Kapitel 3-2

1697 Parole
Das Auto setzt mich bei unserem Gebäude ab, einem bescheidenen Wolkenkratzer mit hundertfünfzig Stockwerken. In die Wohnung zu gehen ist seltsam, nachdem ich weg war. Das Erste, was mir auffällt, ist wie immer, wie wenig Persönlichkeit Mama dem Ort verliehen hat. Die Wände sind kahl, und die Küche ist makellos sauber. Es gibt Ausstellungsräume in Möbelgeschäften mit mehr Ausstrahlung. Wenn ich Mamas Schlafzimmer betreten würde, wäre es noch fader – nur Wände und ein Bett. Manchmal frage ich mich, ob Mama dachte, dass sie mir durch das Dekorieren aus Versehen ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit verraten könnte. Ich betrete mein eigenes Zimmer. Wie in meiner virtuellen Realität – und der Traumwelt – habe ich eine Menge Kunst, die visuelle Paradoxe und surreale Szenarien zeigt. Arbeiten, die an die Werke von M. C. Escher und Salvador Dalí auf der Erde erinnern, laufen über die Bildschirme, die die Wände meines Zimmers bilden. Auf dem alten tragbaren Bildschirm, den ich mir von Mama geliehen habe, sehe ich das Cover des Lehrbuchs über Videospieldesign, das ich gelesen habe, bevor mein Leben auf den Kopf gestellt wurde. Mein ungemachtes Bett schwebt dank Magneten und Supraleitung ein paar Zentimeter über dem Boden, und es sieht lächerlich einladend aus. Ich schätze, diese vier Monate ohne Schlaf lasten immer noch auf mir. Gähnend überprüfe ich, ob Valerian geantwortet hat. Das hat er nicht. Ich schätze, ich könnte die Wartezeit genauso gut nutzen, um meine Schlafschulden abzubauen. Ich stelle meinen Kommunikator so ein, dass er laut klingelt, wenn ich eine Nachricht erhalte, und lege einen Alarm fest, damit ich meinen Termin bei Dr. Cipactli nicht verpasse. Ich bezweifele, dass ich Letzteres brauche – es würde bedeuten, dass ich über zwanzig Stunden schlafe. Trotzdem, besser auf Nummer sicher gehen. Ich nehme einen Hygieia-Stab, desinfiziere mich ordentlich und stürze mich auf das Bett. Sofort entspannen sich meine verspannten Muskeln. Die besten Kaltschaummatratzen der Erde sind ein Witz, verglichen mit den intelligenten Betten auf Gomorrha. Ich fühle mich, als wäre ich in eine Wolke gehüllt, und das schwebende Gefühl vervollständigt diese Illusion. Es überrascht nicht, dass ich schneller einschlafe, als wenn ich Schlafgas eingeatmet hätte. Ich wache auf, als der Alarm ertönt. Verdammter Mist. Ich habe bis zum nächsten Tag geschlafen, und jetzt muss ich mich beeilen, um zu meinem Termin mit Dr. Cipactli zu kommen. Ich benutze glücklich mein sehr hygienisches und umweltfreundliches Badezimmer. Mein unbeliebtester Teil der Erde ist all das schmutzige Wasser, das als Teil der Rohrleitungen verschwendet wird. Das einzige Wasser, das wir auf Gomorrha haben, ist das Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, und ich trinke es mit Begeisterung. Als Nächstes reinige ich meinen Körper und meine Zähne mit Hygieia, ziehe ein schlichtes schwarzes Shirt und eine dunkle Cargohose an – eines meiner vielen Outfits, die so sind, dass sie sowohl zur Erde als auch zur Gomorrha-Mode passen – und stürze mich aus dem Haus. Sobald ich auf der Straße bin, hole ich mir Manna und springe in ein selbstfahrendes Auto. Ich knabbere an der Leckerei und stelle fest, dass ich in über zwanzig Stunden Schlaf keinen einzigen Traum hatte. Überhaupt fühle ich mich großartig. Viel besser als vor meinem Schlaf – was mir sagt, dass ich die gesamten zwanzig Stunden, wenn nicht sogar mehr, gebraucht habe. Das Auto hält an und ich gehe zu Dr. Cipactlis Büro. »Ich habe einen Termin«, sage ich der Elfensekretärin. Mit einem höflichen Lächeln drückt sie irgendeinen Knopf, den nur sie in ihrer virtuellen Realität sehen kann. »Einen Moment.« Ein paar Sekunden später tritt der größte Zwerg, den ich je gesehen habe, aus dem nahegelegenen Büro. Zwerge werden in der Pubertät groß und schrumpfen dann, wenn sie älter werden, also muss dieses Exemplar jung sein – was bei der typischen Lebenserwartung der Zwerge immer noch ein Alter von bis zu tausend Jahren bedeuten kann. Wie die meisten anderen Zwerge muss auch dieser eine spezielle Maske tragen, da sie auf Welten mit einer Luft, die etwa zwanzig Prozent Sauerstoff enthält – wie die Erde und Gomorrha –, Atemprobleme haben. Laut Itzel sind es diese Probleme mit der Atmung, die die Zwerge anfangs dazu getrieben haben, Technologie zu erforschen. Dr. Cipactlis Maske ist insofern ungewöhnlich, als dass man unter der schwarz glänzenden Oberfläche nicht wirklich viel von seinem Gesicht sehen kann. Wenn Felix hier wäre, wette ich, er würde sagen, dass diese Maske Dr. Cipactli aussehen lässt wie Darth Vader. »Bailey«, sagt er mit einer tiefen Stimme, die durch die Maske verzerrt wird, was den Vader-Vergleich verstärkt. »Es ist ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Er streckt seine Hand in einem erdähnlichen Gruß aus. Ich ignoriere das angebotene Körperteil und mache einen Knicks – was mich normalerweise Haut-zu-Haut-Kontakt vermeiden lässt. Es funktioniert. Dr. Cipactli neigt den Kopf und sagt: »Kommen Sie in mein Büro.« Ich folge ihm hinein und muss blinzeln. Seine Wandbildschirme zeigen Diashows mit horrorfilmwürdigen Bildern, die mich an die Kreaturen erinnern, denen ich in den Subträumen begegnet bin. »Ich untersuche Alpträume«, erklärt er mir, als er mein Entsetzen bemerkt. »Deshalb war ich aufgeregt, als Dr. Xipil mir von Ihrem Fall erzählt hat.« Ich setze mich auf einen schwebenden Stuhl und überschlage die Beine. »Oh?« Er betrachtet mich, als wäre ich eine Berühmtheit – oder ein exotischer Käfer. »Ich habe noch nie einen Traumwandler getroffen.« Ich lächele unbehaglich. »Wir sind ziemlich selten.« »Außerordentlich.« Er setzt sich hinter seinem Schreibtisch. »Deshalb hoffe ich, dass Sie statt der Bezahlung Ihre Macht demonstrieren werden.« Bezahlung, richtig. Auch dieses hier ist kein Gratis-Krankenhaus. Ich stelle meine Beine wieder nebeneinander. »Das würde ich gerne tun. Das einzige Problem ist, dass Sie ein Zwerg sind. Sie sind nicht der erste, der mich darum bittet, und ich werde Ihnen das Gleiche sagen, das ich auch den anderen gesagt habe: Es kann funktionieren oder auch nicht.« Zwerge sind dafür bekannt, dass sie gegen viele Cogniti-Kräfte immun sind. Bezirzen funktioniert bei ihnen nicht, Trickser können ihr Schicksal nicht direkt beeinflussen, Illusionisten können sie nicht dazu bringen, ihre Illusionen zu sehen, Seher können sie in ihren Zukunftsvisionen nicht sehen – die Liste geht immer weiter. Dr. Cipactli nickt eifrig. »Die Resistenz der Zwerge gegen das Traumwandeln ist der Grund, warum ich das ausprobieren möchte. Meine Großmutter sagte mir, dass es funktionieren würde, wenn ein Zwerg zustimmt – aber sie erklärte es nicht weiter. Als ich erwachsen wurde, merkte ich, dass das, was sie sagte, keinen Sinn ergibt. Wenn ich schlafe – und daher bewusstlos bin – wie kann ich meine Zustimmung geben?« Hmm. Interessant. »Vielleicht stimmen Sie zu, dass ich in Ihnen traumwandle, wenn Sie wach sind?« »Vielleicht.« Er reibt den Kinnteil seiner Maske. »Aber würde Ihnen das nicht unbegrenzten Traumzugang für immer und ewig geben? Oder kann ich meine Einwilligung widerrufen, nachdem ich aufgewacht bin? Oder vielleicht sogar während der Traumwandler-Sitzung selbst?« Ich lächele. »Jetzt bin ich tatsächlich neugierig darauf, es auszuprobieren.« »Ausgezeichnet.« Er springt auf. »Wie wäre es, wenn wir es gleich jetzt versuchen?« »Eine Sekunde.« Ich wende mich von ihm ab und benutze Pom, um in die Traumwelt hinein- und wieder herauszugehen. Gut. Meine Kräfte haben sich erholt. Ich drehe mich wieder zu ihm um. »Jetzt ist alles in Ordnung. Haben Sie einen Platz zum Schlafen?« »Das ist eine Schlafklinik«, sagt er und geht zur Tür. Ich folge ihm durch einen Korridor und in eine große Halle voller schwebender Betten. Auf jedem Bett ist ein Schlafender. Manche hängen an Infusionsbeuteln, andere nicht. Viele sind auch an ihr Bett gefesselt, wie gefährliche Verrückte. Was zum Teufel …? Dann erkenne ich jemanden davon, und die Dinge werden klarer. Es ist Gertrude, die New Yorker Stadträtin, die mich abgrundtief hasst. Sie leidet an einem Zustand, der sich wie eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung anhört – was sich schlecht mit ihrer Fähigkeit vereinbaren lässt, jedem, den sie berührt, Wundbrand zu verpassen. Das muss auch bei den anderen gefesselten Patienten der Fall sein: Sie haben einige gefährliche Schlafstörungen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass Gertrude diese Klinik gefunden hat. Ich habe kürzlich erfahren, dass sie jemanden, der ihr wichtig war, im Schlaf getötet hat, also wäre es gut, wenn sie die Hilfe bekommt, die sie braucht. Ich hoffe nur, dass sie nicht aufwacht und mich sieht – sie hasst mich nicht nur dafür, dass ich ihr Problem mit meinem Traumwandeln nicht lösen kann, ich habe sie neulich auch noch bewusstlos geschlagen, und sie könnte einen Groll hegen. »Wie wäre es hier?« Dr. Cipactli zeigt auf ein leeres Bett. Ich werfe Gertrude einen vorsichtigen Blick zu. »Ich würde es lieber an einem etwas privateren Ort machen.« Verständnisvoll nickend, führt mich der Zwerg in einen leeren Raum mit einem Bett und medizinischen Geräten, die mich an Mamas Einrichtung erinnern. »Würde das gehen?«, fragt er. »Sicher. Werden Sie in der Lage sein, auf Wunsch zu schlafen, oder haben Sie Schlafgas zur Hand?« »Etwas noch Besseres.« Er zieht einen kleinen Apparat hervor. »Ein Medikament, das für meine Forschung entwickelt wurde. Versetzt das Subjekt direkt in den REM-Schlaf.« Hm. Klingt wie die Droge, die Leal, der Traumwandler vom New Yorker Rat, entwickelt hat. Natürlich hatte das Mittel von Leal eine klitzekleine Nebenwirkung: wer immer sie nahm, wachte nie wieder auf. Ich nehme an, dass Dr. Cipactlis Droge nicht so wirkt, ansonsten bin ich im Begriff, an der seltsamsten Form von assistiertem Selbstmord in der Geschichte teilzuhaben. »Ich muss meine Maske abnehmen, um es zu benutzen«, sagt er ernst. Es liegt ein seltsamer Blick in seinen Augen – vielleicht Verlegenheit? »Würden Sie sie bitte wieder auf mein Gesicht legen?« Ich nicke heftig. Der Zwerg legt sich hin und nimmt seine Maske ab. Der arme Kerl. Ich verstehe jetzt, warum er eine Maske trägt, die so viel bedeckt. Er muss einen Unfall oder so etwas gehabt haben – die rechte Seite seines Gesichts ist von Narben verzogen, die wie eine chemische Verbrennung aussehen. Er richtet den Apparat auf sein Gesicht und aktiviert ihn. Es ertönt ein deutliches Zischen. Das Mittel ist geruchlos und scheint sofort zu wirken. Seine Augen beginnen, sich schnell hinter den Lidern zu bewegen. Ich reinige seine Maske auf beiden Seiten mit Hygieia und setze sie ihm wieder auf. Dann desinfiziere ich auf die gleiche Weise seinen entblößten Unterarm und lege meine Finger darauf. Jetzt geht es los. Ich bin im Begriff, in einem Zwerg zu traumwandeln.
Lettura gratuita per i nuovi utenti
Scansiona per scaricare l'app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Scrittore
  • chap_listIndice
  • likeAGGIUNGI