Die Hitze hielt die Stadt weiterhin in ihrem Griff, und obwohl die Menschen stöhnten und fluchten, gab es immer jemanden, der ein Grinsen auf den Lippen hatte – die Jugendlichen von Rivertown. Für sie war die Hitze nicht nur ein Grund, sich im Fluss abzukühlen oder sich unter einer alten Eiche zu verstecken. Es war die perfekte Zeit, um Geschichten zu erzählen. Geschichten über Miss Summer. Lily hatte den Nachmittag im Buchladen ihres Onkels verbracht, um der stickigen Luft zu Hause zu entkommen. Der Laden war klein, mit überfüllten Regalen und einem uralten Deckenventilator, der beständig klapperte. Es roch nach alten Büchern und Kaffee – einer der wenigen Gerüche, die Lily tatsächlich beruhigten.
„Hey, Lily!“ rief Josh, ein Junge aus ihrer Klasse, als sie den Laden verließ. Er stand zusammen mit einer Handvoll anderer Teenager an der Ecke, ihre Gesichter glühten vor Hitze und Aufregung.
„Komm her, wir haben was vor“, fügte er hinzu. Lily blieb skeptisch stehen. Josh war der Typ, der immer die besten – und gefährlichsten – Ideen hatte. „Was denn?“ fragte sie misstrauisch.
„Das Ritual“, sagte ein Mädchen namens Mia und grinste breit. Sie hielt eine Flasche Limonade in der Hand und wedelte sich mit einem Heft zu, das sie wie ein Fächer benutzte.
„Oh, nicht das wieder.“ Lily rollte mit den Augen. Sie hatte schon von dem sogenannten Ritual gehört, das angeblich Miss Summer herbeirief. Jedes Jahr behaupteten ein paar Mutige, sie hätten es gemacht, nur um anschließend mit Geschichten von unerklärlichen Ereignissen zu prahlen.
„Du hast Angst“, sagte Josh mit einem schiefen Grinsen, als er ihre Reaktion sah.
„Ich habe keine Angst“, antwortete Lily und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dann komm mit” Es war fast Abend, als sie sich auf den Weg zum alten Maisfeld machten. Der Himmel war von einem unnatürlichen Rot getönt, das die Sonne hinterließ, bevor sie unterging. Lily spürte eine seltsame Unruhe, die sich in ihrem Magen breit machte, doch sie sagte nichts.
Das Maisfeld lag am Rand der Stadt, ein verlassener Ort, den niemand mehr bearbeitete. Die Stängel standen vertrocknet und schief in der Erde, und die Luft war hier noch stickiger als in der Stadt.
„Okay“, sagte Josh und trat in die Mitte des Feldes. „Es geht so: Wir stellen uns in einen Kreis, halten uns an den Händen, und dann sagen wir die Worte.“
„Welche Worte?“ fragte Lily, ihre Stimme klang skeptischer, als sie beabsichtigt hatte.
„Ich hab’s aus diesem alten Buch“, antwortete Mia und zog ein zerfleddertes Taschenbuch aus ihrer Tasche. „Es heißt, es ruft sie herbei, wenn du es dreimal wiederholst.“
Die anderen schienen begeistert. Lily jedoch warf einen Blick zurück in Richtung Stadt, wo die Lichter der Häuser in der Ferne schimmerten. Sie wollte gehen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Vielleicht war es Neugier, vielleicht wollte sie Josh und den anderen beweisen, dass sie keine Angst hatte.
„Also gut“, sagte sie schließlich. Sie stellten sich in einen Kreis, ihre Hände schwitzig von der Hitze, und Mia begann, die Worte aus dem Buch zu lesen. Die Sprache klang alt, fremd, als würde sie nicht ganz in die Welt passen, in der sie lebten.
„Miss Summer, Herrin der Wünsche, erscheine uns, wenn du hörst“, murmelte Mia und die anderen wiederholten die Worte.
„Miss Summer, Herrin der Wünsche, erscheine uns, wenn du hörst.“
Lily fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Der Wind hatte aufgehört zu wehen, und das Maisfeld war totenstill.
„Miss Summer, Herrin der Wünsche, erscheine uns, wenn du hörst!“
In diesem Moment zerriss ein Geräusch die Stille. Ein leises Kichern, das aus den Tiefen des Maisfelds zu kommen schien. Es war ein Laut, der nicht ganz menschlich klang – eine seltsame Mischung aus Lachen und Flüstern.
„Habt ihr das gehört?“ flüsterte jemand.
„Das… war nur der Wind“, sagte Josh, doch seine Stimme war dünn. Lily wollte etwas sagen, doch plötzlich bewegte sich etwas in den Schatten des Felds. Eine Gestalt, kaum mehr als eine Silhouette, die zu tanzen schien, unnatürlich leicht, als wäre sie mehr Schatten als Substanz.
„Oh mein Gott“, flüsterte Mia und ließ Mias Hand los. Der Kreis brach auseinander.
„Wir sollten gehen“, sagte Lily, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Doch niemand bewegte sich. Sie alle starrten auf die Gestalt, die für einen Moment stehen blieb und dann in der Dunkelheit des Maisfelds verschwand.
„Das war nichts“, sagte Josh schließlich, doch seine Stimme zitterte. Lily sah ihm in die Augen und wusste, dass er sich irrte. Es war etwas gewesen. Etwas, das sie gerade erst verstanden hatten, zu rufen.