Am nächsten Morgen fühlte sich die Luft in Rivertown seltsam anders an. Die Hitze war noch immer da, klebrig und schwer, aber es war, als hätte sich etwas verändert. Lily konnte es nicht genau benennen, aber sie spürte es – eine Spannung, ein Druck, der ihr den Atem erschwerte. Die Ereignisse des letzten Abends waren ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Die Gestalt im Maisfeld, das unheimliche Kichern – sie hatte versucht, sich einzureden, dass es nur ihre Fantasie gewesen war. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie es besser. Beim Frühstück saß sie schweigend am Tisch und schob ihr Müsli mit dem Löffel hin und her. Ihre Mutter, die gerade das Radio einschaltete, bemerkte ihre Unruhe.
„Alles okay, Lily? Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen.“
„Es ist nichts“, murmelte Lily. Doch es war nicht nichts. Es war alles. Später am Tag, als die Sonne gnadenlos auf die Stadt herabbrach, ging Lily allein durch die Straßen. Sie hatte sich vorgenommen, zum alten Buchladen ihres Onkels zu gehen, um sich abzulenken. Doch während sie durch die menschenleeren Gassen lief, hörte sie es zum ersten Mal.
Ein Flüstern.
Es war kaum mehr als ein Hauch, eine Bewegung in der Luft, die gerade noch wahrnehmbar war. Zuerst dachte sie, es sei der Wind, der durch die schmalen Gassen wehte, aber dann blieb sie stehen. Der Wind hatte aufgehört, und doch war das Flüstern noch da. Es klang, als käme es von überall und nirgendwo zugleich, wie ein Echo, das keinen Ursprung hatte. Lily drehte sich um, suchte nach jemandem, der in der Nähe sein könnte, doch die Straße war leer.
„Lily…“
Das Flüstern war deutlicher geworden, und sie erstarrte. Es hatte ihren Namen gesagt, da war sie sich sicher. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden.
„Hallo?“ rief sie und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Doch die Straße antwortete nicht. Dann, ohne Vorwarnung, wehte eine kühle Brise über ihr Gesicht, seltsam erfrischend in der brütenden Hitze. Doch diese Kühle brachte keine Erleichterung – sie brachte Angst. Lily rannte. Im Buchladen ihres Onkels angekommen, war Lily außer Atem. Sie schloss die Tür hinter sich und ließ den Rücken gegen die kühle Glasfläche sinken.
„Alles in Ordnung, Lily?“ fragte ihr Onkel Jack, der gerade ein Buch in der Hand hielt und sie besorgt ansah.
„Ja“, log sie. „Ich dachte nur… ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.“
Jack musterte sie kurz, dann zuckte er mit den Schultern. „Die Hitze bringt die Leute um den Verstand. Setz dich, ich mach dir ein Glas Wasser.“ Lily nickte und setzte sich an einen der kleinen Tische in der Ecke des Ladens. Ihre Hände zitterten noch immer, und sie fühlte sich beobachtet, obwohl sie wusste, dass sie allein war. Sie dachte an das Tagebuch ihrer Großmutter, das sie gestern Abend wieder gelesen hatte. Eine Passage war ihr besonders aufgefallen:
„Sie kommt nicht immer sofort. Manchmal schickt sie nur einen Hauch, ein Flüstern, das dich finden wird, egal, wohin du gehst.“
Lily hatte diesen Satz zuerst als metaphorisch abgetan. Aber jetzt, wo sie hier saß, mit dem Echo des Flüsterns noch in ihren Ohren, fragte sie sich, ob es mehr war als nur ein Gedanke. Als sie den Laden verließ, war es schon spät. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, und der Himmel war in tiefes Violett getaucht. Lily zog die Jacke enger um sich, obwohl die Hitze noch immer in der Luft hing. Auf dem Heimweg ging sie durch eine kleine Seitenstraße, die sie normalerweise mied. Sie war schmal und dunkel, und die alten Backsteinhäuser schienen sich über ihr zu schließen. Doch sie wollte schneller nach Hause, also entschied sie sich für die Abkürzung. Sie war fast auf halbem Weg, als sie es wieder hörte. Das Flüstern. Dieses Mal war es näher, klarer, als wäre jemand direkt hinter ihr. Sie blieb stehen, ihr Herz schlug so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte.
„Lily…“
Es war dieselbe Stimme wie zuvor. Sie klang weiblich, weich, fast liebevoll. Doch in ihrem Ton lag etwas Kaltes, etwas, das Lily durch Mark und Bein ging. Sie drehte sich um, und für einen Moment war da nichts. Nur die leere Gasse und die schwachen Lichter der Laternen. Doch dann, in der Ferne, sah sie eine Bewegung. Eine Gestalt stand im Schatten eines Hauseingangs. Groß, schlank, mit langen Haaren, die im schwachen Licht glänzten. Lily blinzelte, und die Gestalt war verschwunden. Mit klopfendem Herzen rannte sie den Rest des Weges nach Hause.
Im Dunkel der Nacht, als sie schließlich in ihrem Bett lag, fragte sie sich, ob sie den Mut aufbringen konnte, ins Tagebuch zurückzusehen. Denn etwas in ihr sagte ihr, dass die Antwort dort zu finden war.