KAPITEL ZEHN
Dimitris Sicht
Der Wagen kam quietschend zum Stehen und wirbelte Kies auf. Ich riss die Tür auf, noch bevor er ganz zum Stehen gekommen war, und meine Stiefel trafen auf den nassen Boden. Meine Männer strömten aus den Fahrzeugen hinter mir und zogen ihre Waffen.
Aber da war nichts.
Die Szene war leer.
Es war zu still. Das einzige Geräusch war das unaufhörliche Prasseln des Regens auf den Blättern und das Klirren des Metalls der Autos.
Keine Blaulichter. Kein blutbefleckter Asphalt. Keine Leichen, bedeckt mit weißen Laken.
Nur ein leerer Straßenabschnitt mitten im Nirgendwo.
Mein Blick suchte die Gegend ab.
„Verteilt euch!“, bellte ich. „Durchsucht die Gegend! Sofort!“
Meine Männer verteilten sich, ihre Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit. Sie durchsuchten den Straßenrand, die Gräben, die Wälder.
Einer meiner Wachen kam näher. „Sir, wir haben frische Reifenspuren gefunden. Aber kein Blut, keine Patronenhülsen, keine Spuren eines Kampfes.“
Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Das war nicht real.
Es hatte keinen Angriff gegeben.
Es war eine Lüge.
Langsam drehte ich mich um und ließ meinen Blick über meine Männer schweifen, bis er auf demjenigen ruhte, der mir die Nachricht gebracht hatte. Jewgeni. Er stand etwas abseits der Gruppe. Sein Gesicht war noch immer blass, aber jetzt glänzte es von Regen und Schweiß.
Unsere Blicke trafen sich.
Einen Augenblick lang hielt er meinem Blick stand. Dann drehte er sich um und rannte in die Bäume.
„Verräter!“, brüllte ich. „Holt ihn!“
Meine Männer stürmten hinterher. Er kam nicht weit. Iwan und ein anderer Wachmann rissen ihn zu Boden und zerrten ihn zurück. Sie warfen ihn mir vor die Füße.
Er sah zu mir auf, Schlamm rann ihm über das Gesicht, seine Augen waren vor Angst geweitet.
„Wer hat dich bezahlt?“ Meine Stimme war leise und tödlich.
„Pakhan, bitte! Er sagte, sie würden meine Familie umbringen! Er sagte …“
„WER?“, schrie ich und zog meine Waffe.
„Es war Alexei!“, schluchzte Jewgeni und vergrub sein Gesicht in den Armen. Er hatte sich bereits in die Hose gemacht.
Mein Bruder hatte das geplant.
Er hatte mich hierher gelockt. Weg vom Gut. Weg von Irina.
Während ich auf einer leeren Straße Geistern hinterherjagte, war er …
Mein Finger umklammerte den Abzug. Ich dachte nicht nach. Ich schoss Jewgeni in den Kopf.
Der Schuss hallte wider. Jewgenis Körper zuckte und blieb dann regungslos im Schlamm liegen.
„Zum Gut“, flüsterte ich und wandte mich den anderen zu. „Zurück zum Gut! SOFORT!“, brüllte ich.
Meine Männer rannten los. Aber ich war schon auf dem Weg zu meinem Auto. Ich riss die Tür auf. Mein Fahrer fuhr viel zu langsam.
„Raus!“, schrie ich.
„Sir, ich …“, seine Stimme zitterte.
„RAUS!“, donnerte ich.
Er stolperte aus dem Fahrersitz. Ich sprang hinein und trat voll aufs Gas. Der Wagen machte einen Ruck, die Reifen quietschten auf dem nassen Asphalt.
Wie konnte ich nur so dumm sein?
Alexei hatte mich zum Narren gehalten.
Er hatte einen Notfall vorgetäuscht. Und ich war darauf hereingefallen.
Ich hatte sie allein gelassen.
„ALEXEI!“, brüllte ich in das leere Auto. „Ich bringe dich um! Ich schwöre bei Gott, ich werde dich mit bloßen Händen zerreißen!“
Der Regen prasselte heftiger gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer kamen kaum noch hinterher.
Meine Hände zitterten. Mein Herz hämmerte so heftig, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.
Ich drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Tacho schnellte hoch. Achtzig, neunzig, hundert, einundzwanzig.
In einer scharfen Kurve geriet der Wagen ins Schleudern. Ich kämpfte um die Kontrolle und konnte ihn gerade noch auf der Straße halten. Bäume verschwammen an mir vorbei, der Regen prasselte wie Kugeln.
Aber es war mir egal.
Ich sah nur noch Irinas Gesicht. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren vor Angst geweitet.
„Halt durch“, flüsterte ich verzweifelt. „Bitte, Irina. Halt durch. Ich komme.“
Die Minuten fühlten sich wie Stunden an. Jede Sekunde, die verging, war eine weitere Sekunde, die Alexei mit ihr hatte.
Was tat er da?
Zwang er sie, mit ihm zu gehen?
Meine Sicht verschwamm. Erschrocken stellte ich fest, dass ich weinte.
Ich hatte nie geweint.
Nicht, als unsere Eltern starben.
Nicht, als ich meinen ersten Mann tötete.
Nicht in all den Jahren voller Blut, Gewalt und Verlust.
Doch jetzt rannen mir Tränen über die Wangen, während ich durch den Regen raste.
Weil ich sie verlor.
Das Einzige, was ich je wirklich geliebt hatte.
Endlich tauchte das Anwesen vor mir auf. Die Tore waren geschlossen.
Ich bremste nicht.
Ich raste durch die Tore. Metall kreischte und verbog sich. Der Wagen geriet ins Schleudern, aber ich behielt die Kontrolle.
Ich trat voll auf die Bremse. Der Wagen rutschte seitwärts und kam kurz vor dem Brunnen zum Stehen.
Ich war draußen, bevor es ganz aufhörte.
Meine Wachen rannten auf mich zu. Ihre Gesichter waren bleich, ihre Augen vor Angst geweitet. So hatten sie mich noch nie gesehen.
„FINDET SIE!“, brüllte ich.
Sie flohen sofort.
Ich rannte. Die Treppe hinauf. Durch die Flure. An meinen Wachen vorbei.
Meine Lungen brannten, meine Beine schmerzten, aber ich rannte weiter.
Ich bog um die letzte Ecke.
Und mein Herz blieb stehen.
Die Tür zu dem Zimmer, in dem ich sie gefangen gehalten hatte, lag völlig zerstört auf dem Boden. Das Schloss war abgerissen.
„Nein“, hauchte ich.
Ich trat durch die zerbrochene Tür.
Das Zimmer war leer.
Das Bett war ungemacht. Ihr Duft hing noch in der Luft.
Aber sie war fort.
Irina war fort.
Mir stockte der Atem. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht denken.
„ALEXEI!“ Ein Schrei entfuhr meiner Kehle, erfüllt von Wut, Schmerz und Verzweiflung. „ALEXEI!“
Der Laut hallte durch das Herrenhaus.
Er hatte sie mitgenommen.
Meine Beine versagten. Ich sank im Türrahmen auf die Knie und presste die Hände gegen das zerbrochene Holz.
Ich hatte sie im Stich gelassen.
Ich saß minutenlang da.
Dann stand ich langsam auf. Mein Gesicht war ruhig, meine Hände fest.
Doch innerlich tobte ein Sturm.
Vorsichtig traten Wachen in die Tür.
„Findet sie“, sagte ich leise. „Nutzt alle Möglichkeiten. Ich will wissen, wo mein Bruder ist.“
„Jawohl, Sir!“, wiederholten sie und gingen sofort.
Ich stand allein in dem zerstörten Zimmer. Der Regen prasselte gegen die Fenster.
Donner grollte in der Ferne.
Alexei glaubte, er hätte gewonnen.
Doch er hatte einen entscheidenden Fehler begangen.
Er hatte vergessen, wer ich war.
Wozu ich fähig bin, wenn mir jemand etwas wegnimmt, was mir gehört.
Ich verließ das Zimmer, ging die Treppe hinunter und in mein Büro.
Ich zog mein Hemd aus und nahm eine Zigarette. Ich ging zum Fenster und beobachtete, wie der Regen vom dunklen Himmel strömte.
Irgendwo da draußen hat Alexei Irina. Er hielt sie wahrscheinlich fest, berührte sie, nahm sich, was mir gehörte.
Mein Spiegelbild starrte mich aus dem Glas an. Meine Augen waren kalt, leer und gefährlich.
Es ging nicht mehr um Gesetze. Oder Räte.
Es ging um Blut.
Und bevor das vorbei war, würde Moskau darin ertrinken.
„Ich komme, Bruder“, flüsterte ich dem Regen zu. „Und wenn ich dich finde, wirst du um den Tod flehen, bevor ich mit dir fertig bin.“