Kapital10

1216 Worte
Kapitel 10 Maurices Sicht Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Der Raum war still, bis auf das leise Piepen eines der Geräte neben mir. Die Laken fühlten sich sauber, warm und seltsam an. Alles fühlte sich seltsam an. Mein Körper schmerzte noch immer an verschiedenen Stellen, aber der Schmerz war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war die Stille, denn in der Stille drängte sich die Wahrheit gegen mich, bis ich kaum noch atmen konnte. Ich hatte gelogen. Ich hatte Alpha dazu gebracht, Ethan in die Augen zu sehen und ihm gesagt, ich könne mich an nichts erinnern. Meine Finger krallten sich unter die Decke, meine Kehle schnürte sich zu. Ich erinnerte mich an alles. Ich erinnerte mich an das Lächeln meines Vaters, als er mir sagte, ich würde eines Tages eine gute Luna sein. Ich erinnerte mich daran, wie seine Hand meine in den Besprechungen drückte, wenn es mir zu viel wurde. Ich erinnerte mich daran, wie er kalt auf dem Boden lag, vergiftet von jemandem, dem er vertraut hatte, und meine Sicht verschwamm. Ich erinnerte mich an Jasper und daran, wie ich ihn wie eine Idiotin geliebt hatte, weil ich dachte, jedes seiner Lächeln käme von Herzen. Ich dachte, er hielte mich, weil er sich um mich sorgte, weil wir eine gemeinsame Zukunft aufbauten. Ich erinnerte mich an Selena, wie sie mit mir lachte, aß und mich umarmte. Ich erinnerte mich, wie ich sie für meine beste Freundin gehalten hatte. Eine Träne rollte mir über die Wange, und ich hielt sie nicht auf. Ich versuchte nicht, sie wegzuwischen, sondern lag einfach nur da und ließ die Erinnerungen mich erdrücken, eine nach der anderen. Ich erinnerte mich daran, wie ich Jasper in der Zelle angefleht hatte. Ich erinnerte mich an seine Worte: Sie waren klar, scharf und grausam. „Ich habe dich nie geliebt, du warst nur nützlich.“ Der Atem entwich mir schmerzhaft. Ich hob mein Handgelenk und bedeckte meine Augen, um mein Schluchzen zu unterdrücken. Mein Körper zitterte leicht, nicht laut genug, dass es jemand draußen hören konnte, aber genug, um alles zu verlieren, was ich zu verbergen versucht hatte. Wenn ich die Wahrheit sagte, wenn ich Alpha Ethan erzählte, dass ich mich an alles erinnerte, was würde er dann tun? Würde er Mitleid mit mir haben? Würde er mich anders ansehen? Würde er mich wegschicken? Nein, ich konnte es nicht riskieren, ich konnte gar nichts riskieren. Ich wischte mir schnell übers Gesicht und legte meine Hand wieder auf die Decke. Und dann öffnete sich die Tür. Ich drehte mich blitzschnell um und zwang mich zu einem ruhigen Gesichtsausdruck. Alpha Ethan trat ein. Ich bemerkte, wie er zuerst den Raum musterte; es war, als erwarte er Gefahr. Erst danach sah er mich an, sein Blick wurde etwas weicher, als er sah, dass ich wach war. „Du solltest etwas essen“, sagte er und kam näher. Eine Krankenschwester folgte ihm herein und stellte ein Tablett auf den kleinen Beistelltisch neben dem Bett. Es war warmes Essen, nichts Besonderes, aber mehr, als ich seit Tagen gegessen hatte. Ich richtete mich langsam auf und achtete darauf, nicht zusammenzuzucken. „Danke.“ Ethan zog den Tisch näher an mich heran. „Du brauchst Kraft.“ Seine Stimme war ruhig und beherrscht, doch darunter lag etwas, das er nicht aussprach, als erwarte er, dass ich zuhörte. Ich nahm den Löffel und bemerkte, wie schwach mein Griff war. Ich begann mit kleinen Bissen. Das Essen brannte leicht beim Schlucken, nicht von der Hitze, sondern weil mein Hals wund war. Ethan blieb neben dem Bett stehen, anstatt zu gehen. Er beobachtete mich. Nicht feindselig, sondern wie ein sinnender Beobachter, der ein Problem zu lösen suchte. Und ich beobachtete ihn ebenfalls. Seine Schultern waren breit, seine Haltung entspannt, aber wachsam. Seine Augen waren scharf, ständig in Bewegung, ständig in Gedanken versunken. Er strahlte Kraft aus; es wirkte natürlich, nicht aufgesetzt; seine Präsenz erfüllte den ganzen Raum, ohne dass er es darauf anlegte. Dieser Mann war nicht gewöhnlich, er war nicht wie Jasper. Er war weder warmherzig noch kalt, er war etwas anderes – etwas Beherrschtes, etwas Gefährliches. „Schmeckt das Essen?“, fragte Ethan. Ich nickte und schob mir einen weiteren Bissen in den Mund. „Ja, danke.“ „Du brauchst mehr als nur Ruhe“, fügte er hinzu. „Dein Körper hat viel mitgemacht.“ Ich wandte den Blick ab und konzentrierte mich auf den Teller. „Mir geht es besser.“ „Du lügst schon wieder“, sagte er, und meine Hand erstarrte. Ich sah schnell auf, aber Ethans Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er war ruhig, nicht anklagend. Er musste bemerkt haben, wie regungslos ich geworden war, denn er schüttelte den Kopf. „Ich meine nicht dein Gedächtnis“, sagte er. „Ich merke, dass dein Körper immer noch schmerzt.“ Ich senkte den Blick wieder. „Mir wird es gut gehen.“ Sein Kiefer spannte sich bei dieser Antwort leicht an, aber er hakte nicht weiter nach. „Iss“, sagte er erneut. Er sagte es, und ich aß. Während er im Zimmer umherging, den Monitor überprüfte, die Decke zurechtrückte und die Jalousien einen Spalt breit herunterließ, tat er es. Es waren alles Kleinigkeiten, doch jede seiner Bewegungen verriet eine Gewohnheit. Er überprüfte nicht nur das Zimmer, er wollte sichergehen, dass mir nichts passieren konnte. Warum? Lag es daran, dass er der Alpha war? Oder war es etwas anderes? Ich schluckte nervös, und mein Herz raste. Konnte ich ihm vertrauen? Konnte ich ihm die Wahrheit sagen? Konnte ich ihm erzählen, dass der Mann, den ich liebte, mich verraten hatte, dass mein Vater getötet worden war, dass mein Rudel mich im Stich gelassen hatte, dass sie mich wie Müll ins Meer geworfen hatten? Aber nein, ich konnte es nicht. Wenn ich mich öffnete, würde ich vielleicht völlig zerbrechen, und ich war nicht bereit, vor irgendjemandem wieder zusammenzubrechen. Ich zwang mich, den letzten Bissen zu essen. Meine Hände zitterten leicht, aber ich senkte leise den Löffel und schob das Tablett weg. Ethan trat näher. „Du brauchst einen Ort, an dem du nicht von Fremden umgeben bist“, sagte er. Ich hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich kann hier bleiben, dieses Zimmer ist in Ordnung.“ „Das habe ich nicht gemeint.“ „Was meinen Sie dann?“ „Sie werden in mein Haus ziehen“, sagte er unverblümt. „Wo ich Sie im Auge behalten kann“, sagte er, und mir stockte der Atem. „Ich … ich denke, es wird mir hier gut gehen …“ „Das kommt nicht in Frage.“ Meine Finger krallten sich in das Laken. „Warum? Sie kennen mich doch gar nicht.“ „Ich muss Sie nicht kennen, um Sie zu beschützen.“ „Ich will keinen Ärger machen.“ „Sie machen keinen Ärger.“ „Sie wissen ja nicht einmal, wer ich bin.“ „Das werde ich“, sagte er. „Wenn Sie es mir sagen.“ Ich konnte nicht sprechen, meine Kehle war wie zugeschnürt. Er sah es, sagte aber nichts. Stattdessen trat er zurück zur Tür. „Sie ziehen um, sobald Sie sicher genug sind, um zu stehen. Ich schicke jemanden, der Ihnen bei den Vorbereitungen hilft.“
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