Kapitel Acht

2498 Words
Das sanfte Vibrieren des Weckers versuchte, selbst von unter dem Kissen, seinen Weg bis in ihre Knochen zu finden. Sloane öffnete die Augen, hob den Kopf jedoch nicht. Eine Weile lag sie einfach regungslos da, das Gewicht der Nacht noch auf ihrer Brust. Der Raum war kühl, fahles Morgenlicht sickerte durch die Ritzen des Fensters. Die Stille fühlte sich jetzt anders an. Nicht friedlich—angespannt. Eine, die man nicht mit plötzlichen Bewegungen brach—nur sorgfältige, überlegte Routinen machten sie erträglich. Sie stand auf. Ihr Knie protestierte nicht laut, aber sie musste innehalten, bevor sie ihr volles Gewicht darauf verlegte. Die Schulter zog noch, doch der Schmerz war stumpfer. Sloane seufzte nicht. Sie fluchte nicht. Sie hatte schlicht gelernt, jede Bewegung ökonomisch auszuführen. Als rationiere sie ihren Willen. Sie ging ins Bad. Wusch sich das Gesicht. Bürstete ihr Haar. Kein Make-up nötig—es war nicht diese Art von Tag. Sie zog ein schlichtes graues Trainingstop und schwarze Sporthosen an. Nicht ihre bequemsten Sachen, aber sie schufen Distanz. Und genau das brauchte sie jetzt. Keine Weichheit. Grenzen. Auf dem Weg zur Küche begrüßte sie jeder Gegenstand, jede Fliese wie ein alter Gefährte. Die Kaffeemaschine klickte leise zum Leben, die Stahlpfanne begann mit einem Flüstern auf dem Herd warm zu werden. Sloane portionierte Öl, Eier, Gemüse. Schnitt eine Banane. Schnitt Avocado. Toastete Brot und bestreute es mit Chiliflocken. Ein Protein-Smoothie, zwei Eiswürfel, genau wie das Protokoll es empfahl. Da war keine Geste darin. Keine Emotion. Nur Funktion. Denn das war ihr Job. Und selbst wenn Lennox sie anschrie, wegstieß, ihr schneidende Worte ins Gesicht warf—sie würde ihren Job trotzdem machen. Es ging nicht um Gefühl. Es war eine Entscheidung. Sie stellte das Frühstück auf ein separates Tablett, am fernen Ende der Arbeitsplatte. In der Mitte der Küche blieb sie einen Moment stehen. Ihre Hand ruhte auf dem Smoothieglas. Ihr Blick glitt zur Flurtür. In die andere Richtung: Lennox’ Zimmer. Ein Teil von ihr hoffte, er würde nicht herauskommen. Dass sie ihn nicht sehen musste. Ihm nicht in die Augen schauen musste. Aber etwas anderes… etwas Hartnäckigeres in ihr wünschte sich, dass er es täte. Dass er herauskäme. Sie ansähe. Und versuchte zu glauben, dass sie trotz allem noch da war. Sie nahm ihren eigenen Teller, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Jede Bewegung abgemessen, bedacht, diszipliniert. Keine Hast. Kein unsicheres Blinzeln. Für einen Außenstehenden hätte sie vollkommen beherrscht gewirkt. Aber innerlich… war jeder Bissen ein neuer Kampf. Nicht gegen den Schmerz. Sondern gegen die Versuchung, sich abstumpfen zu lassen. Die morgendliche Ruhe war wie eine perfekt kalibrierte Laborwaage: Nichts brachte sie aus dem Gleichgewicht. Jede Bewegung, jeder Bissen war Teil der Routine. Sloane aß. Langsam, stetig, methodisch. Das Glas kehrte immer an denselben Platz zurück, die Gabel tippte sanft gegen den Teller, und auf jeden Schluck folgte eine genaue Anzahl Kauschläge. Denn so kontrolliert man Chaos. So holt man sich Macht zurück, wenn Menschen versagen, aber Systeme nicht. Dann… ein leiser Laut. Schritte im Flur. Lennox erschien im Türrahmen. Und für einen Moment spannte sich alles an. Sloane blickte nicht sofort auf. Sie schluckte einen Bissen hinunter, nippte an ihrem Smoothie. Dann hob sie den Blick—wie jemand, der einen Neuankömmling in einer Besprechung zur Kenntnis nimmt, nicht wie jemand, der am Vorabend aus einem Raum herausgeschrien worden war. Lennox stand auf der Schwelle. Barfuß, in grauen Shorts und einem schwarzen T-Shirt, das er noch nicht ganz übergezogen hatte. Das Haar zerzaust, das Gesicht stoppelig wie selten. Und sein Blick… haftete an Sloane. Als warte er darauf, dass sie wegschaut, die Augen senkt, zurückweicht. Aber Sloane rührte sich nicht. Sie sah ihn einfach ruhig an. Sie schob die Schulter leicht nach vorn, um sie zu schützen—doch selbst das tat sie, als bedeute es nichts. „Morgen“, sagte sie schlicht. Ihre Stimme trug nichts Besonderes. Dieselbe leblos-höfliche Neutralität, mit der man einen Taxifahrer grüßt. Lennox antwortete nicht gleich. „Du…“, begann er, dann verstummte er. Seine Stimme war heiser, leiser. „Warum… warum machst du das?“ Sloane legte die Gabel auf den Teller, richtete sich hinter dem Tisch etwas auf. „Welchen Teil?“ „Das.“ Er deutete auf das Frühstück. „Das Essen. Das… normale Verhalten. Hier sitzen, als wäre nichts passiert.“ Sie hob eine Augenbraue. „Weil nichts passiert ist, was meine Arbeit betrifft. Heute haben wir immer noch einen Trainingsplan, ein Ernährungsprotokoll, einen Plan zur körperlichen Regeneration. Dass du mich anschreist, entbindet mich nicht davon.“ Lennox’ Kiefer spannte sich an. „Du glaubst, es ist mir egal?“, fragte er leise. „Dass ich nicht weiß, was ich getan habe?“ „Ich glaube gar nichts“, entgegnete Sloane. „Und es ist mir egal, ob es dir etwas bedeutet.“ Lennox hielt inne. Sein Blick wanderte über das Frühstück. Die perfekt portionierten Haferflocken, der Smoothie, der Toast. Genau das, was er immer bekam. Wie das, was ein Kämpfer vor der Schlacht bekommt. Keine Versöhnung—Disziplin. „Letzte Nacht…“, setzte er erneut an, doch Sloane hob die Hand. „Lass es. Fang nicht an. Was auch immer du sagen wolltest, ändert nicht, was heute zu tun ist. Dein Körper hat jetzt Priorität. Deine Seele… ist nicht meine Verantwortung, Graves.“ Das letzte Wort fiel wie ein Stempel auf den Tisch. Grenze klar markiert: Du lässt mich nicht rein—ich werde nicht bitten. Lennox’ Gesicht verriet wenig. Aber seine Bewegungen wurden langsamer. Er ging zum Tisch—nicht schnell, nicht selbstsicher—mehr wie jemand, der nicht sicher ist, ob er noch dazugehört. Er setzte sich. Er sagte kein Danke. Aber er begann zu essen. Schweigend. Und es war ihr erstes gemeinsames Frühstück, bei dem die Stille nicht aus Hass geboren war—sondern aus dem Nichtwissen, was als Nächstes kam. Doch sie blieben sitzen. Am selben Tisch. Besteck klang leise gegen Teller. Lennox sagte nichts, aber er aß. Langsam, sorgfältig, präzise. Kein Klappern mit der Gabel, keine hingeworfenen Bissen. Kein Kommentar. Das Frühstück lief mit beinahe militärischer Präzision ab—wie zwei Fremde in einer Kampfzone, die Rationen essen, bevor sie hinausgehen. Nicht füreinander. Nur nebeneinander. Dann knarrte die Flurtür. Sloane erkannte die Bewegung allein am Geräusch. Marcus trat ein, trug diese ruhige, feste Präsenz mit sich, die stets den Raum füllte. Er war in Trainingskleidung: dunkles T-Shirt, Sporthose, eine Thermoskanne in der Hand. Sein Gesicht, wie immer, undurchschaubar—aber seine Augen scannten sofort den Küchentisch. Erst Sloane. Dann Lennox. Dann… das Frühstück. Ein Hauch von Überraschung huschte über sein Gesicht. „Gibt’s doch nicht“, murmelte er, während er hereinkam. „Ich fass es nicht. Graves isst. Freiwillig.“ Lennox blickte nicht auf. Schob lediglich einen Avocado-Toast zur Seite seines Tellers und murmelte trocken: „Schreibt’s in die Geschichtsbücher.“ Sloane nippte an ihrem Smoothie und sah zu Marcus. „Dein Kaffee steht auf der Theke. Noch heiß.“ Marcus ging hinüber, goss in seinen Becher und kehrte an den Tisch zurück. Er setzte sich auf den dritten Stuhl—den, der bisher immer leer geblieben war. Er atmete aus, blickte herum, und seine Stimme hatte einen leicht spöttischen Ton, aber auch echte Verwunderung: „Ich glaub’s nicht. Ein Tisch. Frühstück. Ruhe. Keine Verletzungen?“ Sloane sah auf ihren Teller. „Noch nicht“, sagte sie leise. Marcus nahm einen Schluck und sah dann zu Lennox. Der aß jetzt langsamer. Sein Blick huschte gelegentlich zu Sloane, aber er sagte nichts. Marcus zwang kein Gespräch auf. Er beobachtete nur. „Weißt du“, begann er, „in den letzten vier Jahren habe ich dich vielleicht dreimal frühstücken sehen. Einmal im Trainingslager, zweimal vor Kämpfen—und alle drei Male hast du danach so getobt, dass die Wände noch hallen.“ „Keine Sorge“, erwiderte Lennox mit müder Stimme. „Die Stimmung ist heute auch nicht gerade regenbogenbunt.“ Marcus nickte. „Und trotzdem isst du.“ Er grinste, stellte seine Thermoskanne auf die Theke und ging zur Kaffeemaschine. Während er nachfüllte, warf er Sloane einen schnellen Blick zu—sie saß noch steif da, mit abgemessener Haltung, als beobachte sie nur ein Labor-Experiment. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich wieder und wandte sich mit einem breiten, verschwörerischen Lächeln an Sloane. „Und das ist dein Verdienst, oder? Du hast ihn tatsächlich zum Frühstück gebracht. Das ist… beeindruckend, Quinn.“ Sie quittierte den Kommentar mit einem leisen, höflichen Nicken und wollte sich gerade erheben, als Marcus sich vorlehnte und ihr zustimmend kräftig auf die Schulter klopfte. „Gute Arbeit“, brummte er. Nur… er wählte die falsche Schulter. Die linke. Die, in die Lennox am Vortag getroffen hatte. Sloanes Körper zuckte instinktiv, der Schmerz schoss ihr durch den Leib, als die Berührung genau die wunde Stelle traf. Der Schmerz war nicht neu—aber die Überraschung und die Präzision des Kontakts jagten einen scharfen Stoß durch ihre Nerven. „Ahh!“, zischte sie, griff reflexhaft nach dem Arm, die Hand schoss zur Schulter. Ihre Züge verzogen sich nicht, sie schrie nicht, doch der plötzliche Laut und die Bewegung zerschlugen die Küchensilenz. Marcus’ Hand erstarrte in der Luft, sein Lächeln erlosch. „Verdammt…“, murmelte er und zog die Hand zurück. „Deine Schulter?“ Sloane nickte, ohne ihn anzusehen. Sie hielt den Unterarm vor dem Körper, massierte sanft den schmerzenden Punkt. „Sie ist noch nicht ganz verheilt.“ Lennox’ Gabel verharrte in der Luft. Die Küche fror für einen Schlag ein. Er sprach nicht. Er beobachtete sie nur. Zuerst die Bewegung—wie sie still, fast unsichtbar, versuchte, den Schmerz zu verbergen. Dann die Schulter—er wusste genau, warum sie schmerzte. Und schließlich ihr Gesicht. Es zeigte nichts. Keine Wut. Keine Verletztheit. Keine Schwäche. Nur die gewohnte Kontrolle—jetzt enger als je zuvor. Marcus lehnte sich zurück. „Sorry“, sagte er leise, mit Bedauern. „Reflex. Ich wollte dir gratulieren.“ „Wird zur Kenntnis genommen“, erwiderte Sloane. „Nur schlechtes Timing.“ Lennox legte die Gabel ab. Die Bewegung war nicht laut, aber zu bewusst, um beiläufig zu sein. Sloane stand bereits. Eine Hand auf dem Tisch abgestützt, die andere noch immer an der Schulter. „Training beginnt in dreißig Minuten“, sagte sie leise, aber scharf, von jeder Emotion befreit. „Seid pünktlich.“ Dann drehte sie sich um und ging. Aber Lennox… sah ihr nach. Nicht um sie zu verurteilen. Sondern weil er zum ersten Mal dieses Zischen des Schmerzes nicht aus dem Kopf bekam. Und die Erkenntnis, dass sie—selbst so, selbst mit diesem Schmerz—trotzdem geblieben war, um ihm Frühstück zu machen. Es war keine Schwäche. Es war etwas anderes. Etwas, das er nicht verstand. Und etwas, das ihn… unangenehm menschlich fühlen ließ. Der Laufbereich lag auf der Rückseite des PowerCore-Gym-Komplexes—ein abgeschlossener, privater Abschnitt, umgeben von hoher, dichter Vegetation. Morgens war es hier immer kühler als im Hauptgebäude, und die gummierte Bahn gab jedem Schritt ein weiches, doch festes Feedback. Lennox kannte diesen Boden schon. Doch heute betrat er ihn anders. Sein Sprunggelenk arbeitete eng, die Schultern leicht gesenkt. Neben ihm ging Sloane in völliger Stille, Tablet in der Hand, und zum ersten Mal blickte sie nicht zur Seite. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, ihre Maske aus Professionalität klebte ihr wie eine Rüstung gegen die aufgehende Sonne auf der Haut. Lennox blickte einmal zurück. Dann noch einmal. Er sah die Bewegungen. Ihr linker Arm wurde ein wenig steifer als gewöhnlich gehalten. Ihre Haltung war makellos, doch die kleinen Anpassungen, der überpräzise Rhythmus… verrieten sie. Sie hatte noch Schmerzen. Und doch war sie hier. Vor ihm. Am Bahnrande. Wie eine Kommandantin, die weiterführt, auch wenn ihre Hand schon blutet. „Spur eins“, sagte Sloane sachlich. „Heutiges Intervall: acht Sätze, drei Tempowechsel, 200/400/600 Meter im Zyklus, zwei Minuten Erholungsgehen zwischen den Runden.“ Lennox nickte und begann wortlos mit dem Aufwärmen. Sloane stellte die Uhr, loggte die Einheit im System. Ihre Schulter erinnerte sie bei jeder Bewegung: Die Leute geben aus weit geringerem Anlass auf. Aber sie hatte nicht aufgegeben. Nicht mit siebzehn, nicht nach der Operation, und nicht jetzt. Schritte durchbrachen die Stille. Marcus näherte sich von der anderen Seite der Bahn, in Sportklamotten, Kaffeebecher in der Hand. Als er ankam, warf er Lennox einen kurzen Blick zu—der dehnte sich bereits—und sah dann zu Sloane. Sein Blick blieb an ihrem Gesicht hängen, aber er fragte nicht. Er stellte sich einfach neben sie. „Ich bin zu hungrig, um mich einzumischen“, sagte er heiser. „Aber die Tatsache, dass er hier ist und das durchzieht, ist für sich schon surreal.“ „Er wärmt sich nur auf“, erwiderte Sloane ruhig. „Das Harte kommt noch.“ Marcus nickte. „Und du? Die Schulter?“ „Spielt keine Rolle mehr“, schnitt sie zurück, schneller als beabsichtigt. Ihre Stimme war scharf. Fest. Zu fest. Marcus stellte sie nicht bloß. Aber eine seiner Brauen zuckte, als wolle er sagen: Spiel nicht die Heldin, Quinn. Sloane lehnte sich nur vor und startete den Timer. „Graves, erster Satz! 200 Meter, moderates Tempo! Los… jetzt!“ Lennox schoss wie eine Feder los. Seine Beine schnitten im gleichmäßigen Rhythmus über die Bahn, die Atmung gesetzt. Die Bewegungen waren koordiniert, aber zu eng. Wie jemand, der nicht nur läuft—sondern flieht. Sloane verfolgte ihn an der Seitenlinie, Werte liefen über ihr Tablet: Herzfrequenz, Schrittlänge, Schwerpunktverlagerung. Marcus legte die Hand auf ihre Schulter—diesmal die richtige—und murmelte: „Du weißt, dass er versuchen wird zu zeigen, dass es ihm leidtut.“ „Ich weiß“, sagte Sloane, ohne ihn anzusehen. „Es ist mir egal.“ „Gut.“ Einen Moment herrschte Schweigen. Dann fügte Marcus leise, fast nebenbei hinzu: „Aber mir ist nicht egal, wie sehr es dir noch wehtut.“ Sloane presste den Kiefer aufeinander. Ihre Augen blieben auf dem Display. „Es tut einen Tag lang weh. Zwei, höchstens. Trauma bleibt nicht wegen des Schlages.“ „Sondern weil sich nie jemand dafür entschuldigt?“ „Sondern weil du weißt… dass sie es nie tun werden.“ Das Tablet piepte. Lennox beendete das erste Intervall. Sein Brustkorb hob sich angestrengt, doch er sprach nicht, sah sie nicht an—niemanden. Aber als er vorbeilief… huschte sein Blick zu Sloanes Gesicht. Eine Sekunde. Und in dieser Sekunde war alles da: Schuld, Verwirrung, Trotz. Das Gesicht eines Mannes, der nicht weiß, wie er etwas wiedergutmachen soll, das er sich selbst nicht einmal eingestehen kann. „Nächster Satz, vierhundert Meter!“, rief Sloane. „Jetzt!“ Lennox setzte wieder an. Und Sloane… blieb. Regungslos. Ihre Schulter pulsierte vor Schmerz, doch ihr Körper strahlte unerschütterliche Professionalität aus. Aber an ihrem Gesicht winkelte sich etwas an. Ein Muskel, den sie nicht kontrollieren konnte. Denn dieser Lauf war nicht nur Lennox’ Prüfung. Er war auch zu ihrer eigenen Belastungsprobe geworden.
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