Kapitel 9
Ethans Sicht
„Ich habe Geräusche gehört“, sagte Ryan, als er die Krankenstation betrat.
Ich wandte den Blick nicht von der Frau auf dem Bett ab, der Fremden, die das Meer eigentlich nicht überleben sollte. Der Fremden, deren Duft noch immer etwas in mir auslöste, das ich nicht benennen konnte.
Ihr Atem hatte sich schon vor Stunden beruhigt, doch ihre Augenlider blieben geschlossen. Die Blutergüsse an ihren Armen waren dunkler geworden, die Kettenstiche sahen frisch aus, obwohl das Metall entfernt worden war. Sie wirkte zerbrechlich, und doch fühlte sich etwas um sie herum stark an. Es ergab keinen Sinn, und es ließ mich nur näher an sie heranrücken.
„Sie ist nicht aufgewacht“, antwortete ich.
Ryan nickte langsam, als hätte er es erwartet. „Du hast nicht geschlafen.“
„Ich habe nicht um Rat gefragt.“
„Ich habe auch keinen gegeben.“
Er ging hinaus, aber ich rührte mich nicht. Ich beobachtete, wie sich ihr Brustkorb langsam, aber stetig hob und senkte. Die blauen Flecken ärgerten mich – nein, sie machten mich wütend, dass jemand ihr das absichtlich angetan hatte. Wer auch immer sie verletzt hatte, hatte keine Gnade walten lassen.
Ein leises Geräusch entfuhr ihr, und mein ganzer Körper spannte sich an. Ihre Finger zuckten, und ihre Beine bewegten sich unter der Decke. Ihr Atem ging schneller und unregelmäßig.
Ich beugte mich sofort vor, und ihre Augen rissen auf.
Sie keuchte, als hätte man sie aus tiefem Wasser gezogen. Ihr Blick huschte durch den Raum, ruhte an der Decke, den Wänden, der Tür und dann an mir. Ihre Pupillen verengten sich, ihr Körper zuckte, als erwarte sie einen Schlag.
„Alles gut“, sagte ich leise.
„Du bist in Sicherheit.“
Sie schluckte schwer, ihre Lippen zitterten, ihre Arme bebten, als sie versuchte, sich aufzurichten, und ich legte eine Hand neben sie, nicht berührend, nur nah genug, um sie zu stützen, falls sie es brauchte.
Sie wehrte sich einen Moment lang gegen die Bewegung, dann hielt sie inne und ließ sich langsam wieder hinab.
„Was ist das für ein Ort?“, flüsterte sie mit brüchiger, schwacher Stimme.
„Das Gebiet der Schattenfänge“, antwortete ich.
„Unsere Krankenstation.“
Sie blinzelte mehrmals, als versuchte sie, die Worte zu begreifen. Ihr Atem beruhigte sich nur einen Augenblick, bevor ihre Augen wieder trüb wurden.
Dann sah sie mir direkt in die Augen. „Ich … ich erinnere mich an nichts“, sagte sie.
„Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist mein Name … Maurice.“
Ihr Blick huschte blitzschnell umher, ihre Stimme zitterte auf eine Weise, die nicht von Angst zeugte, sondern von kontrollierter, kalkulierter Überlebenstaktik.
Ich lehnte mich leicht zurück und musterte sie unverhohlen. Sofort senkte sie den Blick, unfähig, meinem Blick standzuhalten.
„Du erinnerst dich nicht, wie du ins Meer gekommen bist?“, fragte ich.
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich erinnere mich an nichts.“
Ihre Hand wanderte zu ihrer Schläfe, ihre Finger drückten fest zu, als wollte sie testen, ob es weh tat. Sie zuckte zusammen, aber ich merkte, dass sie es erzwang.
Ich behielt meine Stimme ruhig. „Du musst dich nicht so anstrengen, du wärst fast gestorben.“
Stille breitete sich zwischen uns aus; sie blickte nicht wieder auf. Ihr Atem wurde langsamer, doch ihre Hände zitterten unter der Decke. Sie hatte Angst, zu viel Angst, um irgendjemandem zu vertrauen. Wer auch immer ihr wehgetan hatte, hatte mehr als nur blaue Flecken verursacht, jemand hatte etwas in ihr zerbrochen.
Und doch, warum sollte sie mich anlügen?
Ich wollte fragen. Ich wollte ihr sagen, dass ich die Verbindung zu ihr spürte, schwach, aber real. Stattdessen atmete ich einmal tief ein und verschloss die Wahrheit in meinem Herzen.
Sie spürte nichts, nicht einmal eine Ahnung, nicht einmal eine Pause, als ich fast nichts mehr spürte. Die Verbindung zog an mir, doch sie blieb leer.
Ich ließ mir den Schmerz nicht anmerken. Es hatte keinen Sinn. Es klopfte an der Tür. Ryan trat als Erster ein und ging dann zur Seite.
Sam kam mit ihren gewohnt selbstsicheren Schritten herein, ihre Augen musterten bereits misstrauisch den Raum. Ihr Blick fiel auf Maurice, und ihre Kiefermuskeln spannten sich leicht an.
„Also, das mysteriöse Mädchen ist wach“, sagte Sam.
Maurice nickte gezwungen, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Sam wandte sich mir zu. „Wir müssen reden.“
„Sag es hier“, erwiderte ich.
Sam wirkte genervt. „Na schön, du hast eine Fremde aus dem Meer gerettet, während da draußen immer noch jemand versucht, dich umzubringen. Das fühlt sich nicht nach Zufall an.“
Maurice erstarrte bei dem Wort „umbringen“.
Sam fuhr fort: „Wir wissen nicht, wer sie ist, wir wissen nicht, woher sie kommt. Sie könnte damit in Verbindung stehen.“
„Hat sie nicht“, sagte ich.
Sams Augenbrauen zogen sich hoch. „Woher weißt du das?“
Ich spürte es auf eine Weise, die ich nicht erklären konnte, aber es zu erklären, hieß, etwas preiszugeben, wofür Maurice noch nicht bereit war.
„Sie riecht niemanden aus den beteiligten Rudeln“, log ich geschickt.
„Ihre Verletzungen deuten eher auf eine Bestrafung hin, nicht auf eine Jagd.“
Sam verschränkte die Arme. „Du nimmst etwas an.“
„Nein, ich entscheide.“
Sam schnaubte. „Ethan, die Leute beobachten dich genau, falls sie sich als Bedrohung entpuppt …“
„Sie bleibt.“
Der feste Unterton meiner Stimme durchdrang den Raum. Sam blinzelte überrascht, wie schnell ich das Gespräch beendete.
Maurice drehte langsam den Kopf und starrte die Wand an. Sie versuchte, sich in den kleinsten Raum zurückzuziehen, den sie finden konnte. Ihre Schultern wirkten angespannt, aber sie sagte nichts.
Sie wehrte sich nicht, sie bat nicht darum, bleiben zu dürfen. Sie krümmte sich einfach zusammen, als rechnete sie damit, ohnehin hinausgeworfen zu werden.
Sam atmete scharf aus. „Na gut, behalt sie hier, aber tu nicht so, als wäre das eine gute Idee.“
Sie warf Maurice einen letzten Blick zu. Er war scharf, prüfend, nicht freundlich, und dann ging sie hinaus.
Ryan folgte ihr, ließ die Tür halb offen, und es herrschte Stille. Maurice betrachtete die Decken, ihre Finger umklammerten sie fester.
„Du brauchst hier vor niemandem Angst zu haben“, sagte ich leise, doch sie antwortete nicht.
„Du bist in Sicherheit“, fügte ich hinzu, obwohl sie mir noch nicht glaubte.
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Warum … warum hast du mir geholfen?“
Ich antwortete ehrlich, wenn auch nicht ganz. „Weil du im Sterben lagst, weil niemand verdient hat, was dir passiert ist.“
Ihr Hals hob und senkte sich. Sie versuchte, tief Luft zu holen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Hände zitterten erneut.
Sie war noch nicht bereit, mir zu vertrauen. Ich würde ihr Zeit geben, ob sie wollte oder nicht.
„Du brauchst Ruhe.“ Ich stand auf und sagte:
„Wenn Sie etwas brauchen, ruft mich die Krankenschwester draußen.“
Ihre Augen weiteten sich leicht bei dem Gedanken, dass ich diejenige sein würde, die sie anrufen würden. Bevor ich einen Schritt zurücktreten konnte, hielt mich ihre Stimme auf.
„Danke.“