Kapitel drei

2150 Worte
Einer der Innenräume im Westflügel des Herrenhauses war eine völlig andere Welt als die kalte Realität des Kellers. Dieser Ort war mit dunklen Holzvertäfelungen, dicken Teppichen, schweren marineblauen Vorhängen und schalldichten Türen ausgestattet – nicht zufällig. Der Raum war nicht offiziell registriert. Er erschien auf keinem Bauplan und in keinem System. Er war nichts weiter als ein privater, schattiger Beobachtungsraum. Zwei Bildschirme glühten in der Dunkelheit. Auf dem einen war der Kellerflur zu sehen, aufgenommen aus einem Winkel, der sich nur veränderte, wenn ein Wachmann vorbeiging. Auf dem anderen: die Zelle. Andromeda Carter lag zusammengerollt auf dem Boden. Ihr Körper zitterte; man sah ihr den Schmerz an. Ihr Gesicht war bleich, von Tränen gezeichnet. Manchmal versuchte sie, sich aufzusetzen, doch der Schwindel drückte ihren Kopf wieder hinab, und sie klammerte sich an die Decke, als wäre sie ihre letzte Verteidigungslinie. Lucian Thornewell stand vor dem Bildschirm, die Arme verschränkt. Er trug wie immer einen dunklen Anzug, das Hemd perfekt sitzend, die Schuhe geräuschlos auf dem Teppich. Sein Blick war fest, sein Kiefer angespannt. Tobias stand neben ihm, in der einen Hand einen Pappbecher, die andere in der Tasche. Er sah gedankenverloren auf den Monitor und nippte gelegentlich an seinem Kaffee. „Wissen Sie, Boss …“, sagte Tobias, als Andromeda sich auf dem Bildschirm noch enger zusammenkauerte und den Kopf schüttelte, als wolle sie Geräusche ausblenden, „… dafür, dass wir mit der Vernehmung noch gar nicht angefangen haben, bricht sie ziemlich schnell.“ Lucian sagte nichts. Er sah einfach zu. Tobias grinste und trat näher an den Bildschirm. „Eine kleine Zelle, ein paar kalte Wände, und sehen Sie nur … wir mussten nicht einmal etwas fragen. Sind noch nicht einmal bis zu der Stelle gekommen, wo wir nach ihrer Lieblingsfarbe fragen, und sie steht schon kurz vor dem Zusammenbruch. Erstaunlich, wie weich reiche Mädchen sind.“ Keine Reaktion. Lucian wandte sich ihm nicht zu. Er schalt ihn nicht. Er lächelte nicht. Er stand einfach da und betrachtete das Mädchen. Tobias legte den Kopf schief. Das Lächeln erlosch langsam. „Hey … ich sage ja nur“, fügte er leiser hinzu. „Ich habe Sie noch nie so auf den Bildschirm starren sehen. Ich meine … so lange. Mit diesem Gesichtsausdruck.“ Lucians Gesicht blieb hart. Seine Augen lösten sich nicht vom Monitor. Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Auf dem Bildschirm setzte sich Andromeda auf. Sie stützte eine Hand an der Wand ab, versuchte aufzustehen – doch der Schwindel übermannte sie erneut, und sie sackte zusammen. Ihr Körper rollte sich zusammen wie ein zerbrochener Vogel. Lucian sah etwas anderes. Eine Erinnerung, ungerufen und unerwünscht, stieg auf wie dunkles Wasser hinter rissigen Mauern. Ein Junge. Vor langer Zeit. Kleiner, jünger. In einem Keller. Genauso zusammengerollt. Ein Scheinwerfer beleuchtete ihn von der Seite, seine Schatten zogen sich lang und monströs. Tage lang. Lucian blinzelte. Die Erinnerung verflog, hinterließ aber ein Gewicht. Eine enge, drückende Leere in seiner Brust. Tobias wich einen Schritt zurück. „Soll ich runtergehen? Einfach mit ihr reden … sanft. Oder weniger sanft. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment—“ „Nein“, schnitt Lucian leise ein. Seine Stimme zerschnitt die Luft wie eine Klinge an Glas. Tobias erstarrte. Lucian hielt den Blick noch eine Sekunde auf dem Bildschirm. Das Mädchen bewegte sich jetzt nicht mehr. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden. Oder sie wollte nur nicht, dass jemand sah, wie sehr sie zitterte. Plötzlich trat Lucian vom Monitor zurück. Er sagte nichts, drückte nur mit einer einzigen Bewegung den Knopf unter dem Bildschirm. Das Bild erlosch. Tobias nickte leicht, als würde er es verstehen, fragte aber nicht. Lucian ging zur Tür. Als seine Hand den Knauf berührte, sprach Tobias erneut, leise: „Nehmen Sie’s sich nicht zu Herzen, Boss. Sie haben sie nicht geschlagen. Es ist nicht Ihre Schuld, dass sie dort ist.“ Lucian hielt inne. „Nein“, sagte er sanft, ohne sich umzudrehen. „Aber ich habe zugelassen, dass sie dort landet.“ Und damit verließ er den Raum lautlos, wie ein Schatten, der hinter ihm zurückblieb. ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Der Beobachtungsraum lag wieder im Dunkeln. Doch die Schwärze auf den Bildschirmen kam nun nicht mehr nur von der fehlenden Kamerazuleitung. Sie bedeutete, dass etwas zu nahe herangekommen war. Und jemand – Lucian – beobachtete vielleicht nicht mehr nur Andromeda. Er beobachtete sein eigenes Gewissen. Lucian Thornewell bewegte sich lautlos durch die dämmrigen Flure des Herrenhauses. Er hatte den Beobachtungsraum hinter sich abgeschlossen, doch die Gedanken, die in seinem Kopf kreisten, ließen ihn nicht los. Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass das Haus selbst zusah. Die Wände hatten zu viele Geheimnisse gesehen. Zu viel Blut aufgesogen. Zu viel unausgesprochenen Schmerz bewahrt. Die Treppe zu seinem Zimmer war lang und roch nach altem Holz. Oben öffnete er die Eichentür – sie gab keinen Laut von sich. Die Dunkelheit legte sich um ihn wie ein alter Gefährte. Dies war der einzige Ort auf dem gesamten Anwesen, an dem er die Maske nicht tragen musste. Das Bett war groß, akkurat gemacht. Das Zimmer ordentlich. Jedes Buch, jeder Ordner an seinem Platz. Jedes Kleidungsstück mit militärischer Präzision gefaltet. Der Raum war sauber, diszipliniert – ein langjähriges Refugium eines Generals. Lucian zog das Jackett aus, legte es sorgfältig über eine Stuhllehne. Er krempelte die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und schloss die Augen. Vergrub das Gesicht in den Händen. Grüblerisch war er nicht. Für Emotionen machte er keinen Platz. Aber jetzt … jetzt wurde er das Bild nicht los. Andromedas Gesicht. Die Tränen. Die verkrampften Finger. Das herzzerreißende Zittern. Ihr Körper auf dem Steinboden. Und die Erkenntnis: Es war nicht der Schmerz, der sie brach. Auch nicht die Angst. Es war die Enge. Die Dunkelheit. Zu vertraut. Lucian ließ sich aufs Bett fallen. Die Matratze quietschte nicht einmal. Er starrte an die Decke. Versuchte, nicht zu erinnern. Doch die Vergangenheit wohnte in seinen Knochen wie alte Brüche, die vor einem Sturm zu schmerzen beginnen. Eine Kindheit voller Zellen, Schläge und Befehle. Sein eigener Vater hatte ihm nie erlaubt, schwach zu sein. Nicht einmal als Kind. Besonders nicht dann. Seine Augen schlossen sich langsam. Kein friedlicher Schlaf kam. Nur Erschöpfung. ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Vor der Dämmerung, in diesem verschwommenen Raum zwischen Schlaf und Wachen, durchbrach ein Klopfen die Stille. Drei Schläge. Fest. Vertraut. Tobias. Lucian richtete sich auf. Er musste nicht fragen. Er stand schon an der Tür und öffnete sie. Tobias stand im Flur, die Kleidung zerknittert, die Augen voller Sorge. „Was ist?“ fragte Lucian, die Stimme angespannt. „Das Mädchen“, sagte Tobias leise. „Auf der Kamera … sie hat sich seit Stunden nicht bewegt. Immer noch in exakt derselben Position, in der wir sie zuletzt gesehen haben. Dreht sich nicht, setzt sich nicht auf. Nichts.“ Lucians Augen flackerten kurz, dann schlossen sie sich wieder. Wie eine Tür. Etwas öffnete sich in ihm, doch er ließ niemanden hineinschauen. „Wie lange?“ „Mindestens drei Stunden. Zuerst dachten wir, sie wäre eingeschlafen. Aber die Haltung … die ist falsch. Seitlich zusammengesackt, als wäre sie ohnmächtig. Kein Zugang. Keine Flüssigkeit. Nur diese Wunde …“ Lucian wartete nicht. Er war barfuß, aber das kümmerte ihn nicht. Er griff nach dem Hemd vom Stuhl, warf es sich über die Schulter und trat an Tobias vorbei. „Besorg mir Licht“, sagte er leise. „Unten im Keller ist es nachts dunkler.“ ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Die frühe Morgendämmerung im Herrenhaus unterschied sich von der nächtlichen Stille. Beklemmender. Die Luft wirkte kälter. Lucians Schritte hallten nicht – die Welt schien jedes Geräusch zu verschlucken. Tobias folgte schweigend. Am Eisengitter drehte sich der Schlüssel mühelos. Die Steinstufen zum Keller ächzten unter ihrem Gewicht. Die Luft roch nach Moder, Metall und Feuchtigkeit. Diesmal beobachtete Lucian sie nicht durch einen Bildschirm. Als sie die Tür erreichten, fragte Tobias nichts. Er schloss die Zelle auf. Lucian trat ein. Andromeda lag auf dem Boden. In derselben Position wie zuvor. Ihr Haar war mit etwas verklebt – vielleicht Blut, vielleicht Wasser. Tränenspuren waren auf ihrem Gesicht getrocknet. Die Augen geschlossen. Ihr Brustkorb hob sich kaum. Lucian hockte sich neben sie. Tobias blieb an der Tür. „Sie atmet. Aber schwach“, sagte er leise. Lucian sah zu. Berührte sie nicht. Betrachtete sie nur. Das Licht flackerte, und die Dunkelheit war nicht mehr draußen. Sie saß in seinem Brustkorb, seinem Bauch, seinem Kopf. Er wusste nicht, warum er so lange blieb. Wusste nicht, warum er Tobias nicht anwies, den Arzt zu holen. Wusste nicht, warum er nicht weiter zuschauen konnte. Er stand auf. Die Zellentür knarrte, als er hinaustrat. „Bring sie in die Krankenstation“, sagte er, heiserer als je zuvor. „Keine Fragen. Keine Notizen. Weckt sie einfach.“ Tobias nickte, bewegte sich aber nicht sofort. Er verstand: Etwas hatte sich verändert. Lucian war bereits unterwegs. Hinauf. Dem Licht entgegen. Doch die Dunkelheit trug er noch in sich. Tobias blieb im Zellentürrahmen stehen, reglos. Das blasse Gelblicht fiel auf seine Schulter, und sein Blick verweilte länger als gewöhnlich auf dem Mädchen am Boden. Dann seufzte er. Nicht aus Mitleid. Sondern mit etwas, das … müder Erkenntnis glich. Das hier war tiefer, als es schien. Keine bloße Erschöpfung. Keine Show. Er drehte sich um und gab den beiden Wachen ein Zeichen, die wie Schatten lautlos im Flur gewartet hatten. „Trage. Jetzt.“ Einer der Wachmänner verschwand den Gang hinunter, der andere stellte sich neben Tobias. Das Mädchen bewegte sich nicht. Ihr Atem war flach und schnell. Ihre Wimpern flatterten. Ihr Körper war schweißnass. Keine tiefe Bewusstlosigkeit – aber auch kein Wachsein. Eine Art Sackgasse, die Tobias nur zu gut kannte: eine Panikattacke. Wenige Minuten später traf die Trage ein. Die Männer hoben sie vorsichtig an. Tobias folgte bis in die Krankenstation. Dieser Flügel des Hauses war heller, moderner – ein Ort, um den Körper zu heilen. Doch was sie jetzt behandeln mussten, war nicht körperlich. Sobald die Krankenschwester Andromeda sah, rief sie den diensthabenden Arzt. „Schnell, hierher! Puls über 130, Haut blass, kalt und schweißig. Atmung flach und hastig. Das ist ein Panikzustand. Voll ausgeprägte Episode.“ Der Arzt, ein Mann um die fünfzig, untersuchte sie schnell, aber fachkundig. „Sie reagiert nicht, aber die Augenmuskeln sind aktiv. Keine kognitive Beeinträchtigung. Das ist kein Koma. Es ist psychisch. Eine tiefe Panikattacke“, sagte er. „Wenn wir sie nicht durchbrechen, kippt sie in einen Schock.“ „Was tun wir?“ fragte Tobias. Zum ersten Mal verriet seine Stimme Besorgnis. „Kälte. Physischer Reiz. Schneller Reset. Dusche.“ „Komplett?“ fragte Tobias. „Bekleidet. Nicht ausziehen. Einfach rein. Die Haut braucht einen intensiven Stimulus, bevor der Körper überkompensiert.“ Tobias nickte, und sie handelten rasch. Einer der Wachleute öffnete den Duschraum: Stahlwände, Gitterboden, sterile Industrieausstattung. Sie legten Andromeda, noch bekleidet, auf das Metallgitter. Die kalten Fliesen berührten ihre Haut, aber sie reagierte nicht. Tobias drehte das Ventil und ließ eiskaltes Wasser laufen. Der Schwall prasselte auf ihren Körper. Einige Sekunden lang geschah nichts. Dann zuckte ihr Körper. Ihre Arme krümmten sich an die Brust. Ihr Mund schnappte nach Luft. „Sehen Sie? Sie reagiert“, sagte der Arzt. „Nicht aufhören. Zwanzig Minuten. Minimum.“ Andromedas Körper spannte sich an. Sie presste die Beine zusammen, schützte sich. Ihre Augen rissen sich auf – aber sie sahen nichts. Nur Angst. „Wo … wo bin ich …?“ Ihre Stimme war zunächst kaum hörbar. Dann kam das Zittern. Tobias ging neben ihr in die Hocke, seine Stimme war jetzt anders. Sanft, aber fest. „Du bist in der Krankenstation. Du bist jetzt in Sicherheit. Dein Körper hat überreagiert. Atme langsam, ja?“ „Kalt … es ist so … kalt …“, flüsterte das Mädchen und versuchte, das Gesicht vom Wasser abzuwenden. „Ich weiß. Aber hör mir zu. Wir zählen zusammen. Eins … zwei … drei …“, begann Tobias. Und machte weiter, bis sich ihr Atem langsam beruhigte. Nach zwanzig Minuten fokussierten endlich ihre Augen. Andromeda war nicht ruhig – aber sie war da. Der Arzt nickte. „Genug. Einwickeln. Bett.“ Als das Wasser abgestellt wurde, griff Tobias nach einem trockenen Handtuch. Die Schwestern wechselten hastig die Laken. Andromeda wurde in dicke Decken gewickelt, ihr Haar tropfte, ihr Körper zitterte noch – aber er krampfte nicht mehr. Ihre Augen hefteten sich an Tobias. „Du … du bist kein Arzt …“ Tobias nickte. „Nein. Aber heute Morgen bin ich einer geworden. Weil sich sonst keiner getraut hat, dich anzufassen.“ „Warum hast du mich nicht sterben lassen?“ flüsterte Andromeda. Tobias antwortete nicht sofort. Er sah nur die junge Frau an, die noch vor Stunden so stolz dagestanden hatte und jetzt gebrochen, durchnässt und zitternd vor ihm lag. „Weil er …“, Tobias nickte nach oben, womit er Lucian meinte, „… nicht wollte, dass es so endet. Und manchmal reicht das.“
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