Prolog
Ariel Hamm beugte sich über das Blatt Papier, das vor ihr lag und studierte aufmerksam die Gleichungen darauf. Sie biss sich auf die Lippe, während sie über die Lösungen nachgrübelte. Sie wollte so schnell wie möglich fertig werden, um noch etwas Freizeit zu haben, bevor sie ins Bett ging. Sie war gerade bei der letzten Gleichung angelangt, als ein greller Schrei die Stille unterbrach. Ruckartig hob sie den Kopf und ihr Mund formte sich zu einem kleinen O. Mit aufgerissenen Augen blickte sie den großen Mann an, der ihr gegenübersaß und Zeitung las. Dann sprang sie von ihrem Stuhl auf und stürmte den Flur entlang.
Henry Hamm sah kopfschüttelnd zu, wie seine sechsjährige Tochter wie ein geölter Blitz losrannte und stieß einen Seufzer aus. Er fragte sich, was es wohl diesmal sein würde. Gerade als er die Badezimmertür erreicht hatte, kam Anna Hamm zitternd herausgestürmt.
Er breitete seine Arme aus und schlang sie um seine Frau, die leise vor sich hin fluchte. Er blickte über ihren Kopf hinweg und sah, dass Ariel sich über die Badewanne beugte. Sie holte etwas heraus und wiegte es liebevoll in ihren Armen. Als sie sich umdrehte, glitzerten Tränen in ihren großen braunen Augen und ihr kleines Kinn zitterte. Es war jedoch nicht ihr Gesichtsausdruck, der Henrys Aufmerksamkeit erregte, sondern das, was in ihren Armen lag. Die kleine braune Kreatur versuchte, an ihrem kleinen Körper hinabzuklettern. Ariel blickte ihren Vater mit großen Augen an und wartete auf seine Reaktion.
„Ist schon okay, Anna. Das ist doch nur ein Präriewelpe“, sagte Henry, während er seiner Frau beruhigend über den Rücken strich.
„Das ist nicht nur ein Präriewelpe, Henry Hamm“, sagte Anna, als sie zu ihm aufblickte. „Das ist ein ganzer Wurf Präriewelpen!“
„Aber Mom, Ariel musste ihnen helfen. Mr. Wilson hat sie getreten und wollte sie ertränken. Ariel konnte sie doch nicht sterben lassen“, argumentierte die fünfjährige Carmen. „Sie musste sich um sie kümmern. Sie ist jetzt ihre Mommy.“
Anna warf ihrer ältesten Tochter einen Blick über die Schulter zu. Ariel stand beschützend vor der altmodischen Badewanne, die voller japsender Präriewelpen war. Dann fiel ihr Blick auf ihre Jüngste, die verteidigend vor Ariel stand. Kopfschüttelnd drehte sie sich in den Armen ihres Mannes herum und sah ihre beiden Töchter verzweifelt an. Letzte Woche waren es Schildkröten gewesen, die Woche davor Eidechsen, und die Woche davor… Erneut schüttelte Anna den Kopf, diesmal noch fester. Seit Ariel alt genug war, um laufen zu können, brachte sie alle streunenden Tiere nach Hause, die sie finden konnte. Manche davon waren nicht einmal Streuner, so wie zum Beispiel die Katzen, Hunde und Hühner der Nachbarn. Die Liste ging endlos weiter.
„Du weißt, dass sie das von dir hat“, setzte Anna an und drehte sich frustriert zu ihrem Mann um, mit dem sie seit sieben Jahren verheiratet war.
„Ja, ich weiß“, sagte Henry mit dem Anflug eines Lächelns.
„Ich will keine Tiere im Haus haben“, fuhr Anna fort.
„Ich weiß“, sagte Henry und warf Ariel einen warnenden Blick zu, als sie protestieren wollte.
„Ich will keine Viecher in meiner Badewanne“, insistierte Anna mit Nachdruck.
„Aber … wo sollen sie denn sonst hin?“, fragte Carmen verwirrt. „Unter ihrem Bett ist kein Platz und in ihrem…“, Carmen verstummte, als Ariel ihr einen Stoß mit dem Ellenbogen versetzte.
„Sei still“, zischte Ariel leise.
„Unter ihrem Bett…?“, sagte Anna und griff sich an den Hals. „Wo noch?“, fragte sie und ihr Blick wanderte erst zu Ariel, deren Augen sich erneut mit Tränen füllten, und dann zu Carmen. „Was hat sie denn sonst noch so in meinem Haus?“, fragte Anna, während sie sich zu dem Zimmer der Mädchen umdrehte.
„NEIN!“, klagte Ariel unter Tränen. „Mom, bitte. Sie brauchen mich!“
Henry beschloss, dass es besser war, seiner Frau zu helfen. Sie kam aus der Stadt und hatte immer noch Angst vor all diesen Viechern, die in der „Wildnis von Wyoming“, wie sie es nannte, lebten. Anna ging in das Zimmer ihrer Töchter und wollte gerade auf alle Viere gehen, um unter das Bett zu schauen, als Henry ihre füllige Taille umfasste.
„Lass mich lieber“, sagte er schroff.
Ariel sah zu, wie ihr Vater widerwillig auf alle Viere ging und die Pappkartonschachteln hervorzog, die sie dort verstaut hatte. Die Schuhschachteln waren sorgfältig mit Buntstiftzeichnungen von jedem einzelnen Tier versehen und hatten Löcher an der Oberseite. Ariel sah verzweifelt zu, wie ihr Vater alle sechs Schuhschachteln hervorzog und jede einzelne vorsichtig öffnete. Ihre Sammlung aus Eidechsen, Fröschen und Schildkröten wurde immer größer. Dann zog er zwei größere Schachteln hervor. In einer waren mehrere Katzenbabys und in der anderen ein kleines Stachelschwein.
„Wo um alles in der Welt hast du das her?“, fragte Henry erstaunt. Alle Schachteln waren sorgfältig mit Wasser, Futter und Streifen alter Kleidungsstücke gefüllt.
„Da sind also meine ganzen Textilien, die ich zum Quilten brauche!“, rief Ariels Mutter genau in dem Moment, als das Telefon klingelte.
Anna Hamm lief aus dem Zimmer und den Flur entlang, während Ariels Vater sich auf seine Fersen setzte. „Okay, was wollt ihr mir noch so zeigen, bevor eure Mutter wiederkommt?“, fragte er und sah seine älteste Tochter an, die versuchte, den kleinen Präriehund daran zu hindern, sich aus ihrem Griff zu winden.
„Sie hat Patrick und Sandy in meinem Bett“, sagte Carmen hilfsbereit. „Na … hast du doch!“, sagte Carmen und sah Ariel unschuldig an, als Ariel ihr einen finsteren Blick zuwarf.
„Wer sind Patrick und Sandy?“, fragte Henry, bevor er den Kopf schüttelte. „Vielleicht sollte ich nicht wer fragen, sondern lieber was?“, brummelte er.
Ariel versuchte, sich vor ihren Vater zu stellen, um ihn aufzuhalten, doch er hob sie zusammen mit dem Präriehund einfach hoch und stellte sie auf der anderen Seite wieder ab. Henry ging zu dem anderen Doppelbett in dem Zimmer und schlug vorsichtig die bunte Steppdecke zurück. Er unterdrückte einen Fluch, als er sah, was dort unter der Decke zusammengerollt lag.
„Aber Daddy, ihnen war kalt. Draußen ist es viel zu kalt für sie und vielleicht kriegen sie Babys und dann erfrieren ihre Babys und…“ Ariel hielt inne, als sie sah, wie ihrem Vater die Farbe aus dem Gesicht wich.
„Ach Schatz, wenn deine Mama die beiden sieht, wird sie nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen“, sagte Henry, während er die beiden ein Meter langen Kornnattern betrachtete, die zusammengerollt in der Mitte von Carmens Bett lagen.
„Deswegen habe ich in letzter Zeit bei Ariel geschlafen“, flüsterte Carmen und betrachtete die Schlangen. „Ich glaube, sie würden nicht wollen, dass ich bei ihnen schlafe.“
Henry blickte seine jüngste Tochter an und versuchte, bei ihrem ernsten Gesichtsausdruck nicht zu lachen. Schnell warf er die Decke wieder über die zwei Schlangen, als er die Schritte seiner Frau im Flur hörte. Er legte seinen Finger an die Lippen, um den Mädchen zu verstehen zu geben, dass sie nichts verraten sollten, und wandte sich dann zu seiner aufgebrachten Frau um.
„Was ist jetzt los?“, fragte Henry und bemühte sich, nicht loszulachen.
„Das ist nicht witzig, Henry! Ariel, was hast du sonst noch hier versteckt?“, fragte Anna und stemmte ihre Hände in ihre kurvigen Hüften.
„N … nichts“, flüsterte Ariel und blickte zu ihrer Mutter auf.
„Ich habe gerade mit Paul Grove gesprochen. Wie es scheint, weiß er nicht, wo seine Tochter ist. Ihr wisst nicht zufällig etwas darüber, oder?“, fragte Ariels Mutter streng.
Diesmal füllten sich Carmens Augen mit Tränen. „Aber Mom, sie will unsere Schwester sein und Schwestern sollten zusammenleben. Wir werden uns gut um sie kümmern. Ich verspreche es! Ich habe sogar mein Abendessen mit ihr geteilt“, schluchzte Carmen.
„Oh Gott!“, sagte Henry leise und kicherte. „Wo habt ihr sie diesmal versteckt?“
Ein leises Geräusch, das aus dem Schrank kam, erregte plötzlich die Aufmerksamkeit von allen. Ariels Mutter ging zum Schrank. Vorsichtig öffnete sie ihn und zog die Tür weiter auf, sobald sie sich sicher fühlte. Ein kleines Mädchen mit lockigem Haar lächelte ihnen unschuldig entgegen. Sie saß auf einem Stapel gefalteter Decken und hatte eine Flasche Wasser und ein paar Kekse neben sich. Auch Ariels Prinzessinnenkissen und Carmens Glühwürmchenpuppe lagen neben ihr.
„Hi, Mrs. Hamm“, sagte Trisha und blickte lächelnd zu Anna auf.
Dreißig Minuten später sahen Ariel, Carmen, Henry und Anna zu, wie die Rücklichter von Paul Groves Pick-up sich langsam die lange Kiesauffahrt hinunterbewegten. Ariel ließ die Schultern sinken. Sie legte einen Arm um Carmen, die immer noch weinte, weil ihre große Schwester weggefahren war. Anna bückte sich, hob die kleine Carmen in ihre Arme, knuddelte sie und wandte sich dann um, um wieder ins Haus zu gehen. Als sie die Tür öffnete, kräuselte sie die Nase, da ihr ein strenger Geruch von drinnen entgegenschlug.
„Oh Himmel!“, rief Anna und hielt sich mit ihrer freien Hand die Nase zu. „Ich dachte, du hättest das restliche Sauerkraut draußen in die Mülltonne geworfen.“
Henry runzelte die Stirn und ging schnüffelnd durch das Haus. „Habe ich auch. Der Müll wurde heute Morgen abgeholt.“
„Oh, das ist nicht das Sauerkraut“, sagte Carmen, die schnüffelte und sich dann die Nase zuhielt. „Das sind die neuen Katzenbabys, die Ariel gefunden hat. Die mit dem hübschen weißen Streifen auf dem Rücken. Sie sind in der Waschküche.“
Henry konnte sich das Lachen nicht länger verkneifen. „Ich suche sie und bringe sie nach draußen“, sagte er, als seine Frau sich umdrehte und wieder nach draußen ging, wobei sie resigniert den Kopf schüttelte.
„Aber Daddy, sie brauchen mich!“, rief Ariel kläglich, während sie ihrem Vater ins Haus folgte.