Kapitel 1

2427 Words
1 REBECCA Die Reise war lang gewesen. Würde ich einen Brief an einen geliebten Verwandten aufsetzen, würde ich genau das schreiben. Man beschwerte sich nie oder berichtete von den Unannehmlichkeiten, vor allem nicht, wenn das Schreiben erst Monate später ankommen würde. Aufgrund des Unglücks und der sicheren Verspätung würde ein Brief wahrscheinlich noch vor mir im Montana Territorium ankommen. Seit Chicago war ich allein geritten, ohne Begleitperson. Es wäre am besten gewesen, wenn ich eine gehabt hätte, aber es gab niemanden, den ich kannte, der sich in die Wildnis und unbesiedelte Indianergebiete wagen wollte. Ich wollte dort ebenfalls nicht hinreisen, aber diese Entscheidung stand mir nicht zu. Und so ritt ich auf einem geliehenen Pferd zu der Ranch, um nicht von meinem Ehemann, sondern einem Rancharbeiter begrüßt zu werden. Er hatte mir den Weg zu dem größten der Häuser beschrieben, die sich auf der fast baumlosen Landschaft verteilten. Als ich dieses Mal mein Pferd langsamer werden ließ, wurde ich nicht nur von einem Mann, sondern von vielen begrüßt. Ich hatte keine Ahnung, welcher zu mir gehörte oder – was akkurater wäre – zu wem ich gehörte. Mehrere hatten dunkle Haare, manche blonde, andere waren rothaarig, aber alle waren groß, gut bemuskelt und ausgesprochen gutaussehend. Das waren keine Männer, wie sie sich normalerweise in den Kreisen meines Vaters der Londoner Elite aufhielten. Sie blickten einem direkt in die Augen, hatten eine selbstsichere Haltung und sahen aus, als ob sie das Leben lebten, anstatt es nur vom Seitenrand aus zu beobachten. Diese Männer machten ihre Hände schmutzig, statt jemanden zu bezahlen, die Drecksarbeit für sie zu erledigen. Das machte sie in meinen Augen furchterregend und ziemlich einschüchternd, da mir nicht beigebracht worden war, wie man mit einer solchen Dominanz umgeht. Einer dieser Männer war mein Ehemann? Mein Blick wanderte vom einen zum nächsten, aber keiner trat nach vorne, als würde er mich erwarten. Vielleicht war ich doch schneller als ein Brief gereist. Ein Mann kam die Treppe der Veranda hinab und näherte sich mir. „Guten Nachmittag.“ „Guten Nachmittag“, erwiderte ich mit einem leichten Neigen meines Kopfes. Vier Frauen mit neugierigem, aber gewinnendem Lächeln gesellten sich zu den Männern auf der Veranda. „Willkommen auf Bridgewater. Ich bin Kane“, begrüßte mich der Mann. Ich nickte ein weiteres Mal und umklammerte die Zügel fest, was hoffentlich das einzige äußere Anzeichen meiner Nervosität war. Das war der Moment, auf den ich drei Monate lang gewartet hatte und ich war schrecklich nervös. Ich konnte nicht zurück nach England geschickt werden, da ich rechtlich an einen der Männer aus dieser Gruppe gebunden war. Er würde mich doch sicherlich nicht abweisen und in Schande nach Hause schicken? Konnte er? Ich sollte hier leben in einem Land, das so anders war als mein Heimatland und in diesem Moment konnte ich mich nicht entscheiden, welches Schicksal schlimmer war. „Mr. Kane, ich bin Rebecca Montgomery. Ich bin hier, um Mr. McPherson zu treffen.“ Auf meine Äußerung hin traten zwei Männer nach vorne. Beide waren blond und hatten ein ähnliches Erscheinungsbild, da sie offenkundig verwandt waren, obwohl einer etwas größer, etwas breiter, etwas einschüchternder war und mein Herz höherschlagen ließ. Das war vielleicht der Fall, weil er mich so anstarrte, dass ich den Eindruck gewann, er könnte bis in meine Seele blicken. Sein Blick war so intensiv, dass ich mich fühlte, als würde sein Interesse allein mir gelten. Wenn ein Gewehr feuern würde, bezweifelte ich, dass er auch nur blinzeln würde. „Welchen McPherson suchst du, Mädel?“, wollte der kürzere der zwei Männer wissen. Seine Stimme war tief und klar und klang belustigt. Seine Frage veranlasste mich dazu, meinen Blick von dem anderen abzuwenden. Ich schluckte, da anscheinend einer dieser zwei mein Ehemann war. „Mr. Dashiell McPherson.“ „Was willst du von ihm?“, fragte der Muskulöse. Der Klang seines starken schottischen Akzents verursachte mir Gänsehaut auf den Armen, obwohl mir nicht einmal kalt war. Ich blickte in seine hellen Augen, ignorierte alle anderen und leckte über meine Lippen, während ich mein Kinn leicht anhob. „Er ist mein Ehemann.“ Die Augenbrauen beider Männer schossen bei meinen Worten in die Höhe, offenkundig überrascht über meine Aussage. „Und wie habt ihr geheiratet?“, fragte Mr. Kane neben mir. Er war ebenfalls neugierig, genauso wie die Frauen, die miteinander flüsterten. Bis auf einen oder zwei überraschte Blicke waren die Männer zurückhaltender in ihren Emotionen. War zuvor eine Frau hierhergekommen und hatte behauptet, sie wäre eine Braut? „Mein Bruder, Cecil Montgomery, hat sich darum gekümmert.“ „Ah ja, Montgomery. Ein sehr guter Offizier“, entgegnete der kürzere Mr. McPherson und trat zurück. „Auch wenn du ziemlich reizend bist, habe ich bereits eine Ehefrau.“ Eine liebreizende Frau mit dunklen Haaren kam die Treppe herunter, um sich neben ihn zu stellen. Sie war eindeutig seine Frau und machte das deutlich. Er schlang einen Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Stirn, aber zwinkerte mir zu. „Damit bleibe ich übrig, Mädel.“ Ich drehte mich, um den Mann, der mein Herz so schnell schlagen ließ, anzuschauen. „Ich bin Dashiell McPherson.“ Der verheiratete McPherson war zwar ziemlich attraktiv, aber der, der jetzt vor mir stand, beschleunigte meinen Atem, brachte meine Handflächen in meinen Handschuhen zum Schwitzen und ließ Schmetterlinge in meinem Bauch herumfliegen. Seine Haare waren dunkelblond, an den Seiten kurz geschnitten und oben länger, sodass sie über seine Stirn fielen. Seine stechenden eisblauen Augen hielten meine und ich fühlte mich wie eine Fliege im Spinnennetz. „Vielleicht könntest du das Ganze erklären, denn ich würde mich bestimmt an eine Hochzeitsnacht mit dir erinnern.“ DASH Ich hatte nicht erwartet während des Mittagessens ein verheirateter Mann zu werden. Diese Frau war kein schmächtiges Mädel. Sie saß so aufrecht, als hätte sie an Stelle einer Wirbelsäule einen Zaunpfahl. Ihr Kleid war dunkelgrün, was sich gut von ihrem dunklen Haar abhob und mit ihrer hellen Haut und den üppigen Kurven war sie sehr attraktiv. Nee, sie war wunderschön. Es waren allerdings ihre Augen, die unter dem breiten Rand ihres Hutes hervorblitzten, die die Worte sagten, die sie nicht aussprach. Sie hatte Angst, aber ihr resolut nach oben geneigtes Kinn täuschte darüber hinweg und zeugte von ihrem Mut hierher zu reiten und einen Bräutigam für sich zu beanspruchen. Ihr Akzent war der einer wohlerzogenen englischen Frau von hoher Geburt. Ihre einzige äußere Reaktion auf meinen groben Kommentar war das leichte Verengen ihrer Augen. „Wo ist dein Bruder?“ Wir mochten den Mann alle, sodass wir ihm geschrieben und ihn eingeladen hatten, hier in Bridgewater zu uns zu stoßen. Er hatte bei den hinterlistigen und tödlichen Aktionen unseres befehlshabenden Offiziers nicht mitgemacht und war in der Lage gewesen, nach England zurückzukehren und sein Leben weiterzuführen, ohne seines Ranges oder Rufes beraubt zu werden. Wir hatten gehofft, dass er sich uns anschließen würde und anscheinend verfolgte er genau diesen Plan. Wir hatten allerdings nicht gewusst, dass er eine Schwester mitbringen würde. Ihr Kinn neigte sich sogar noch höher. „Er ist tot.“ Ihre Worte waren deutlich und enthielten keine Spur von Trauer. Montgomery war tot? Sie war viel jünger als ihr Bruder, vielleicht um fünfzehn Jahre oder sogar noch mehr und war während unserer Zeit in Mohamir nie erwähnt worden. Sie wäre damals noch ein Kind gewesen. Vielleicht stammte sie aus einer zweiten Ehe eines seiner Elternteile und war sicher im Kinderzimmer versteckt gewesen? „Ah Mädel, du bist den ganzen Weg allein gekommen?“ Allein die Vorstellung machte mich nervös. „Nicht die gesamte Reise“, sie schüttelte ihren Kopf, „er starb in Chicago.“ „Wie?“ „Er fiel von seinem Pferd. Zuerst war es gar nichts“, erklärte sie, „er hat es lachend abgetan, da er niemand war, der sich von einem Pferd verletzen ließ. Einen Tag später bekam er Fieber und fühlte sich unwohl. Die Anzeichen für einen inneren Schaden waren offensichtlich und er wusste von seinem bevorstehenden Ableben.“ Sie blickte hinab auf ihre in Handschuhen steckenden Hände, die die Zügel umklammerten und hob dann ihren Blick, um meinem zu begegnen. „Wir standen uns nicht nahe, aber er verspürte den Drang mich zu beschützen, da er mich aus England mitgenommen hatte. Als er wusste, dass er sterben würde, wollte er mich nicht allein ohne irgendeine Art Sicherheit zurücklassen. Deshalb hat er mich in der kurzen Zeit, die ihm noch verblieb, mit Ihnen verheiratet. Eine Trauung per Stellvertreter.“ „Und du hast zugestimmt?“ „Meine…meine Wahl war begrenzt“, antwortete sie. Begrenzt oder nicht vorhanden? „Hattest du eine Begleitperson für den restlichen Weg deiner Reise?“ Sie sah mich an, als hätte ich gefragt, ob die Sonne im Westen unterginge. „Natürlich hatte ich eine Begleitperson. Mrs. Tisdale – eine Frau aus Chicago – hat mich den größten Teil der Reise begleitet, bis wir die Postkutsche in der Stadt verließen. Sie hätte sich mir auch für den letzten Teil der Reise zur Bridgewater Ranch angeschlossen, aber sie wollte nicht in einer solch kahlen Umgebung bleiben und bestieg bereits heute in der Morgendämmerung die Kutsche in Richtung Osten.“ Wenn ich mir die weite Ausdehnung des Landes, das zu Bridgewater gehörte und so weit reichte, wie das Auge schauen konnte, betrachtete, konnte ich sehen, dass die Gründe der Frau stichhaltig waren. Es war kahl. Es war einer der Gründe, warum die Stelle von meinen Regimentsfreunden, die das Land als Erste besiedelt hatten, ausgewählt worden war – die Abgeschiedenheit. Das war gut für unsere Gruppe, die versteckt bleiben wollte, aber nicht jeder war dafür gemacht hier zu leben. „Ihr war erzählt worden, dass für fast eine Woche keine weitere Kutsche fahren würde und sie hegte keinerlei Absicht, diese zu verpassen.“ Ich konnte verstehen, dass eine Frau förmlich einer Kutsche hinterherrannte, die sie von hier fortbrachte. Stadtleute hielten es nicht lange im Montana Territorium aus. Was Miss Montgomery – nein, anscheinend war sie jetzt Mrs. McPherson – betraf, so würde nur die Zeit zeigen, ob sie in der Lage wäre, in einem solch fremden Land zu leben. Ihre Stimme hatte den präzisen Akzent einer wohlerzogenen englischen Dame. Die Art, wie sie mit gleichmäßiger und schon fast unterwürfiger Stimme sprach, bestätigte die Vermutung. Das Gesellschaftsleben in London unterschied sich so sehr von dem in Montana wie Kreide und Käse. „Du wolltest nicht mit ihr zurückkehren?“ Sie rümpfte die Nase. „Ich bin nicht so schreckhaft wie Mrs. Tisdale.“ Schreckhaft, ja, aber auch sehr mutig. Nachdem sie in die Falten ihres Rocks gegriffen hatte, zog sie ein gefaltetes Stück Papier heraus und streckte es mir entgegen. „Hier.“ Ich trat näher und nahm es aus ihrer kleinen Hand. Sie war so sittsam und formell, dass sie sorgsam darauf achtete, dass ihre Finger die meinen nicht berührten, obwohl sie in Glacéhandschuhen steckten. Ich entfaltete das Papier und las. Es war tatsächlich eine Heiratsurkunde und sie sah offiziell aus. Ein kleineres gefaltetes Stück Papier lag der Urkunde bei. Es war nicht meine Absicht wegen eines Sturzes vom Pferd zu sterben! Da ich mich in einem fremden Land befinde und Rebecca allein zurücklasse, fiel mir keine andere Art ein, sie zu beschützen, als dass sie sich euch anschließt. Die Rückkehr nach England ist keine Option und ich bin überzeugt, dass du sie gut und ehrenhaft behandeln wirst. Auch wenn ich mich danach sehne, das weite Montana Territorium, von dem du geschrieben hast, zu sehen, schenkt mir das Wissen, dass du sie mit deinem Leben beschützen wirst, Frieden in meinen letzten Momenten. Meine Schwester, eigensinnig und behütet, braucht eine Ehe, die auf den mohamirschen Traditionen und den Werten, die auf Bridgewater gelebt werden, begründet ist. Ich vertraue darauf, dass du dich darum kümmern wirst. Dein Freund, C. Montgomery Ich war verheiratet. Als ich den Brief wieder faltete, warf ich einen Blick zu ihr. Ihr Gesichtsausdruck war kontrolliert und sehr reserviert und sehr englisch. Ich ging davon aus, dass sie nach dem langen Ritt von der Stadt hierher steif wäre. Ich dachte auch, dass sie wegen der vielen neuen Gesichter nervös wäre, aber sie zeigte keine ihrer Emotionen. Es war eine ausgesprochen britische Eigenschaft, vor allem von Frauen, die ihrem Ehemann als Zierde dienen sollten und nicht mehr. Wenn ich sie nach ihrem Wohlbefinden fragen würde, würde sie höchstwahrscheinlich nur einen kurzen Kommentar abgeben, der die Aufmerksamkeit von ihr lenkte. Es war ein Hinweis auf die Erziehung, die sie genossen hatte und absolut nicht die Art Frau, die ich mir als Braut ausgesucht hätte. Sie würde lernen müssen, dass es hier weder erforderlich noch erwünscht war, Emotionen zu verbergen. „Wenn du nicht vorhast, zu fliehen, jetzt da du mich gesehen hast, lass mich dir vom Pferd helfen.“ Da sie im Damensitz ritt, nahm sie meine Hand nur lang genug, um ihr Bein über den Sattelknauf zu ziehen, während ich nach vorne trat und ihre Taille umfasste, um sie auf ihre Füße zu stellen. Sie war weich unter meinen Händen, ihre Taille war wegen eines sehr enggeschnürten Korsetts schmal, aber ich konnte ihre breiten Hüften unter meinen Fingern spüren. Sie war zwar nicht schwer, aber auch kein Leichtgewicht. Tatsächlich war sie eine perfekte Handvoll für einen Mann meiner Größe – und Connors. Ich war sehr groß, größer als der Durchschnitt und als sie stand, reichte sie nur bis zu meinem Kinn. Sie legte den Kopf in den Nacken, um unter dem Rand ihres Hutes zu mir hochzusehen. Ich spürte, wie sie versuchte, sich meinem Griff zu entziehen, aber ich hielt sie einen Moment länger als nötig fest. In dieser Zeit fragte ich mich, wie sie sich ohne die einschränkenden Streben des Korsetts anfühlen würde – ob sie so wunderbar kurvig und üppig sein würde, wie ich es mir vorstellte. Kane führte ihr Pferd zu den anderen an einen der Anbindebalken. Wir waren für das Mittagessen aus verschiedenen Bereichen der Ranch zusammengekommen und würden uns nach dem Essen wieder verteilen. „Da ist ein Fehler auf dem Papier“, sagte ich. Ihre Augen weiteten sich und sie leckte ihre Lippen. „Nein, es gibt keinen Fehler.“ Ihre Stimme klang ein wenig unsicherer als zuvor. Ich hielt meine Hand hoch. „Ich bezweifle nicht die Gültigkeit des Dokuments oder die Absichten deines Bruders, die er mir in seinem Brief schildert. Ich werde beides in Ehren halten. Ich werde dich in Ehren halten.“ Auch wenn ihre Schultern nicht nach vorne sackten, so konnte ich doch ihre Erleichterung spüren. Keine Erleichterung darüber, dass wir verheiratet bleiben würden, aber vielleicht darüber, dass sie nicht abgewiesen wurde. Tausende von Meilen waren ein zu langer Reiseweg, um verschmäht zu werden. „Der Fehler liegt darin, dass nur mein Name als Bräutigam eingetragen ist. Connor“, rief ich. Während ich meine Augen auf Rebecca gerichtet hielt, hörte ich Schritte auf der Holztreppe, dann auf dem festgetrampelten Boden. Rebeccas Augen huschten von mir zu Connor, der jetzt neben mir stand. „Darf ich dir die frühere Miss Rebecca Montgomery, unsere Braut, vorstellen?“ „Unsere…unsere?“ Sie runzelte die Stirn, was das erste Anzeichen für Emotionen war, das sie zeigte. „Ich verstehe nicht.“ „Du bist nicht nur mit mir verheiratet.“ Ich zeigte mit dem Kopf in Connors Richtung. „Du bist auch mit Connor verheiratet.“ Ihr Mund klappte auf, sodass ich eine gerade Linie weißer Zähne sehen konnte, während sie zwischen uns zweien hin und her sah. Als Conner zustimmend nickte, sah ich, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich und sie fiel ohnmächtig direkt in meine Arme.
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