Kapitel 1

1873 Parole
1 Ich sprudele fast vor Glück über, als ich am Strand entlanggehe und dabei Phoes schlanke Hand halte. Die Höhepunkte unserer Aktivitäten spielen sich vor meinem inneren Auge ab: in der Sonne herumtoben, Bücher lesen, Musik hören, Filme anschauen, im warmen Meer schwimmen, Phoes köstliche kulinarische Erfindungen essen und viele intime Dinge tun, die die Einwohner von Oasis als mehr als obszön ansehen würden. Wir haben gefühlte Wochen damit verbracht, hier, in dem Strandparadies, das Phoe geschaffen hat, die oben genannten Dinge zu tun. Ich bin gerade ein hochgeladenes Gehirn – ein animierter Speicherauszug –, aber das macht den Spaß nicht weniger real. In dieser ganzen subjektiven Zeit hier sind in der echten Welt in Oasis, in der mein biologischer Körper in seinem Bett schläft, nur wenige Minuten vergangen. Theoretisch könnten wir das die ganze Nacht lang tun, was hier an diesem Ort Jahren entsprechen würde. Das bringt mich zum Nachdenken, und ich frage sie: »Werde ich morgen früh erschöpft sein, wenn ich die ganze Nacht hier verbringe? Oder schläft mein Körper unabhängig davon, was diese Version meines Gehirns tut?« »Du wirst ausgeruht sein.« Phoes Stimme ist genauso klar wie die schäumende Brandung, die meine Füße umspült. »Das wird sich wie der längste Traum anfühlen, den jemals jemand gehabt hat.« »Cool«, murmele ich, und wir gehen einige weitere Minuten am Wasser entlang. Ich konzentriere mich auf das angenehme Gefühl des Sandes unter meinen Füßen, den scharfen Geruch nach Seetang und mehr als alles andere auf die Tatsache, dass sich Phoes zierliche Hand in meiner befindet. Während ich über das unendliche Meer schaue, scheinen unsere jüngsten Schwierigkeiten ganz weit weg zu sein. Es ist kaum zu glauben, dass es erst drei Tage her ist, dass ich die schrecklichen Ereignisse des IRES-Spiels erlebt habe und von Jeremiah gefoltert wurde. Die irrsinnigen Dinge, die am Tag der Geburten geschehen sind, sind sogar noch schwerer zu begreifen. Phoe vergessen zu müssen, um die Linse der Wahrheit auszutricksen, mit der Scheibe zum schwarzen Gebäude zu fliegen, diesen entsetzlichen Test durchzustehen – das alles scheint in diesem Moment unglaublich weit weg zu sein. Selbst zu erfahren, dass die Ratsmitglieder nicht sterben, sondern zu einem Ort aufsteigen, den sie Paradies nennen – ein Ort, der der virtuellen Welt gleicht, die ich gerade genieße –, fühlt sich wie etwas an, was vor langer Zeit geschehen ist. Die Anspannung in Phoes Hand lässt die Seifenblase meines Tagtraums zerplatzen, und ich drehe mich zu ihr um, um sie anzuschauen. Sie ist stehen geblieben und hat einen eigenartigen Gesichtsausdruck. Bevor ich die Gelegenheit bekomme, sie zu fragen, was los ist, zieht sie ruckartig ihre Hand aus meiner und umfasst beschützend ihren Kopf, während sich ihr Gesicht schmerzhaft verzieht und sie einige Schritte zurückgeht. Mein Puls rast. »Phoe?« Ich gehe auf sie zu. Sie zieht sich weiterhin zurück, ohne die Hände von ihrem Kopf zu nehmen. »Irgendetwas passiert gerade«, sagt sie durch zusammengebissene Zähne. »Es betrifft ganz Oasis –« »Hallo«, unterbricht uns eine eigenartige, gurgelnde Stimme. »Ich sollte kein Problem damit haben, dich hier, in dieser kleinen Umgebung, genauso leicht zu zerstören wie überall sonst.« Ich blicke mich hektisch um. Niemand außer uns ist hier, aber ich erkenne diese Stimme. Sie ist eine jüngere Version von Jeremiahs, auch wenn sie sich anhört, als käme sie von unter dem Wasser. »Theodore«, sagt er mit dieser komischen Stimme. »Ich muss sagen, dass es mich überrascht, dass du mit diesem zukünftigen Nichts zusammenarbeitest.« »Was geht hier vor sich, Phoe?«, denke ich und kämpfe gegen einen plötzlichen Schwindelanfall an. »Ist das ein Witz?« Bevor Phoe mir antworten kann, schimmert der Sand rechts neben mir und erhebt sich, so als würde ihn ein kräftiger Wind von unten nach oben blasen. Der Sand formt eine kleine Düne und verwandelt sich in eine trübe, dicke, fast flüssige Substanz. Ich erinnere mich daran, gelesen zu haben, dass Glas aus Sand hergestellt wird, und einen Augenblick lang frage ich mich, ob ich genau das sehe – eine Art geschmolzenes Glas. Worum auch immer es sich bei dieser Substanz handelt, sie beginnt zu erstarren und eine Form anzunehmen. »Das ist wirklich übel«, flüstert Phoe in meinem Kopf, und ich bekomme das Gefühl, dass ihre Stimme zittern würde, wenn sie laut spräche. »Warum?« Ich versuche, nicht in Panik zu verfallen. »Was ist das –« Ein Rascheln links von mir zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich drehe mich herum und sehe, dass sich der Sand dort ebenfalls in diese Flüssigkeit verwandelt. Ich will gerade meine Frage wiederholen, als ich ein weiteres Rascheln rechts von mir höre und mir auffällt, dass auch dort das Gleiche mit dem Sand geschieht. Mit hämmerndem Herzen blicke ich zu Phoe. Sie starrt dieses flüssige Zeug hinter mir mit einem so alarmierten Gesichtsausdruck an, dass er bereits an Entsetzen grenzt. Ich folge ihrem Blick und muss einige Male blinzeln. Jetzt ist es möglich, die wirkliche Form der Flüssigkeit ganz rechts zu erkennen – nicht, dass dieses »wirklich« Sinn ergeben würde. Die Düne ist jetzt viel größer, und anstatt an geschmolzenes Glas erinnert sie mich an Quallen. Ich erkenne die vage Andeutung eines menschlichen Gesichts an der höchsten Stelle dieses formlosen Haufens, und es sieht ein wenig wie Jeremiahs aus – auch wenn mir das vielleicht nicht aufgefallen wäre, wenn ich nicht seine Stimme gehört hätte. Das Wesen beginnt, sich hin- und herzuschaukeln, wie es scheint, um sich fortzubewegen. Wo diese Abscheulichkeit den Sand berührt, verwandelt sich dieser in das gleiche zähe, klare Protoplasma, aus dem die Kreatur besteht. Ich blicke mich hektisch um. Der gleiche Prozess findet überall um mich herum statt, auch wenn der Jeremiah-Haufen hinter mir sich erst im Frühstadium seiner gelatineartigen Entwicklung befindet. »Phoe, hast du das erschaffen?«, frage ich mit verzweifelter Hoffnung. »Ist das deine Vorstellung von Spaß – einen Jeremiah zu erschaffen, der mit einer riesigen Amöbe gekreuzt wurde?« »Nein, das ist nicht mein Werk.« Phoes Stimme ist angsterfüllt. »Und anstatt das hier mit einer Bakterie zu vergleichen, ist es wahrscheinlich richtiger, zu sagen, dass es sich um einen Virus handelt.« »Ein Vi …« Ich werde von Phoes plötzlichen Bewegungen unterbrochen. Sie gestikuliert, und ein Objekt erscheint in ihrer Hand. Es sieht aus wie eine Kreuzung aus einem altertümlichen Staubsauger und einer Panzerfaust. Sie richtet sie auf den Jeremiah-Haufen ganz rechts – den größten – und drückt ab. Mit einem Aufschrei wird die eigenartige Kreatur in Phoes Waffe gesaugt. Sobald sie verschwunden ist, zielt Phoe mit der Waffe etwa einen Meter von sich entfernt auf den Sand und drückt erneut ab. Als ein Strahl ekelerregender Flüssigkeit ergießt sich die Kreatur halb fliehend, halb fallend auf den Sand, wobei sie auf dem Weg dorthin in kleine Stücke zerfällt. Wo die Tropfen des Protoplasmas hinfallen, entsteht ein neuer Haufen. Jetzt, da ich weiß, worauf ich achten muss, sehe ich, dass sich auf allen Haufen Jeremiahs Gesicht formt. Phoe ergreift meine Hand und drückt sie hart, während sie mich über den Sandstreifen zieht, den sie gerade mit ihrem Panzerfaust-Staubsauger freigeräumt hat. Die Jeremiah-Amöben – oder Viren, falls Phoe recht hat – kriechen wie riesige Schnecken hinter uns her. Während sie rutschen, bemerke ich entsetzt, dass der Sand hinter ihnen sich in weitere dieser Kreaturen verwandelt. Phoe lässt ihre Waffe fallen und hebt ihre Hände mit den Handflächen gen Himmel. Ein blendender Blitz folgt auf ihre Geste. Ich kann einen Augenblick lang nichts sehen, aber sobald sich mein Blick klärt, bemerke ich zwei weitere Menschen am Strand. Beide sehen genauso aus wie Phoe. Die beiden Frauen mit den kurzen Haaren betrachten die Schnecken, die sich ihnen nähern. Die Original-Phoe nimmt die Panzerfaust hoch und schießt auf den Haufen, der genau hinter uns kriecht. »Fass diese Substanz nicht an.« Phoe ergreift meine Hand erneut und rennt den schnell schwindenden unverdorbenen Sand entlang, wobei sie mich hinter sich herzieht. Ich muss einfach hinter uns schauen. Die beiden anderen Phoes heben ihre Hände mit der gleichen Geste an, die Phoe benutzt hat, um sie zu erschaffen. Ich blicke weg, aber der Blitz, der diesmal doppelt so hell ist, brennt trotzdem in meinen Augen. Sobald das Licht nachlässt, sehe ich mich wieder um. Es ist keine Überraschung, dass es jetzt vier Phoes gibt. Dann heben die vier Phoes ihre Hände gen Himmel. Ich wende meinen Blick schnell ab und kneife meine Augen fest zusammen, aber ich werde durch den Blitz trotzdem fast blind. Aus den vier Phoes sind jetzt sechzehn geworden. Meine Anführerin zieht ruckartig an meiner Hand, und ich laufe schneller. Ein Schnecken-Haufen befindet sich drei Zentimeter von meinem Bein entfernt, als meine Phoe, die, mit dem Staubsauger in der Hand, ihre eigenartige Waffe dazu benutzt, das Ding aus unserem Weg zu räumen. »Das ist sinnlos«, sagen Jeremiahs Stimmen im Chor. »Du zögerst nur das Unausweichliche hinaus. Ich habe genug von dir gesäubert, um das zu beweisen, oder etwa nicht? Oder macht diese menschenähnliche Instanziierung dich dümmer?« Ich schaue zurück und sehe, dass diese sechzehn Phoes ihm antworten, indem sie ihre Arme in die Höhe heben. Nach einem Blitz, der so hell war wie eine Supernova, vervielfachen sie sich erneut. Dadurch, dass die neue Anzahl immer das Quadrat der vorherigen war, nehme ich an, dass es jetzt zweihundertsechsundfünfzig Duplikate von Phoe gibt, und das scheint auch der Fall zu sein, soweit ich das überblicken kann. Sollten sie das Manöver ein weiteres Mal durchführen, wird es über sechzigtausend von ihnen geben. Der Virus, oder was immer es ist, muss zu dem gleichen Ergebnis gekommen sein und ist entschlossen, das zu verhindern. Gleichzeitig werfen sich die Hunderte von Jeremiah-Instanzen auf die Vielzahl von Phoes. Das ist ein schmerzhafter Anblick. Die Stellen, an denen der Schleim die Haut einer Phoe berührt, verwandeln sich in die ekelerregende schleimige Substanz, und die betroffene Phoe beginnt, von diesem Punkt ausgehend zu klarem Protoplasma zu schmelzen. Das wirklich Entsetzliche ist das Ende dieser Transformation. Jene unglückliche Version von Phoe wird zu einer weiteren Instanziierung dieses Jeremiah-Schnecken-Dings. Die restlichen Phoes warten nicht darauf, das gleiche Schicksal wie ihre Schwestern zu erleiden. Sie führen eine Geste durch, und ein Panzerfaust-Staubsauger erscheint in ihren anmutigen Händen. Sie benutzen die Waffen, um die Wellen von Jeremiahs zurückzustoßen. Die Phoe, die meine Hand hält, schaut zurück und bekommt große Augen. Sie sagt eindringlich: »Das wird nicht viel länger funktionieren. Ich habe diese Version von mir – mit den Erinnerungen an dich – in die DMZ beziehungsweise den Limbus geschrieben. Sollte ich mich jemals wieder von diesem Angriff erholen –« Die Welt erzittert. Ich folge Phoes versteinertem Blick, aber verstehe nicht, was ich da sehe. Das, was ich für ein Meer gehalten hatte, besteht nicht länger aus Salzwasser, sondern aus dem widerlichen Jeremiah-Schleim, der uns auch auf dem Strand umgibt. Wenn mein Herz keine Simulation wäre, hätte es wahrscheinlich bereits aufgehört zu schlagen. Der ganze Ozean beginnt, sich zu verformen. Ein Lachen, so laut wie ein Wirbelsturm, dröhnt in einiger Entfernung, und ein Tsunami in der Größe eines Berges trifft auf den Strand – und mit ihm Millionen Gallonen dieses ekelerregenden Protoplasmas. Es bedeckt die Phoes, die sich kaum noch wehren, und rauscht danach auf die letzte Phoe und mich zu. Sie tritt vor mich, um sich mutig dem Tsunami zu stellen, und schreit: »Ich schreibe dich zurück in dein schlafendes Gehirn.« Sobald ich die Bedeutung ihrer Worte verstehe, verliere ich mein Bewusstsein.
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