Kapital4

1482 Worte
Kapitel 4 Kalter Tod Maurices Sicht „Bitte … bitte, lass mich ihn nur ein einziges Mal sehen.“ Ich flehte und krallte mich an die kalten Gitterstäbe, bis meine Handflächen brannten. Der Wärter beachtete mich nicht einmal. „Sir Jasper hat Besuch verboten.“ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, und meine Stimme versagte. „Bitte, ich muss nur ein einziges Mal mit ihm sprechen, denn er ist mein Mann!“ Der Mann verzog den Kiefer. „Du bist nicht mehr Luna.“ Diese Worte trafen mich tiefer als jede Klinge. Ich sank zu Boden und zog die Knie an die Brust. Meine Augen waren schwer vom Weinen. Die Zelle stank nach feuchtem Stein und Blut, aber noch schlimmer war die Stille; sie war erdrückend, schwer und grausam. Vaters Gesicht brannte sich in mein Blut, so wie sein Körper den Klang meines Schreis gespürt hatte. Ich presste meine Stirn gegen die Gitterstäbe. „Das hat er nicht verdient“, flüsterte ich. „Er hat nicht …“ Ich erstarrte, als Schritte den Korridor entlanghallten. Sie waren mir vertraut, und mein Herz machte einen Sprung. Schnell stand ich auf und wischte mir mit zitternden Händen übers Gesicht. „Jasper?“ Er erschien am Ende des Flurs, so groß wie eh und je, ganz in Schwarz gekleidet, doch in seinen Augen lag keine Wärme, keine Trauer, nur gelassene Gleichgültigkeit. „Endlich“, hauchte ich und klammerte mich an die Gitterstäbe. „Du bist gekommen.“ Er blieb ein paar Schritte entfernt stehen. „Du hättest nicht nach mir fragen sollen.“ „Was meinst du?“, fragte ich mit zitternder Stimme. „Sie denken, ich hätte meinen Vater getötet. Jasper, du weißt, dass ich es nicht getan habe, du weißt …“ „Genug.“ Die Art, wie er es sagte, ließ mich erstarren. Sein Tonfall war nicht wütend, sondern kalt und distanziert. „Warum redest du so?“, flüsterte ich. „Du hast versprochen, dass wir alles gemeinsam durchstehen würden …“ „Ich habe nichts versprochen.“ Er unterbrach mich mit steinernem Blick. „Du warst nur praktisch, Maurice, mehr nicht.“ Der Boden unter meinen Füßen schien zu schwanken. „Was?“ Er seufzte, fast gelangweilt. „Dein Vater hat mir durch dich vertraut, und dieses Vertrauen habe ich mir erarbeitet. Durch dich habe ich dieses Rudel bekommen. Du warst nur ein Mittel zum Zweck.“ Ich schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Nein, das stimmt nicht. Du hast mich geliebt, das hast du gesagt.“ Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Ich habe gesagt, was du hören wolltest.“ Etwas in mir zerbrach, und meine Sicht verschwamm. „Du hast mich benutzt …“ „Tu nicht so überrascht“, sagte er leise. „Du warst naiv und leichtgläubig. Ich habe mir genommen, was ich brauchte, und jetzt hast du deinen Zweck erfüllt.“ Wut brach in mir aus, meine Brust brannte, meine Hände zitterten so heftig, dass meine Krallen begannen, sich durch meine Haut zu bohren. „Sag das nochmal“, zischte ich. Er grinste leicht. „Du hast mich schon verstanden.“ Mein Wolf knackte, Knochen knirschten, als ich mich verwandelte. Meine Kleidung zerriss, und mein Schrei wurde zu einem Knurren. Ich stürzte mich durch die Gitterstäbe auf ihn, meine Krallen griffen nach seiner Kehle. Er taumelte zurück, seine Augen weiteten sich, doch bevor ich ihn zerfleischen konnte, stürmten die Wachen herein. „Haltet sie auf!“, rief einer. Sie schossen silberne Ketten durch die Gitterstäbe. Das Metall brannte auf meinem Fell, doch ich hielt nicht inne. Ich rammte das Tor, knurrte und fixierte Jasper mit den Augen. „Ihr habt meinen Vater getötet!“, brüllte ich durch die Gedankenverbindung. „Ihr habt ihn ermordet und mich zum Monster gemacht!“ „Haltet sie fest!“ Die Wachen zogen die Ketten fester und zwangen mich zu Boden. Das Silber brannte auf meiner Haut, der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Ich schrie auf, wandte aber den Blick nicht von ihm ab. Jasper trat zurück und strich sich das Hemd glatt, als wäre nichts geschehen. „Sperrt sie fester ein, sie hat die Kontrolle verloren.“ „Bastard!“, spuckte ich. „Feigling!“ Wortlos drehte er sich um und ging. Die Wachen wirkten erschüttert, einer murmelte: „Die Ältesten müssen das hören.“ Als sie gegangen waren, sank ich zitternd zu Boden. Die Luft war mir zu schwer zum Atmen. Stunden vergingen, vielleicht auch Tage, ich wusste es nicht mehr. Dann öffnete sich die Tür knarrend wieder. Diesmal waren die Schritte leiser als eine Stimme. „Oh, Maurice …“ Selena. Ich hob langsam den Kopf, als sie draußen stand. „Selena“, krächzte ich. „Warum bist du hier?“ Sie lächelte langsam und grausam. „Um meinen lieben Freund zu besuchen.“ Die Art, wie sie „Freund“ sagte, ließ mir den Magen umdrehen. Sie sah sich in der Zelle um, die Nase gerümpft. „Dieser Ort passt zu dir: dunkel, kalt … vergessen.“ „Was willst du?“ Sie neigte den Kopf. „Nicht viel. Ich dachte, du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren, bevor du stirbst.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Welche Wahrheit?“ Sie sah zu Ivan hinunter. „Ivan, mein Sohn, Jaspers Sohn.“ Die Welt stand still. „Was?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie lächelte breiter. „Ja, Maurice, während du Luna gespielt hast, haben wir Liebende gespielt. Jahrelang. Jaspers Herz gehörte nie dir. Es gehörte mir.“ Ich starrte sie an und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, du Lügnerin –“ „Ach, schau nicht so geschockt“, unterbrach sie mich. „Du warst immer so stolz, so perfekt, aber rate mal? Das neue Alpha-Blut fließt durch meinen Sohn. Wenn Jasper seinen Platz als Alpha einnimmt, wird Ivan der Nächste sein.“ Ihre Worte trafen mich wie Messerstiche. Ich sah den Jungen an. Er versteckte sich hinter ihrem Bein, schüchtern, unschuldig. Er ahnte nicht einmal, welche Grausamkeit seine Mutter verbreitete. „Warum?“, flüsterte ich. „Du warst mein Freund …“ Selenas Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Weil ich alles verdient habe, was du hattest, und jetzt verdiene ich es auch.“ Sie drehte sich zum Gehen um, blieb aber an der Tür stehen. „Ach ja, und noch etwas: Jasper wird unsere Verbindung morgen verkünden, du wirst bald vergessen sein.“ Ich saß noch lange da, nachdem sie gegangen war, und meine Hände zitterten unkontrolliert. Mein Verstand fühlte sich an, als würde er zerbrechen. Vater, Jasper, Selena – alles Lügen, Verrat. Ich schrie, bis meine Kehle kratzte. ******** Am Morgen kamen die Wachen, um mich abzuholen. „Beweg dich!“, bellte einer. Ich wehrte mich nicht. Mein Körper war schwach, meine Seele bereits gestorben. Sie zerrten mich durch die Gänge hinaus ins kalte Tageslicht. Das Rudel hatte sich im Hof versammelt. Dutzende Gesichter, die ich einst kannte, blickten mich nun hasserfüllt an. „Sie hat Alpha Xander getötet!“, rief jemand. „Sie ist verflucht!“, schrie ein anderer. Die Ältesten standen grimmig und schweigend am Podium. Auch Jasper war da. Selena neben ihm, ihren Sohn im Arm. Ich wollte schreien, ihnen die Wahrheit sagen, aber wozu? Niemand würde mir glauben. „Auf Beschluss des Rates“, sagte der älteste Älteste. „Maurice Xander wird hiermit ihres Luna-Titels enthoben und wegen Mordes an ihrem Vater verurteilt.“ Die Menge tobte, Steine flogen. Der erste traf meine Schulter. Der zweite explodierte förmlich in meinem Gesicht. Ich sank auf die Knie, Blut tropfte über meine Haut. „Hört auf!“, keuchte ich. „Bitte …“ Doch sie hörten nicht auf. Jeder Stein trug Hass in sich. Jeder Schrei Verrat. Durch das Blut und den Staub hindurch sah ich Jasper und Selena Seite an Seite stehen. Ihre Hand in seiner, lächelnd, während sie zusah, starb etwas in mir in diesem Moment. Meine Sicht verschwamm, mein Herzschlag verlangsamte sich, die Welt schien fern. Mein Atem stockte vor Schmerz und verstummte. Ich fiel nach vorn, die Welt um mich herum wurde schwarz. „Maurice?“, murmelte einer der Wachen und kniete neben mir nieder. Er drückte seine Finger an meinen Hals – kein Puls. „Sie ist tot“, sagte ein anderer. „Lasst es uns hinter uns bringen.“ „Die Ältesten sagten, wir sollten den Körper ins Meer werfen und es beenden.“ Und dann hoben sie mich wie eine Stoffpuppe hoch und zerrten mich durch den Schlamm hinunter zu den Klippen jenseits der Weidegründe. Der Himmel war grau, und die Wellen brachen sich unten. „Möge das Meer ihre Sünden wegwaschen“, murmelte einer, und sie warfen mich hinunter. Das Wasser war so kalt, dass es brannte, dann war Stille. Und Dunkelheit.
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