Das Herrenhaus war dunkel, still und kalt. Als hätte das gesamte Gebäude den Atem angehalten, während der schwarze SUV vor dem Haupteingang zum Stehen kam. Auf dem Kies der Einfahrt blieben nur Blutspuren zurück – der Körper des Tätowierten war verschwunden. Wahrscheinlich irgendwo unter der Erde begraben, in einem namenlosen Grab, hingebracht von Lucians Männern. Auf diesem Anwesen war kein Platz für Fehler. Kein Platz für Schwäche. Und vor allem kein Platz für Ungehorsam.
Lucian Thornewell stand immer noch an der Tür, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, während sie Andromeda aus dem Kofferraum hoben. Er sagte kein Wort, sah nur zu, wie zwei Männer die Trage vorsichtig ins Haus trugen. Tobias, seine loyale rechte Hand, verstand seine Rolle mit einer einzigen Geste. Ein Auge immer auf Lucian, das andere auf die Welt, die er im Auftrag seines Herrn im Zaum halten musste.
Im Inneren des Hauses war alles anders. Die Eingangshalle war mit dunklen Holzvertäfelungen ausgekleidet, geschmückt mit alten Ölgemälden unbekannter Gesichter – strenge Männer und stolze Frauen mit verschleierten Blicken. Ein dicker roter Teppich dämpfte jeden Schritt. Der ganze Ort fühlte sich an, als sei die Zeit stehen geblieben – oder zumindest, als habe die Menschlichkeit ihn längst verlassen.
Die Männer trugen die Trage den Flur hinunter zu einer Stahltür, hinter der ein kalt erleuchteter Untersuchungsraum lag. Weiße Kacheln bedeckten die Wände, der Geruch von Antiseptikum mischte sich mit einem schwachen Hauch von Blut. Auf dem Tisch neben dem Bett lagen Mullbinden, sterilisierte Tücher, medizinische Instrumente – hier arbeiteten Profis, auch wenn die Umgebung weit von Krankenhausstandard entfernt war.
Lucian betrat den Raum, näherte sich der Trage aber nicht. Er stand einfach da und sah auf sie hinab. Andromeda war bewusstlos. Die Wunde an ihrer Schläfe war noch nicht behandelt, blutete aber nicht mehr. Ihre Haut wirkte fast durchsichtig vor Blässe, ihre Wimpern zitterten schwach.
„Tobias,“ sagte Lucian leise.
„Ja, Boss.“
„Mach sie sauber. Wasch ihr das Blut ab, desinfiziere die Wunde. Fessel ihre Hände und Knöchel los, aber lass sie nicht frei. Keine Freundlichkeiten. Nur … sorg dafür, dass sie nicht stirbt. Ich will sie wach haben, bevor sie runtergeht.“
Tobias nickte. „Verstanden.“
Lucians Blick glitt zurück zu ihrem Gesicht. Schweigen folgte. Sein Ausdruck blieb vollkommen reglos – aus Stein gemeißelt – doch seine Augen verdunkelten sich. Nicht vor Wut, sondern vor etwas anderem: Verrat. Das Gefühl von Sakrileg. Ein gebrochenes Versprechen. Dann drehte er sich um und verließ den Raum, ohne zurückzublicken.
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Unter dem sterilen Licht machten sich zwei Krankenschwestern und Tobias an die Arbeit. Sie lösten vorsichtig die Fesseln an ihren Händen und Knöcheln, doch Tobias legte einen dünnen Stahlriemen um ihre Taille – einen, der bei Bedarf sofort am Bett fixiert werden konnte.
Eine der Krankenschwestern – eine streng wirkende Frau mittleren Alters – murmelte leise, während sie das Blut von Andromedas Schläfe wischte.
„Jung. Schön. Aber zerbrechlich. Ein Beruhigungsmittel nach so einem harten Schlag … hätte tödlich sein können.“
Tobias antwortete nicht. Er sah nur auf den Herzmonitor, der langsam, aber gleichmäßig piepte.
Andromedas Finger zuckten. Einen Augenblick später flatterten ihre Lider. Ihr Atem beschleunigte sich. Dann öffneten sich plötzlich ihre Augen.
Die Welt kehrte zuerst als dumpfes Geräusch zurück. Ein Piepen … monoton, rhythmisch, als folge es einem fremden Puls, der nicht ihr gehörte. Etwas stach in ihren Arm. Die Luft war steril und fremd. Ihre Augen sträubten sich zunächst – das Licht war zu grell, der Raum verschwommen. Und als sie endlich fokussieren konnte, war nichts vertraut.
Das war nicht ihre Wohnung. Nicht ihr Büro. Kein Krankenhaus. Es war ein kalter, weiß gekachelter Raum. Medizinische Geräte. OP-Lampen. Ein Metallbett, in Laken gehüllt. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel und … etwas Metallischem. Blut.
Andromeda Carter schoss hoch.
Sie versuchte sich aufzusetzen, doch ihr Körper wehrte sich. Ihre Schläfe pochte, unter ihren Rippen lingerte Schmerz. Ein Lederriemen band ihr Handgelenk ans Bett, sein Gewicht drückte sie zurück. Panik schlug schnell und hart zu.
„Wo bin ich?!“ rief sie, die Stimme heiser und gepresst. Eine Frau tauchte in ihrem verschwommenen Blickfeld auf – vielleicht um die vierzig, mit strengem Gesicht und sterilen Handschuhen. Sie sah nicht aus wie eine Ärztin. Eher wie … eine Vollstreckerin. Die Frau sagte nichts, überprüfte nur den Infusionsschlauch.
„Hey! Reden Sie mit mir! Was ist das hier?!“
Die Frau warf ihr einen schnellen, mechanischen Blick zu. Dann ging sie hinaus.
Andromeda sank zurück ins Kissen. Ihr Herz raste, der Atem war flach und ungleichmäßig. Die Erinnerungen krochen zurück. Ihr Büro. Zwei Männer. Ein Schlag. Der Schmerz. Die Dunkelheit.
Dann – eine Stimme.
„Ich sehe, Sie sind endlich wach.“
Ihr Kopf ruckte in die Richtung. Ein großer Mann stand in der Tür, elegant gekleidet, schwarzes Haar, tiefbraune Augen, sein Gesicht wie aus Marmor gemeißelt. Etwas Kaltes lag in ihm … ruhig, doch bedrohlich. Sie kannte ihn nicht. Gar nicht.
„Wer sind Sie?“ fragte sie – heiser, aber scharf.
Er antwortete nicht sofort. Er trat näher, blieb zwei Schritte vom Bett entfernt stehen und musterte sie. Sein Blick war nicht gierig – er war klinisch, als katalogisiere er Informationen.
„Mein Name ist Lucian Thornewell. Und im Moment … entscheide ich alles, was mit Ihnen geschieht.“
Der Name sagte ihr nichts. Aber sein Tonfall, seine Haltung, seine Präsenz – etwas Ursprüngliches in ihr schlug Alarm: Gefahr.
„Mein Bruder … Elliot … er hat das getan, nicht ich? Ich bin nicht diejenige, die Ihnen etwas schuldet. Aber … aber … lassen Sie mich gehen und wir zahlen es zurück!“
Lucians Lächeln war dunkel. Nicht belustigt – räuberisch. Wie ein Wolf, der Beute betrachtet, die das Spiel noch nicht verstanden hat.
„Ich suche keine Rückzahlung. Ich … interessiere mich für etwas anderes.“
Andromeda versteifte sich. Die Beruhigungsmittel waren abgeklungen. Sie wusste ohne Zweifel: Das hier war nicht nur eine Entführung.
„Sie sind krank,“ zischte sie.
Lucians Ausdruck veränderte sich nicht. Er wurde nicht wütend. Er hob nicht die Stimme. Aber seine nächsten Worte schnitten wie eine Klinge.
„Ich habe gesagt, sie soll mir unversehrt gebracht werden. Und doch … hier sind Sie, Blut im Gesicht. Weil jemand einen einfachen Befehl nicht verstanden hat. Sie haben für ihren Ungehorsam bezahlt – und es waren meine Männer. Was glauben Sie, was einen Fremden erwartet?“
Seine Stimme war kalt. Klinisch. Als spräche er nicht über sie – sondern über einen Fehler im System. Dann drehte er den Kopf.
„Tobias!“
Ein weiterer Mann trat ein. Kleiner, kahl, scharfe Züge, dunkle Kleidung. Sein Blick verweilte einen Moment auf Andromeda, bevor er zu Lucian ging.
„Ich bin hier.“
„Mach sie fertig. Sie geht runter. Zu den anderen. Sie kann hier nicht bleiben.“
„Verstanden,“ nickte Tobias.
Lucian ging hinaus, ohne ein weiteres Wort. Er sah nicht zurück. Die Tür schloss sich hinter ihm, und Andromeda hörte das Echo seiner Schritte im Flur verhallen.
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Zwei unbekannte Männer schoben die Trage aus dem Raum. Tobias führte sie, beobachtete jede Bewegung. Andromeda schrie nicht. Kämpfte nicht. Sie wusste, es war jetzt sinnlos.
Die Flure wurden dunkler, je weiter sie gingen. Die Wände verwandelten sich in dicke, raue Steine, der Boden klirrte unter Metallgittern. Nach einer scharfen Kurve blieben sie vor einer massiven Stahltür mit Kartenleser stehen. Tobias zog eine Schlüsselkarte, zog sie durch. Ein Klicken.
Drinnen war nichts mehr steril.
Die Temperatur sank. Das Licht wurde schwach. Die Wände waren feucht, Wasser tropfte in unregelmäßigen Abständen von der Decke. Die Luft war abgestanden und metallisch – wie in den Tiefen eines Gefängnisses. Oder eines Grabes.
Auf der linken Seite des Gangs zog sich eine Reihe dicker Eisentüren in die Ferne. Jede hatte einen kleinen Sichtschlitz. Das waren keine Zimmer. Das waren Zellen. Tobias öffnete eine.
Die Zelle war klein, kalt – enthielt nur ein Metallbett, einen Blecheimer und einen winzigen Tisch.
„Hier bleibst du.“
„Wie lange?“
„Bis Lucian etwas anderes entscheidet.“
Andromedas Augen blitzten auf.
„Ihr glaubt, ihr könnt mich brechen?“
Tobias’ Gesicht blieb unbewegt.
„Wir brechen hier keine Menschen. Wir beobachten. Und unter Beobachtung bricht jeder … irgendwann.“
Dann trat er hinaus. Die Tür schloss sich. Der Schlüssel drehte sich.
Sie war allein in der Dunkelheit. Die Wände kalt. Und das Schweigen d**k wie Stein. Nur ein Geräusch blieb: ihr eigener Herzschlag.
Und Lucians Stimme hallte in ihrem Kopf, immer wieder:
„Von jetzt an wird jede deiner Bewegungen beobachtet.“
Der Schlüssel drehte sich erneut. Die schwere Eisentür knarrte, dann schloss sie sich mit endgültigem Klicken. Das Schweigen stürzte über sie wie eine Welle. Scharf. Dicht. Erstickend.
Die Luft war schwer, feucht, metallisch und muffig. Die Zelle nicht größer als ein begehbarer Schrank. Kahle Steinwände. Eine einzige flackernde Lampe oben, die ein schwaches gelbes Licht warf. Kein Fenster. Kein Ausgang.
Und kein Gefühl für Zeit.
Andromeda saß lange auf der Bettkante, die Arme um sich geschlungen, als wolle sie die Kälte abwehren – doch die Kälte kam von innen. Ihre Gedanken chaotisch, ihr Herz schlug zu schnell, eine seltsame Hitze pulsierte in ihrem Nacken. Die Wunde an ihrer Schläfe pochte. Nicht unerträglich, aber scharf und tief. Dann traf es sie: vermutlich eine Gehirnerschütterung. Der Schwindel wurde schlimmer.
Sie versuchte aufzustehen. Ihre Beine zitterten. Die Welt kippte, wie ein Boot im Sturm. Ihr Magen krampfte, Übelkeit stieg rasch auf. Sie sank zurück aufs Bett, keuchend.
Ihr Körper war schweißnass, doch sie fror. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es aus der Brust springen.
„Okay … beruhig dich …“ flüsterte sie und presste beide Handflächen an die Stirn. „Das ist nur … das ist nur vorübergehend.“
Aber es ging nicht vorbei. Und schlimmer noch – war die Stille.
Keine Uhr. Keine Musik. Kein Verkehr. Sogar ihr eigener Atem klang zu laut in dieser dunklen Box. Jedes kleine Geräusch erfüllte sie mit Angst.
Das ferne Tropfen von Wasser begann seltsam … dann beängstigend zu wirken. Ein Knarren irgendwo links, jenseits der Wand. Ein dumpfer Schlag unter dem Boden, als hätte sich jemand – oder etwas – bewegt.
Panik kroch langsam heran. Dann auf einmal.
Ihr Atem wurde hastig, keuchend. Ihre Brust zog sich zusammen. Ihre Kehle schnürte sich zu. Ihre Finger krallten sich am Bettrahmen fest, als könne er das Drehen stoppen.
„Nein … nein … das darf nicht passieren,“ flüsterte sie. „Ich muss hier raus …“
Sie sprang auf. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Schädel. Sie packte die Eisentür, zog, hämmerte mit beiden Fäusten darauf.
„Lasst mich raus! Hört ihr mich?! Hilfe!“ schrie sie, ihre Stimme ging in Hysterie über. „Bitte! Ich halte das nicht aus!“
Ihre Schreie prallten von den Steinwänden ab, hallten in grausamer Wiederholung zurück. Dann – wieder Stille. Selbst das Tropfen verstummte.
Einen Moment lang glaubte sie, draußen Schritte zu hören. Oder sie sich einzubilden. Panik verwischte die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung.
Sie sank gegen die Tür, legte die Stirn auf das kalte Metall. Tränen füllten ihre Augen. Ich halte Dunkelheit nicht aus. Ich halte es nicht aus, eingesperrt zu sein.
Die Kindheitserinnerung traf sie wie ein Schlaghammer. Der Tag, an dem Elijah sie zum Spaß in den Schrank sperrte. Und sie dann vergaß. Drei Stunden hatte sie dort geweint, bis ihre Mutter sie fand. Seitdem ertrug sie enge, dunkle Räume nicht. Und das hier – das war kein Schrank. Das war eine Zelle.
„Atmen … einfach atmen …“ flüsterte sie, doch ihr Körper gehorchte nicht.
Ihre Knie gaben nach und sie schlug auf dem Boden auf, rollte auf die Seite. Der kalte Stein schlug eine Prellung in ihre Hüfte, doch der Schmerz wurde vom Pochen in ihrem Schädel, der wirbelnden Welt, der Angst übertönt.
Tränen liefen über ihre Wangen. Sie biss in ihre Faust, um nicht zu schreien.
Und dann – ein Geräusch. Kein Schlag. Kein Wasser. Ein Schlüssel. Ein langsames Drehen im Schloss.
Der Griff bewegte sich. Die Tür knarrte. Ein Spalt Licht durchbrach die Dunkelheit.
Andromeda sah auf.
Und sie sah ihn. Lucian Thornewell. Im selben Anzug. Die gleichen kalten Augen. Als wäre er nie gegangen.
Hinter ihm ein Schatten – vielleicht Tobias. Es war egal.
Er stand einfach da. Beobachtete sie. Ihr Gesicht war nass von Tränen, ihre Hände zitterten. Viel Stolz war nicht mehr übrig. Doch ihre Stimme brannte immer noch.
„Sie sind ein Monster …“
Lucian starrte. Dann sprach er endlich.
„Vielleicht. Aber wenigstens weiß ich, wer ich bin. Du dagegen … du weißt nicht einmal, warum du wirklich hier bist. Wir sind hier runtergekommen, um zu helfen. Aber wenn du es nicht brauchst – dann waren wir nie hier.“
Und dann … schloss er die Tür.
Die Dunkelheit brach wieder über sie herein.
Und sie lag dort, auf dem kalten Boden, gefangen in ihrem eigenen Körper, ihrem eigenen Geist.