt, der beruhigend in mein Ohr flüstert: »Sag es mir, Sara. Sag mir, was ich wissen will, und ich gehe.«
»Er ist ...« Ich halte eine Sekunde vor dem Herausplatzen der Wahrheit inne. Das panische Tier in mir fordert das Überleben um jeden Preis, aber ich kann das nicht tun. Ich kann dieses Monster nicht zu George führen. »Er ist im Advocate Christ Hospital«, presse ich heraus. »In der Langzeitpflege.«
Das ist eine Lüge und offensichtlich keine gute, weil die Arme, die mich halten, ihren Griff verstärken und fast meine Knochen brechen. »Verarsch mich nicht.« Der beruhigende Ton seiner Stimme ist verschwunden, und an seiner Stelle höre ich beißende Wut. »Er hat sie verlassen - vor Monaten. Wo versteckt er sich?«
Ich schluchze stärker. »Ich ... Ich weiß nicht ...«
Mein Angreifer stellt sich hin, zieht mich nach oben, und ich schreie und wehre mich, als er mich zur Spüle zieht. »Nein! Bitte nicht!« Ich bin hysterisch, als er mich auf die Theke hebt, und meine gefesselten Hände schwingen hin und her, als ich versuche, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Meine Fersen schlagen auf dem Granit auf, als er meine Beine spreizt und mich erneut an Ort und Stelle festhält, und Galle steigt in meinem Hals auf, als er mein Haar ergreift und meinen Kopf in die Spüle drückt. »Stopp!«
»Sag mir die Wahrheit – und ich werde aufhören.«
»Ich ... ich kann nicht. Bitte, das kann ich nicht tun!« Das kann ich George nach allem, was passiert ist, nicht antun. »Bitte hören Sie auf!«
Der nasse Stofffetzen legt sich über mein Gesicht, und mein Hals verschließt sich voller Panik. Das Wasser ist noch nicht angestellt, aber ich ertrinke bereits; ich kann nicht atmen, kann nicht atmen ...
»Scheiße!«
Ich werde plötzlich mit einem Ruck vom Tresen auf den Boden gerissen, wo ich schluchzend zu einem Häufchen zusammensacke. Aber dieses Mal gibt es keine Arme, die mich halten, und ich bemerke benebelt, dass er weggegangen ist.
Ich sollte aufstehen und weglaufen, aber meine Hände sind gefesselt und meine Beine wollen einfach nicht funktionieren. Alles, was ich tun kann, ist, erbärmlich auf die Seite zu rollen und zu versuchen, wegzukriechen. Die Angst macht mich blind, verwirrt mich, und ich kann in der Dunkelheit nichts sehen.
Ich kann ihn nicht sehen.
Lauft, versuche ich meinen schlaffen, zitternden Muskeln zu befehlen. Steht auf und lauft.
Ich hole tief Luft, bekomme etwas zu greifen – eine Ecke der Arbeitsplatte – und ziehe mich hoch, bis ich stehe. Aber es ist zu spät: Er ist bereits bei mir, und sein Arm umgreift meine Rippen von hinten wie ein Stahlband.
»Mal sehen, ob das besser funktioniert«, flüstert er, und etwas Kaltes und Scharfes sticht mir in den Hals.
Eine Nadel, wird mir voller Entsetzen klar, und mein Bewusstsein schwindet.
Ich sehe ein verschwommenes Gesicht vor meinen Augen. Ein hübsches Gesicht, ein sehr schönes sogar, trotz der Narbe, die die linke Augenbraue halbiert. Hohe, schräge Wangenknochen, stahlgraue Augen, die von schwarzen Wimpern eingerahmt werden, ein hartes Kinn mit Bartstoppeln – das Gesicht eines Mannes, lässt mich mein Gehirn verschwommen wissen. Sein Haar ist d**k und oben länger als an den Seiten. Kein alter Mann, aber auch kein Teenager. Ein Mann in seinen besten Jahren.
Seine Stirn ist gerunzelt, und sein Gesicht weist raue, düstere Züge auf. »George Cobakis«, sagt der harte, gemeißelte Mund. Es ist ein sexy Mund, gut geformt, aber ich höre die Worte wie aus einem Megaphon in einigem Abstand zu mir. »Weißt du, wo er sich aufhält?«
Ich nicke, oder zumindest versuche ich es. Mein Kopf fühlt sich schwer an und mein Hals eigenartig wund. »Ja, ich weiß, wo er ist. Ich dachte auch, ich würde ihn kennen, aber eigentlich tue ich es nicht. Kann man jemanden wirklich richtig kennen? Ich denke nicht, oder zumindest kannte ich ihn nicht. Ich dachte, dass ich ihn kennen würde, aber das tat ich nicht. Die ganzen Jahre, die wir zusammen verbracht haben, dachte ich, wir seien perfekt. Das perfekte Paar, so haben sie uns genannt. Können Sie das glauben? Das perfekte Paar. Wir waren die Crème de la Crème, die junge Ärztin und der aufsteigende Starjournalist. Sie haben gesagt, dass er eines Tages einen Pulitzer-Preis gewinnen würde.« Ich bemerke am Rande, dass ich einfach rede, aber ich kann nicht aufhören. Die Worte schießen aus mir heraus, all die angestaute Bitterkeit und der Schmerz. »Meine Eltern waren an unserem Hochzeitstag so stolz, so glücklich. Sie hatten keine Ahnung, was kommen würde, was passieren würde.«
»Sara. Konzentriere dich auf mich«, sagt die Megaphon-Stimme, und ich höre einen leichten ausländischen Akzent. Dieser Akzent gefällt mir, führt dazu, dass ich mich vorbeugen und meine Hand auf diese gemeißelten Lippen legen möchte, mit meinen Fingern über dieses ... harte Kinn fahren möchte, um zu sehen, ob es kratzig ist. Ich mag kratzig. George kam häufig von seinen Reisen nach Hause und war kratzig, und ich mochte es. Ich mochte es, auch wenn ich ihm immer gesagt habe, er solle sich rasieren. Er sah rasiert besser aus, aber manchmal mochte ich das kratzige Gefühl, mochte es, das Kratzen auf meinen Schenkeln zu spüren, wenn er ...
»Sara, hör auf«, unterbricht mich die Stimme, und das Stirnrunzeln des exotisch hübschen Gesichts vertieft sich.
Ich habe laut gesprochen, wird mir klar, aber es ist mir überhaupt nicht peinlich. Die Worte gehören nicht zu mir; sie platzen einfach beliebig heraus. Meine Hände tun auch das, was sie wollen, und versuchen, dieses Gesicht zu berühren, bevor etwas sie innehalten lässt. Ich senke meinen schweren Kopf, um nachzuschauen, was es ist, und erblicke Kabelbinder an meinen Handgelenken und eine große Männerhand über meinen Handflächen. Diese Hand ist warm, und sie fixiert meine Hände auf meinem Schoß. Warum tut sie das? Woher kam diese Hand? Als ich verwirrt nach oben schaue, befindet sich das Gesicht näher an mir, und graue Augen starren in meine.
»Du musst mir sagen, wo dein Mann ist«, sagt der Mann, und das Megaphon kommt näher. Es hört sich so an, als befände es sich genau neben meinem Ohr. Ich zucke zusammen, aber gleichzeitig fasziniert mich dieser Mund. Ich will diese Lippen berühren, sie lecken, sie auf meinen – Moment. Sie fragen mich etwas.
»Wo mein Mann ist?« Meine Stimme hört sich so an, als halle sie von den Wänden wider.
»Ja, George Cobakis, dein Mann.« Die Lippen sehen verlockend aus, als sie die Worte formen, und der Akzent ist trotz dieses Megaphon-Effekts wie eine Streicheleinheit für mich. »Sag mir, wo er ist.«
»In Sicherheit. Er ist in einer geheimen Unterkunft«, antworte ich. »Sie könnten ihn suchen. Sie wollten nicht, dass er über diese Sache schreibt, aber er tat es trotzdem. Er war so mutig, oder dumm – wahrscheinlich dumm, stimmt’s? Und dann ist der Unfall passiert, aber sie könnten immer noch hinter ihm her sein, weil sie genau das tun. Die Mafia interessiert es nicht, dass er jetzt den IQ eines Gemüses hat, einer Gurke, einer Tomate, einer Zucchini. Na ja, Tomate ist eine Frucht, aber er ist wie ein Gemüse. Ein Brokkoli vielleicht? Ich weiß es nicht. Aber das ist auch nicht wichtig. Es ist einfach so, dass sie an ihm ein Exempel statuieren wollen, anderen Journalisten, die an seiner Seite stehen, Angst einjagen wollen. Das tun sie; so funktionieren sie. Es geht immer um Bestechungen, und wenn man das ans Licht bringt ...«
»Wo ist sein Versteck?« Ich sehe ein dunkles Glitzern in diesen stählernen Augen. »Sag mir die Adresse seines geheimen Unterschlupfes.«
»Ich kenne die Adresse nicht, aber es befindet sich an der Ecke Ricky’s Laundromat in Evanston«, erzähle ich diesen Augen. »Sie bringen mich immer in einem Auto dorthin, also kenne ich die genaue Adresse nicht, aber ich habe das Gebäude von einem Fenster aus gesehen. Es sind mindestens zwei Männer in diesem Auto, und sie fahren ewig umher, manchmal wechseln sie sogar das Auto. Der Grund dafür ist die Mafia, weil sie alles beobachten könnte. Sie schicken immer ein Auto, das mich abholt, aber dieses Wochenende konnten sie nicht kommen. Wichtige Termine, haben sie gesagt. Das passiert manchmal; die Schichten der Wächter passen nicht und ...« ...»Wie viele Wächter gibt es dort?«
»Drei, manchmal vier. Es sind diese großen Militärtypen. Oder Ex-Militär, das weiß ich nicht. Sie sehen einfach danach aus. Ich weiß nicht, warum, aber sie sehen alle so aus. Das ist wie ein Kronzeugenschutz, aber irgendwie auch nicht, weil er spezielle Pflege benötigt, aber ich meinen Job nicht verlassen kann. Ich will meinen Job nicht verlassen. Sie haben gesagt, sie könnten mich versetzen, mich verschwinden lassen, aber ich möchte nicht verschwinden. Meine Patienten brauchen mich, und meine Eltern. Was sollte ich mit meinen Eltern tun? Sie nie wiedersehen oder anrufen? Nein, das ist verrückt. Also haben sie das Gemüse verschwinden lassen, die Gurke, den Brokkoli ...«
»Sara, schscht.« Finger legen sich auf meinen Mund, lassen den Strom der Worte verstummen, und das Gesicht kommt noch näher. »Du kannst jetzt damit aufhören. Es ist vorbei«, flüstert der sexy Mund, und ich öffne meine Lippen, um an diesen Fingern zu saugen. Ich schmecke Salz und Haut, und ich will mehr, also lege ich meine Zunge um seine Finger, fühle die Rauheit seiner Schwielen und die stumpfen Kanten seiner kurzen Nägel. Es ist schon so lange her, seit ich jemanden berührt habe, und mein Körper erwärmt sich bei diesem kleinen Vorgeschmack, bei diesem Blick in diese silberfarbenen Augen.
»Sara ...« Seine Stimme mit diesem Akzent ist jetzt leiser, tiefer und weicher. Sie gleicht keinem Megaphon mehr, sondern ist eher wie ein sinnliches Echo, wie Musik von einem Synthesizer. »Das möchtest du nicht tun, ptichka.«
Doch, genau das will ich. Und zwar unbedingt. Ich fahre weiterhin mit meiner Zunge um die Finger und sehe, wie sich die grauen Augen verdunkeln, wie sich die Pupillen sichtbar weiten. Ich weiß, dass das ein Zeichen von Erregung ist, und es bringt mich dazu, mehr tun zu wollen. Ich will seine gemeißelten Lippen küssen, will meine Wange an diesem stacheligen Kinn reiben. Und dann sind da noch diese Haare, diese dunklen, vollen Haare. Fühlen sie sich weich oder eher hart an? Ich will es wissen, aber ich kann meine Hände nicht bewegen, also nehme ich seine Finger einfach tiefer in meinen Mund, liebe sie mit meinen Lippen und meiner Zunge, sauge an ihnen, so als seien sie ein Lutscher.
»Sara.« Die Stimme ist belegt und rau, das Gesicht voll kaum zurückgehaltenem Hunger. »Du musst damit aufhören, Ptichka. Du wirst es morgen bereuen.«
Bereuen? Ja, wahrscheinlich werde ich das. Ich bereue alles, so viele Dinge, und ich lasse die Finger los, um genau das zu sagen. Aber bevor ich ein Wort sagen kann, ziehen sich die Finger zurück, und auch das Gesicht entfernt sich von mir.
»Geh nicht.« Dieser Ausruf ist kläglich, hört sich an, als käme er von einem anhänglichen Kind. Ich will mehr von dieser menschlichen Berührung, dieser Verbindung. Mein Kopf fühlt sich leer an, und alles an mir schmerzt, besonders mein Nacken und meine Schultern. Außerdem krampft mein Bauch. Ich will, dass jemand meine Haare kämmt, meinen Nacken massiert und mich wie ein Baby hin und her schaukelt. »Bitte, geh nicht.«
Etwas, das vage an Schmerz erinnert, flackert kurz auf dem Gesicht des Mannes auf, bevor ich erneut den kalten Einstich der Nadel in meinem Hals spüre.
»Auf Wiedersehen, Sara«, murmelt die Stimme, und schon bin ich weg, da mein Verstand dahinweht wie ein gefallenes Blatt.