Kapitel 1
Gegenwart, Ort unbekannt
Kühle Lippen streichen über meine pochende Stirn und bringen einen schwachen Duft von Kiefer, Meer und Leder mit sich. »Pst … Ganz ruhig. Es geht dir gut. Ich habe dir nur etwas gegeben, um deine Kopfschmerzen zu lindern und das hier einfacher zu machen.«
Die männliche Stimme ist tief, dunkel und seltsam vertraut. Die Worte werden auf Russisch gesprochen. Mein unscharfer Verstand hat Mühe, sich zu konzentrieren. Warum Russisch? Ich bin in Amerika, oder nicht? Woher kenne ich diese Stimme? Diesen Duft?
Ich versuche, meine schweren Lider zu öffnen, aber sie lassen sich nicht bewegen. Das Gleiche gilt für meine Hand, als ich versuche, sie anzuheben. Alles fühlt sich unvorstellbar schwer an, als wären meine Knochen aus Metall und mein Fleisch aus Beton. Mein Kopf rollt zur Seite, da meine Nackenmuskeln das Gewicht nicht mehr tragen können. Es ist, als wäre ich ein Neugeborenes. Ich versuche, zu sprechen, aber ein unzusammenhängendes Geräusch entweicht meiner Kehle und vermischt sich mit einem entfernten Dröhnen, das meine Ohren jetzt wahrnehmen können.
Vielleicht bin ich ein Neugeborenes. Das würde erklären, warum ich so lächerlich hilflos bin und mir keinen Reim auf irgendetwas machen kann.
»Hier, leg dich hin.« Starke Hände ziehen mich auf eine weiche, flache Oberfläche. Nun, das meiste von mir. Mein Kopf landet auf etwas Erhöhtem, das hart, aber bequem ist. Kein Kopfkissen, dafür ist es zu hart, aber auch kein Stein. Das Objekt gibt nicht viel nach, aber es gibt etwas nach. Es ist auch merkwürdig warm.
Das Objekt verschiebt sich leicht, und aus den nebligen Vertiefungen meines Verstandes taucht die Antwort auf das Rätsel auf. Ein Schoß. Mein Kopf liegt auf dem Schoß von jemandem. Jemand männlichem, den stählernen, d**k bemuskelten Oberschenkeln unter meinem schmerzenden Schädel nach zu urteilen.
Mein Puls beschleunigt sich. Auch wenn meine Gedanken träge und verworren sind, weiß ich, dass das nicht normal für mich ist. Keine Schöße oder Männer für mich. Zumindest nicht in meinen bisherigen fünfundzwanzig Jahren.
Fünfundzwanzig. Ich klammere mich an diesen Splitter des Wissens. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und kein Neugeborenes. Ermutigt durchforste ich die verworrenen Erinnerungen und suche nach einer Antwort auf das, was passiert, aber sie entzieht sich mir, da die Erinnerungen nur langsam kommen, wenn überhaupt.
Dunkelheit. Feuer. Ein Dämon wie aus einem Alptraum kommt, um mich einzufordern.
Ist das eine Erinnerung oder etwas, was ich in einem Film gesehen habe?
Eine Nadel sticht tief in meinen Hals. Unerwünschte Müdigkeit breitet sich in meinem Körper aus.
Das letzte Stück fühlt sich echt an. Mein Verstand mag nicht funktionieren, aber mein Körper kennt die Wahrheit. Er spürt die Bedrohung. Mein Herzschlag beschleunigt sich, während das Adrenalin meine Adern füllt. Ja. Ja, das ist es. Ich kann das schaffen. Mit der Kraft des wachsenden Entsetzens öffne ich meine bleiernen Augenlider und blicke in Augen, die dunkler sind als die Nacht, die uns umgibt. Augen in einem grausam schönen Gesicht, das mich in meinen Träumen und Alpträumen verfolgt.
»Kämpf nicht dagegen an, Alinyonok«, murmelt Alexej Leonow. Seine dunkle Stimme klingt verheißungsvoll und bedrohlich zugleich, während er mit seinen Fingern sanft durch mein Haar fährt und die pochende Spannung in meinem Schädel massiert. »Du machst es dir nur noch schwerer.«
Die Ränder seiner Schwielen verhaken sich in meinem langen Haar und er zieht seine Finger heraus, nur um seine Handfläche um meinen Kiefer zu legen. Er hat große Hände, gefährliche Hände. Hände, die allein heute Dutzende von Menschen getötet haben. Von der Erkenntnis dreht sich mir der Magen um, während sich ein Knoten der Anspannung tief in mir löst. Zehn lange Jahre habe ich mich vor diesem Moment gefürchtet, und jetzt ist er endlich da.
Er ist hier.
Er ist gekommen, um mich einzufordern.
»Nicht weinen«, sagt mein zukünftiger Mann sanft und streicht mir mit der rauen Kante seines Daumens die Nässe aus dem Gesicht. »Es wird nicht helfen. Das weißt du.«
Ja, das weiß ich. Nichts und niemand kann mir jetzt helfen. Ich erkenne dieses ferne Dröhnen. Es ist das Geräusch eines Flugzeugmotors. Wir befinden uns in der Luft.
Ich schließe meine Augen und lasse mich von der dunstigen Dunkelheit einnehmen.