Kapitel11

1000 Worte
Kapitel 11 Maurices Sicht „Sie dürfen nur die Kleidung mitnehmen, die Ihnen die Krankenschwestern gegeben haben“, sagte der Wächter. Ich nickte wortlos. Ich besaß ohnehin nichts anderes. Keine Habseligkeiten, keine Erinnerungsstücke. Nichts aus meinem alten Leben, was mit mir aus dem Meer gerettet worden war. Ich folgte ihm langsam aus dem Krankenflügel. Mein Körper schmerzte noch immer an einigen Stellen, aber ich zwang mich, nicht zu humpeln. Ich wollte nicht, dass jemand meine Schwäche bemerkte. Ethans Villa stand am anderen Ende des Anwesens; sie lag nicht im Zentrum, sondern am Rand, abgeschieden und sehr ruhig. Zu ruhig. Ein hohes schwarzes Tor trennte sie von den anderen Häusern. Nur ein Wächter stand draußen, was für das Haus eines Alphas keinen Sinn ergab. Der Wächter neben mir stieß das Tor auf. „Alpha hat gesagt, Sie sollen sich jederzeit im Haus aufhalten, außer Sie werden begleitet.“ Ich schluckte. „In Ordnung.“ Als wir durch den Hof gingen, bemerkte ich, dass nur wenige Angestellte da waren: ein Gärtner, der die Büsche stutzte, eine Frau, die die Veranda fegte, und zwei Wachen, die patrouillierten. Ein so großes und gefürchtetes Rudel wie Shadow Fang hätte Dutzende von Arbeitern um das Anwesen eines Alphas herum haben sollen. Doch hier wirkte alles eingeschränkt, kontrolliert und irgendwie zurückhaltend. Es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Die Wache öffnete die Eingangstür, und der kühle, saubere Geruch der Villa strömte mir entgegen. Der Innenraum war weitläufig und geräumig, mit polierten Böden, hohen Wänden und dicken Vorhängen vor den Fenstern. Es gab keine Porträts, keine Dekorationen, jeder Raum, an dem wir vorbeikamen, wirkte leer; sie waren unbenutzt. Ethan wohnte hier, aber es fühlte sich nicht so an, als ob jemand da wäre. Als wir eine Treppe erreichten, wandte sich die Wache an mich. „Dein Zimmer ist oben“, sagte die Wache. „Alpha hat gesagt, du sollst dich ausruhen, bis er dich ruft.“ Ich nickte ihm noch einmal zu, als er mich an der Tür stehen ließ, und betrat mein neues Zimmer. Es war nicht besonders groß, aber ordentlich. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein kleines Sofa, ein Tisch am Fenster. Alles war perfekt arrangiert, fast zu perfekt, als hätte noch nie jemand diesen Raum betreten. Ich legte die gefaltete Kleidung auf die Kommode und setzte mich dann auf die Bettkante. Mir schnürte es die Kehle zu. Das war ein neues Zimmer, ein neues Rudel, neue Regeln und eine riesige Lüge, die wie ein Damoklesschwert über mir hing. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und atmete leise aus. Ich war nicht einmal freiwillig hier. Ich war nicht hier, weil ich Ethan vertraute. Ich war hier, weil ich nirgendwo anders hin konnte, nicht bis ich so weit genesen war, dass ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Nicht bis ich einen Weg gefunden hatte, Jasper und Selena alles wieder abzunehmen, so wie sie mir alles genommen hatten. Ein leises Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. „Herein“, sagte ich schnell und wischte mir die Augen. Die Tür öffnete sich, und Ethan trat ein. Er sah sich um, als wolle er den Raum nach Gefahren absuchen, bevor er mich beachtete. „Wie ist es hier?“, fragte er. „In Ordnung“, antwortete ich ruhig und gelassen. „Du bleibst erst mal hier, und es kommen nicht viele Leute in dieses Haus.“ Sein Blick wanderte zum Flur. „So ist es mir lieber“, sagte er, und ich antwortete nicht. Ethan musterte mich, wohl bemerkte er meine Anspannung. „Du bist hier sicher, niemand wird dich anfassen.“ Ich wünschte, ich könnte das Wort „sicher“ glauben, bevor ich antworten konnte. Da hörten wir Schritte im Flur, und eine Frau trat in die Tür. Es war Sam. Ihr Blick traf Ethan direkt, mit einer Sanftheit, die sie nicht zu verbergen suchte. Als ihr Blick auf mich fiel, verschwand die Sanftheit und wich einem kalten Ausdruck. „Ich habe gehört, das neue Mädchen ist eingezogen“, sagte sie. Ethan nickte. „Sie wird hier unter meinem Schutz stehen.“ Sams Augen verengten sich leicht. „Kennt sie die Regeln?“ „Ich werde sie ihr erklären“, antwortete Ethan. Ich stand leise auf und beobachtete sie. Ihr Lächeln wirkte freundlicher, doch ihre Augen verrieten etwas anderes. Sie kam näher und blieb neben mir stehen. „Also“, sagte Sam beiläufig. „Du bist der abtrünnige Alpha, der am Strand gefunden wurde.“ Ich korrigierte sie nicht. „Ja.“ „Abtrünnige bringen oft Ärger.“ Ihr Lächeln wurde etwas breiter. „Ich hoffe, du gehörst nicht dazu.“ Ethans Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und Sam fügte schnell hinzu: „Ich stelle nur die Fakten fest, Alpha.“ Ich behielt meine Stimme ruhig. „Ich werde keinen Ärger machen.“ Sam beugte sich leicht zu mir vor, ihre Stimme so leise, dass nur ich sie hören konnte. „Zu deinem Besten“, flüsterte sie. „Mach bloß keinen Blödsinn. Wer Ethan anlügt, hat es hier nicht lange.“ Mir wurde eiskalt, aber ich zuckte nicht zusammen. Ich starrte sie nur an und ließ die Stille für sich sprechen. Ethan bemerkte, dass etwas nicht stimmte, seine Augen verengten sich leicht. „Sam.“ Sie wich sofort zurück und lächelte freundlich. „Ich wollte sie nur willkommen heißen.“ „Jetzt reicht’s“, sagte Ethan. Ihr Kiefer spannte sich kurz an, dann nickte sie und wandte sich der Tür zu. „Ich bin unten, falls du etwas brauchst.“ Als sie gegangen war, wandte Ethan mir seinen Blick zu. Er fragte nicht, was sie gesagt hatte, er sah nicht nach, ob sie mich erschreckt hatte. Er sagte nur: „Wenn dich jemand belästigt, sag Bescheid.“ Und ich nickte. Aber ich behielt die Worte für mich. Ich hatte nicht vor, zu ihm zu rennen und um Hilfe zu bitten. Ich hatte nicht vor, irgendjemandem zu vertrauen. Ich hatte vor, stärker zu werden und dann zurückzukehren.
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