Der junge Mann schlug sich auf den Mund.
»Es ist wahr, wenn man solche Dinge vorhat, darf man nicht an Nebensachen hängen; aber ich hoffe, die Sylvia in Dresden wiederzufinden, vielleicht, wenn alles glücklich vorüber ist.«
»Mein lieber Baron Klingen«, sagte der Graf, stehenbleibend; »denken Sie nicht weiter an jenes Mädchen. Sie werden wohltun, wenn Sie danach trachten, die Sylvia zu vergessen — streben Sie danach.«
Baron Klingen blieb ebenfalls wie angewurzelt stehen.
»Vergessen?« rief er; »Graf, ich will nicht hoffen, dass man mir Vorschriften machen darf, an wen und wohin ich meine Gefühle zu verschenken habe?«
Wackerbarth nahm einen ernsten, fast barschen Ton an.
»Baron, Sie sind jung. Sie wollen alles zugleich genießen: Glück in der Liebe, Glück in der Karriere, Glück in Ihren Zielen an dem table vert — oh, das ist zu viel. Sie ließen sich in die Intrige einweihen, Sie gehen mit mir just in diesem Augenblicke zu einem der seltsamsten Rendezvous, welches Sie wohl als Kavalier haben können, und dennoch betrachten Sie sich ganz vogelfrei? Denken Sie denn nicht, mein Lieber, dass bei unserem Unternehmen Rechte und Pflichten sehr gleichmäßig verteilt sind? Und dann, um auf die in Ihnen so plötzlich lodernde Leidenschaft zu kommen, auf die Sylvia, wissen Sie denn nicht, mein Freund, dass Sie so gut wie verlobt sind? Wissen Sie denn nicht, dass es in der Nähe Dresdens eine Villa gibt, welche der Familie von Servigni gehört und dass diese Familie neben manchen anderen interessanten Dingen auch ein weibliches Mitglied, namens Jeanne, besitzt, dessen bestimmter Bräutigam, der Herr Baron Robert von Klingen, mir zur Seite geht?«
Der Baron neigte sein Haupt und seufzte.
»Es ist wahr«, sagte er, »alles ist wahr, was Sie mir da sagen, meine Mission, meine Verpflichtung, meine Verlobung; was aber die Letztere betrifft, so ist das doch eine Grausamkeit ohnegleichen — einen Menschen testamentarisch zu vermachen, einer Braut den Bräutigam, sozusagen, als Erbstück übergeben, das ist abscheulich!«
»Eh bien, so lassen Sie es doch fahren, das große Glück?«
Klingen seufzte wieder.
»Herr Graf«, sagte er, »Sie wissen, dass der alte Herr von Servigni und mein Vater innig befreundet waren. Eine jener seltsamen Testamentsklauseln, wie sie sich in den alten vergilbten Papieren noch genugsam vorfinden, bestimmt, dass, nach Übereinkunft beider Väter der Familien, Robert von Klingen und Jeanne von Servigni ein Paar werden sollen. Mir, dem armen Edelmanne, wird durch diese Heirat ein großes glänzendes Vermögen in Aussicht gestellt; mir wird eine lachende Zukunft gezeigt, wenn ich einwillige, Jeanne zu heiraten; ist das nicht eine Folter? Bedenken Sie, dass ich arm bin, dass die Aussicht, welche sich mir eröffnet, eine glänzende ist, wenn ich das Vermögen, welches Jeanne von Servigni mir als Heiratsgut zubringt, neben mein Amt, neben meine Patente stellen kann; bedenken Sie, dass eine ehrwürdige, alte Mutter, eine jüngere Schwester vertrauensvoll auf mich blicken, dass ich ihnen durch die Einwilligung in jenes Ehebündnis ein herrliches Leben bereiten kann, ein Leben, wie es einst meine Familie führen konnte, ehe die harten Schläge des Schicksals unser Hab und Gut vernichteten —«
»Nun, und Sie willigen doch nicht in die Heirat? Sie haben Skrupel?«
»Gewiss! Ich soll meine Freiheit, meine Neigung verkaufen, Herr Graf; ich soll ein Wesen für das ganze Leben an mich fesseln, für welches ich keine Empfindung der Liebe in mir sich regen fühle; dennoch muss ich mir sagen, dass durch ein Wort der Zusage für jene Heirat der Name meiner Familie wieder den alten Glanz erhalten würde, der um unser Wappen strahlte. Stehe ich teilweise nicht inmitten eines Scheidepunktes, bald hierhin, bald dorthin gezerrt von widerstrebenden Gefühlen, die mich ohne Unterlass quälen?«
»Kennen Sie denn Jeanne von Servigni?«
»Ich darf sagen: nein! Als ein kleiner Knabe sah ich sie — das kleine Mädchen. Es war in jenen Tagen, als unsre Familie, in glücklichen Verhältnissen, innig befreundet mit den Servignis war. Damals schlossen unsere Väter jenen Vertrag.«
»Sie sehen, dass die Servignis mindestens Leute von Wort sind«, sagte der Graf. »Wenn der alte Marquis, der nach Ihrem Vater starb, der den Ruin Ihrer Familie nicht aufhalten konnte, dennoch seinen Pakt getreu hielt, so spricht das gewiss für seine Ehrenhaftigkeit. Sie kommen mindestens in eine wahrhaft edle Familie.«
»Ich habe daran nie gezweifelt, aber der Zwang — der Zwang. Wenn ich nun keine Neigung für Jeanne, und sie nicht die geringste für mich empfindet? Ist es da nicht Marter, zwei solcher Wesen aneinander zu fesseln?«
»So sagen Sie kurzweg: nein! Und die Geschichte ist vorüber.«
Robert von Klingen schwieg.
»Hätte ich die geringsten Aussichten, ich zögerte keine Minute, Herr Graf«, sagte er.
»Ihre Aussichten sind die besten. Seitdem Sie in den Staatsdienst getreten sind, kann es Ihnen nicht fehlen. Ihr König, Friedrich der Zweite, weiß talentvolle Leute zu platzieren.«
»Alles ungewiss, alles auf das Gelingen oder Verlieren basiert. Meine Mission, welche mich dem Gesandten Grafen Maltzahn beiordnet, ist eine sehr wichtige; aber noch kann ich sie nicht einmal klar übersehen. Es gehen absonderliche Dinge vor, und der Himmel hat sich mit Wolken bezogen, was werden wir nicht alles erleben!«
Die Unterhaltung schwieg, und die beiden Männer gelangten endlich an das Außentor des Schlosses. Schloss Stolpen, welches sich auf einem Grunde von Basaltfelsen über der Stadt erhebt, war zu jener Zeit sehr einsam. Es enthielt nur eine Besatzung von Invaliden, und selbst die Staatsgefangenen, welche zuweilen hinter den alten Mauern verwahrt wurden, fehlten jetzt. Über dem Eingange schaukelte eine Laterne in rostiger Kette, die eichene Pforte war fest geschlossen.
»Geht, Leute, wir bedürfen Euer nicht mehr«, sagte der Graf, den Hausknechten ein Stück Geld reichend.
Nachdem die Eskorte sie verlassen hatte, zog der Graf die Glocke.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis schlürfende Tritte über den Hof und zum Tore gelangten; dann ward ein Schließbalken fortgezogen, die Pforte öffnete sich, und ein halb militärisch gekleidetes Individuum zeigte sich in der geöffneten Türe.
»Wer da?« fragte der Wächter.
»Mein Freund«, begann der Graf sehr höflich, »ist die Schlossfrau zu sprechen?«
»Wer soll das sein?«
»Ei nun, die hohe vornehme Dame, welche seit beinahe vierzig Jahren dieses Schloss bewohnt.«
»Ihr meint die tolle Gräfin?«
»Ich weiß nicht, Bursche, ob Er berechtigt ist, die Frau Comtesse mit diesem Namen zu belegen«, rief Wackerbarth zornig und in so gebieterischem Tone, dass der Hüter des Tores erschreckt an seine Mütze griff.
»Vorwärts und gemeldet!« kommandierte der Graf weiter. »Sag’ Er, es seien die Herren da, welche der Dame des Schlosses ihre Ankunft aus Halle gemeldet hätten; flink, tummle Er sich! Wir haben keine Lust, hier im Dunkel zu stehen.«
Der mürrische Wächter schien vollkommen von seiner Grobheit kuriert, denn er lud durch eine zuvorkommende Handbewegung die Herren ein, in den Hof zu treten, dann schloss er das Tor.
»Dort, in jenem Turme logiert sie«, sagte er. »Belieben Sie zu warten; ich melde Sie bei dem Kammerdiener.«
Wackerbarth und Klingen blieben im dunklen Hofe.
»Sie sehen«, sagte der Graf, »wie man gefallene Größen behandelt. Jener Schlingel spricht wie von einer Blödsinnigen, wenn er eine Person meint, an deren Augenwinken einst die Geschicke vieler Tausende hingen. Dort – dort.«
Er deutete auf den Turm, hinter dessen schmalen Fenstern Lichtschein sich bewegte. Klingen seufzte, seine Gemütsstimmung harmonierte mit der unheimlichen Umgebung, er fuhr mit der Hand an seine Stirne.
»Mein Freund«, sagte der Graf, »Sie dürfen nicht mehr an Sylvia denken. Dieses reizende Gespenst hat Ihre Sinne gefangen genommen.«
»Oh — zum Teil ja; aber wie sollte ich nicht dürfen? Kann man es mir verargen?«
»Das nicht; allein ich sage Ihnen mit Bestimmtheit, Sie müssen diese kleine Person vergessen. Sie ist Ihnen nicht aufbewahrt.«
»Wie? Man hätte über Sylvia verfügt? Es ist also nicht Zufall, dass sie bei jener Gesellschaft sich befindet?«
»Durchaus nicht. Das Rätsel wird sich Ihnen lösen — aber da kommt der alte Kammerdiener. Silence! Sie werden heut noch etwas ganz Absonderliches zu sehen bekommen.«
Ein alter kleiner Mann trat in die schmale Turmtüre. Er hielt einen dreiarmigen, mit brennenden Kerzen besteckten Leuchter in der Hand. Sein Gesicht war spitz, gelb und durchfurcht von Runzeln, seine Kleidung eine Livree, deren Farben bleich schimmerten, deren Schnitt einer Mode angehörte, die um dreißig Jahre zurückdatierte.
»Messieurs«, rief er mit näselnder Stimme, »die Gnädige erwartet Sie.«
Wackerbarth und sein Begleiter folgten dem Alten, der sie eine schmale, gewundene Treppe hinaufführte.