Kapitel Dreizehn

2135 Words
Der Nachmittag hatte allmählich den Tag übernommen. Das Licht in der Trainingshalle veränderte sich: Das blasse Leuchten der Deckenlampen verschluckte die letzten Sonnenstrahlen, und Echos rollten sanft über den Boden. Die Luft war nun wärmer, aufgeladener – als würden selbst die Wände spüren, dass eine andere Art von Energie zwischen ihnen pulsierte. Das hier war keine Korrektur. Keine Reha. Keine Koordination. Jetzt waren sie hier, um zuzuschlagen. Lennox stand am Rand des Boxrings, vor dem Sandsack. Seine Hände waren bereits fest in gleichmäßige, schwarze Bandagen gewickelt, die Handgelenke perfekt abgeschlossen, symmetrisch. Seine Bewegungen waren präzise und ruhig – aber in seinen Augen pochte eine vertraute, alte Spannung. Keine Angst. Eher Vorfreude. Er konnte seine Kraft endlich einsetzen. Endlich loslassen. Doch zum ersten Mal – nicht, um etwas zu zerstören. Sondern um etwas aus sich selbst aufzubauen. Marcus stand neben ihm. Heute trug er ein anderes Trainer-Gesicht – weniger trockener Sarkasmus, mehr wache Aufmerksamkeit. Er wollte nicht kontrollieren, nur führen. Wie jemand, der wusste: Der Mann, den er trainierte, ließ sich nicht führen. Er hörte nur zu, wenn er sich in seiner Richtung respektiert fühlte. „Drei Runden. Zwei Minuten aktive Schläge, eine Minute Pause. Jedes Mal anderer Fokus“, sagte er ruhig. „Erste Runde: Grundkombinationen. Linker Jab, rechter Uppercut, Körperrotation. Bleib im Rhythmus. Wir zerstören nicht – wir arbeiten.“ Am anderen Ende der Halle, auf der erhöhten Plattform, stand Sloane. Tablet in der einen Hand, ein kleines Notizbuch in der anderen, ihr Stift glitt in schnellen, kompakten Buchstaben über das Papier. Ihr linker Arm war fest an ihre Brust gebunden, vollkommen unbeweglich. Trotzdem blieb ihre Haltung aufrecht – nichts an ihrer Präsenz deutete auf Schwäche hin. Nur auf Wachsamkeit. „Geh einen Schritt zurück, wenn er den Arm überstreckt“, rief sie zu Marcus hinunter. „Die Hüften schließen zu früh. Der Oberkörper folgt nicht richtig.“ Marcus trat einen Schritt zurück, und als Lennox ausholte, lenkte er ihn mit einer Bewegung nach links. „Deine Hüften – lass sie nicht schneller sein als dein Core“, sagte er. „Ich weiß“, murmelte Lennox, ohne aufzuhören. Seine Schläge donnerten gegen den Sack – stark, aber nicht wild. Seine Augen konzentriert, die Schultern arbeiteten, sein Fußspiel schleppte nicht mehr – es trug. Sloane beugte sich über das Tablet und tippte schnell. „Runde eins: Kontrolle gehalten. Schulterwinkel 12 % enger. Saubere Ausgänge. Core nicht überdreht. Stabil. Nicht reaktiv.“ Zweite Runde. Marcus trat näher an den Sack. „Jetzt mischen. Nach dem Uppercut zum Körper schließen, dann lösen. Aus der Schulter rotieren, nicht nur ausweichen. Nutze den Winkel.“ Lennox warf ihm einen Blick zu – ohne Widerstand. Nur das Bewusstsein, dass das kein Vorschlag war. Sein Körper bewegte sich wieder. Der Sack ruckte – nicht nur durch den Aufprall, sondern durch die Absicht dahinter. Der Körper kämpfte nicht mehr gegen sich selbst. „Dein hinterer Knöchel rutscht“, bemerkte Sloane von oben. Ihre Stimme war klar, aber nicht scharf. „Korrigiere deinen Schwerpunkt, bevor die Schulter aus der Bahn gerät.“ Marcus nickte, trat näher und hob leicht die Hand – ein Zeichen an Lennox, seinen Fuß zu prüfen. Er berührte ihn nicht. Musste er nicht. Lennox hatte es schon gespürt. „Okay. Nächste Kombi. Kurze Serie, drei Schläge. Links–rechts zum Körper, raus, wieder rein. Wenn du Kraft hinzufügst, lass sie aus dem Boden steigen. Schlag nicht aus der Schulter – beginn bei den Knöcheln.“ Bis zur letzten Runde war Lennox in Schweiß getränkt. Das Shirt klebte an seiner Haut, das Haar feucht von der warmen Luft. Doch er hörte nicht auf. Er wankte nicht. Seine Schläge waren jetzt leiser – aber präziser. Das war keine Wut mehr. Das war Arbeit. An sich selbst. Als er fertig war, trat er zweimal zurück. Sah weder zu Marcus noch zum Sandsack. Seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln, seine Brust hob und senkte sich schnell – aber sein Blick… war ruhig. Von der Plattform sagte Sloane nur: „Dein Knie ist heute nicht eingeknickt. Und dein Gesicht hat sich nicht verzogen. Du wusstest, was du tatest.“ Marcus trat zur Seite, rieb sich den Nacken. „Zum ersten Mal ging’s nicht um den Schlag. Sondern um das, was danach kommt.“ Lennox setzte sich auf die Bank, seine Hand glitt langsam von der Brust. Seine Stimme war tief, heiser – aber leise: „Ich wollte nicht, dass es wehtut. Ich wollte es nur rauslassen.“ Sloane sah vom Display auf. Sagte nichts. Nur ein Nicken. Und das genügte. Denn zum ersten Mal arbeiteten sie zu dritt. Und Lennox war nicht mehr allein – weder vor dem Sandsack noch hinter seinem eigenen Körper. Der Nachmittag war schwerer geworden als jeder Moment des Morgens. Das Licht an den Wänden tanzte nicht mehr über den Boden, es warf nur noch Schatten. Die Luft trug das Gewicht des Tages – Schweiß vom Training, Hitze müder Muskelfasern, und etwas anderes. Etwas Gespanntes, voller Erwartung. Nach dem Mittagessen ruhte Sloane nicht. Sie erlaubte sich keine Pause. Wie immer saß sie mit unbewegter Disziplin am Tisch, über ihre Notizen gebeugt, die Schulter fest an die Seite gepresst. Marcus stand neben ihr, und als die Teller leer waren, sprach er schließlich. „Bereit für einen echten?“ Lennox legte die Gabel hin, neigte den Kopf, als hätte er sich verhört. „Einen was?“ Marcus lächelte – ein müdes, undurchschaubares Halb-Lächeln, das nur Trainer tragen, die längst wissen, was kommt, und nur auf die Reaktion warten. „Wir haben jemanden gefunden“, sagte Sloane. Ihre Stimme ruhig, doch in den Augen flackerte etwas Härteres. „Kein Match. Kein Kampf. Nur Reaktion. Schnelle Füße, Reflexe, Positionierung. Heute beobachtest du nicht die Bewegung. Du beobachtest den Menschen.“ „Wer ist es?“ fragte Lennox misstrauisch. „Ein Typ aus einem Madrider Club“, antwortete Marcus. „Vor zwei Tagen mit seinem Trainer angekommen. Hat angeboten einzuspringen, falls wir eine Lücke haben. Heute haben wir eine.“ Lennox fragte nicht weiter. Er stand auf. Der innere Ring der Trainingshalle leuchtete im weichen Licht. Gepolsterte Matten säumten die Seile in dunkleren Tönen, wodurch der Bereich ein wenig abgeschottet wirkte. Im Innern stand ein junger Mann – kleiner als Lennox, aber drahtig, flink auf den Füßen, seine Haltung leicht, die Augen wach wie die eines Jägers in Bewegung. Sloane stand am Ring, während Marcus zu den Seilen ging und Lennox hineinwinkte. „Übertreib’s nicht“, sagte Marcus. „Hier geht’s nicht um Knockouts. Es geht darum, einen unvorhersehbaren Körper zu verarbeiten. Eine fremde Absicht.“ Lennox trat zwischen die Seile. Seine Schuhe schabten leise über die Matte. Er musterte den anderen. Nichts Besonderes. Nicht bedrohlich. Nicht vertraut. Nur… fremd. Und das reichte, um den Reflex auszulösen. Der Junge nickte. Stellte sich vor – spanischer Akzent, klares Englisch. „Daniel.“ Lennox nickte nur. Er brauchte keinen Namen. Die ersten Minuten begannen langsam. Kreisen. Positionieren. Testen. Lennox versuchte, den gelernten Rhythmus zu halten – aber Daniel bewegte sich anders als der Sandsack, anders als ein Schattenbild. Er war nicht nur schneller – er war spielerisch. Veränderte absichtlich das Tempo, um Lennox aus dem Takt zu bringen. Und Lennox… begann langsam, seine Disziplin zu verlieren. Nach dem ersten verfehlten Schlag trat Daniel zurück – nicht aggressiv, sondern reflexhaft. Doch seine Augen wanderten woanders hin. Zum Rand des Rings, jenseits der Seile. Zu Sloane. Daniel starrte nicht. Er grinste nicht. Er sagte nichts. Aber er sah hin. Zu oft. Zu lange. Und das… tief drinnen, auf einer Ebene des Nervensystems… fühlte sich für Lennox falsch an. Als wäre er im Ring nicht der Einzige, der entblößt war. Als wäre jemand anderes sichtbar gemacht worden. Und Lennox’ Körper reagierte jetzt nicht mehr taktisch. Er reagierte instinktiv. Seine nächste Kombination kam schneller. Der Knöchel spannte sich härter. Der Winkel seines Oberkörpers verlor die Lockerheit – und gewann eine Schärfe. Nicht brutal. Nicht grausam. Aber… gezielt. Marcus reagierte fast sofort von der Seite. „Zurück! Nicht reißen! Du kämpfst nicht für jemand anderen!“ Sloane beugte sich über das Display, vergrößerte mit einem Tippen die Bewegungsanalyse. „Hüftwinkel rutscht. Gleichgewicht verloren.“ Marcus rief schon lauter: „Lass dich nicht rausziehen! Das ist Training!“ Aber Lennox hörte sie nicht. Etwas anderes steuerte ihn jetzt. Nicht Daniel. Nicht die Bewegung. Sondern der Moment, als Daniel Sloane ansah. So. Mit dieser Art von Aufmerksamkeit, die nicht die Arbeit sah – sondern die Frau dahinter. Der nächste Schlag war eng. Der Handschuh streifte Daniels Unterarm. Er wich zurück, hob die Hand, ein Signal: genug. Der Ring wurde still. Marcus stürzte hinein, rief Lennox beim Namen – berührte ihn nicht, aber baute mit seiner Stimme eine Wand. „Das war’s. Schluss. Raus.“ Lennox keuchte. Seine Brust hob sich heftig. Sein Blick blieb auf dem Jungen. Sloane rührte sich nicht. Ihr Arm immer noch festgebunden, ihr Körper fast statuenhaft. Doch ihre Augen lagen auf Lennox. Tief. Fest. Und schließlich bewegte er sich. Er stieg zwischen den Seilen hinaus und setzte sich an den Ringrand. Hände auf den Oberschenkeln, den Kopf gesenkt. Er hörte dem Blut in seinen Ohren zu. Dann sagte er leise: „Lass ihn nicht so auf sie schauen.“ Marcus hielt inne. Antwortete einen Moment lang nicht. Dann sagte er nur: „Dann lern, deswegen nicht die Kontrolle zu verlieren.“ Und das sagte alles. Denn es ging nicht mehr um den anderen. Es ging um ihn. Und um die, die angesehen wurde. Der Ring war jetzt leer. Die Seile schwangen noch leicht nach, wie die Erinnerung an Bewegung. Ein Schweißtropfen trocknete in der Ecke der verblichenen Matte. Lennox war gegangen – wortlos, ausgelaugt, so, wie nur jemand geht, der noch nicht weiß, was er fühlt. Sloane stand einen Schritt hinter dem Ring, nahe dem Geräteschrank. Sie hatte das Tablet ausgeschaltet und beiseitegelegt. Jetzt starrte sie nur auf den Boden. Ihr linker Arm noch immer fixiert, die Haltung steif. Steifer als sonst. Marcus trat leise neben sie. Eine Weile sprachen sie nicht. Sie standen einfach da, in der müden Luft, die noch von der Spannung des Rings durchdrungen war. „Es war nicht die Übung, die schiefging“, sagte Marcus leise. „Ich weiß“, antwortete Sloane, ohne aufzusehen. „Es war die Kontrolle. Nicht technisch. Mental.“ Marcus nickte, sah dann zur Seite, als zögere er, etwas zu früh, zu direkt zu sagen. „Fällt dir auf, wenn er dich ansieht?“ Sloane hob langsam den Blick. Ihre Stimme blieb neutral. „Beim Training?“ „Nicht nur dann“, sagte Marcus ruhig. „Oft. Zu oft. Er sucht keine Anweisung. Er will keine Zustimmung. Er… sieht dich an.“ Stille. Der Satz hing zwischen ihnen, wie etwas, das keiner zuerst aussprechen wollte. Schließlich brach Sloane das Schweigen. „Er orientiert sich. Noch unsicher. Ich bin der Fixpunkt.“ Marcus schüttelte leicht den Kopf. Nun sah er sie direkt an. „Du bist kein Fixpunkt, Sloane. Du bist das Gefühl von Sicherheit. Und das… ist etwas anderes. Das ist kein praktischer Fokus. Das ist Bindung.“ Sloane schloss die Augen. Drehte den Kopf leicht – nicht vor Scham, sondern nachdenklich. Als hätte sie es geahnt, aber sich nicht erlaubt, es einzugestehen. „Glaubst du, dass er es weiß?“ fragte sie leise. „Nein. Noch nicht. Aber er ist nah dran. Heute zum Beispiel... er hat nicht wegen eines Angriffs die Kontrolle verloren. Sondern wegen der Art, wie Daniel dich angesehen hat.“ Ein feiner Muskel in Sloanes Gesicht zuckte. „Unreife Reaktion. Reflex. Abwehrmechanismus.“ „Oder instinktiver Beschützerdrang“, korrigierte Marcus ruhig. „Der, wenn man ihn nicht steuert, ihn im Ring zerstören wird. Oder die Dynamik zwischen euch beiden.“ Sloane seufzte. Etwas in ihrer Schulter bewegte sich – nicht vor Schmerz, sondern unter der Last des Gedankens. „Ich habe nichts zugelassen“, sagte sie schließlich. „Keine Grenzüberschreitung. Keine Nähe. Ich habe die Linie gehalten.“ „Ich weiß“, nickte Marcus. Hast du. Stille. „Aber er steht nicht mehr auf dieser Linie.“ Sloane blieb noch eine Weile dort stehen. Blickte zum Ring, wo sie noch Stunden zuvor das Tempo bestimmt hatte – aus der Distanz, präzise, fest. Doch jetzt… war nicht mehr klar, was jenseits der Bewegung lag. „Was machen wir jetzt?“ fragte sie leise. Marcus lächelte. Nicht spöttisch. Nicht leichtfertig. Sondern so, wie nur jemand lächelt, der das schon einmal gesehen hat. Bei anderen. „Zuerst – nichts. Wir beobachten. Lass ihn arbeiten. Lass ihn Fehler machen. Und wenn er es endlich begreift… dann muss er entscheiden, was er damit anfängt.“ Sloane antwortete nicht. Sie nickte nur. Und in diesem Moment wusste sie bereits: Lennox Graves lernte nicht nur seinen Körper neu. Er lernte seine Gefühle neu. Und das... war der härtere Kampf.
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