Yara
Es ist viel zu lange her, seit ich Annika zum Laufen hinausgelassen habe. Die unzähligen Vorlesungen und der dichte Stundenplan an der Universität lassen kaum Raum zum Atmen – geschweige denn, um Annika laufen zu lassen. Selbst das Essen kommt oft zu kurz. Aber ich muss sie endlich rauslassen. Ihre Unruhe wächst mit jedem Tag, wie ein brodelnder Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch steht.
„Schule ist langweilig. Menschen sind langweilig. Ich will endlich etwas Spannendes machen“, knurrt sie in meinem Kopf, ihre Stimme tief und ungeduldig.
„Wir gehen laufen, Annika. Beruhige dich“, entgegne ich ruhig, obwohl ich weiß, dass meine Worte ihre Gereiztheit kaum dämpfen.
„Warte das nächste Mal nicht so lange“, schießt sie zurück, und ihre Frustration sticht wie eine Nadel in mein Gewissen. Sie hat recht.
Es sind schon ein paar Monate vergangen, seit ich sie das letzte Mal hinausgelassen habe. Viel zu lange. Aber ich weiß, wie gefährlich die Wälder sein können – die ständigen Kämpfe zwischen den Rudeln und die Gefahr, Simon zu begegnen.
„Er ist zu dumm, um uns zu fangen“, murrt Annika trotzig. „Außerdem hat er keine Ahnung, dass wir noch immer so nah beim Rudel sind.“
„So nah“ bedeutet in ihren Augen eine Entfernung von zwei Stunden. Doch für einen Wolf ist das kaum ein Hindernis. Ein Wolf kann fast so schnell laufen wie ein Auto, und wenn er auf der Jagd ist? Möge die Göttin alle beschützen, die ihm im Weg stehen.
Ich lasse Annika immer in die entgegengesetzte Richtung von Simons Rudel laufen. Oder besser gesagt: dem Rudel seines Vaters. Alpha Solomon hat mein früheres Rudel so lange angeführt, wie ich mich erinnern kann. Simon hingegen ist nichts als ein Schatten seines Vaters – grausam, rücksichtslos und brutaler, als es ein Alpha sein sollte. Kämpfen und Töten sind seine Leidenschaft, während ich heile und rette.
Warum er sich ausgerechnet auf mich fixiert hat, bleibt mir ein Rätsel. Ich bin nur eine Waise, ohne Rang, ohne Bedeutung. Meine Eltern waren einfache Krieger, die in einem Rudelkrieg starben, als ich noch ein Kind war. Und obwohl ich kämpfen kann, verlasse ich mich immer auf meine größte Stärke – meinen Verstand. Simon hingegen vertraut blind auf seine rohe Alpha-Stärke – eine Gabe, die er nie wirklich zu schätzen weiß.
Alpha Solomon nahm mich nach dem Tod meiner Eltern auf und behandelte mich wie seine eigene Tochter – vielleicht, weil er nie eine eigene Tochter hatte oder weil ich ihm in vielerlei Hinsicht ähnlicher war als sein eigener Sohn. Doch als Simon eine ungesunde Besessenheit für mich entwickelt, schickt Solomon mich fort – weit weg vom Rudel und von Simons zerstörerischer Fixierung.
Als wir an unserem gewohnten Ort ankommen, halte ich an. Der Wald liegt still da, und die Schatten tanzen im silbernen Mondlicht. Ich lasse meinen Blick aufmerksam durch die Dunkelheit schweifen, meine Sinne angespannt wie eine gespannte Bogensehne.
„Annika?“, frage ich leise und vertraue auf ihre geschärften Sinne.
„Keine anderen Wölfe“, antwortet sie, ihre Stimme klingt ein wenig traurig. Ich spüre, wie sehr sie die Gemeinschaft eines Rudels vermisst.
Ich lasse meinen Blick ein letztes Mal durch die Umgebung schweifen, bevor ich tiefer in den Wald trete. Dort ziehe ich mich aus, falte meine Kleidung ordentlich zusammen und verstaue sie auf einem Ast, hoch genug, dass niemand sie so leicht finden kann. Falls doch, habe ich ein Ersatzset im Auto. Kleidung kann ersetzt werden – meine Freiheit nicht.
Ich lasse Annika die Kontrolle übernehmen. Die Verwandlung beginnt, ein Prozess, der nach so langer Zeit schmerzhafter ist, als er sein sollte. Meine Knochen verschieben sich, knacken und brechen, bis mein Körper von rotbraunem Fell bedeckt ist. Annika schüttelt ihr Fell aus, dann stürmt sie los, voller Energie, die sich endlich entladen darf.
Während sie durch den Wald rennt, bin ich nur ein Schatten in ihrem Bewusstsein. Doch ich spüre ihre Freude, die Freiheit, die durch ihren Körper strömt. Der Wind trägt die Gerüche des Waldes zu uns, die Nacht lebt in einem stillen, harmonischen Klang.
Plötzlich hält Annika inne. Ein scharfer Geruch dringt in die Luft. Blut.
„Es hat in der Nähe einen Kampf gegeben“, sagt sie angespannt in meinen Gedanken.
„Hörst du etwas?“, frage ich und lasse meine Sinne wachsam durch die Umgebung schweifen.
„Da ist ein Geräusch“, murmelt Annika. „Es klingt wie ein Wolf in Schwierigkeiten.“
Jetzt höre ich es auch. Es klingt nach einem großen Tier, das kämpft.
„Annika…“, beginne ich zögernd, meine Gedanken zwischen Vorsicht und Sorge gefangen.
„Ich werde vorsichtig sein“, flüstert Annika, ihre Stimme ein sanftes Versprechen. Sie weiß, dass ich helfen will – selbst wenn es ein Werwolf ist. Doch das heißt nicht, dass es einfach wird. Vielleicht lässt er mich gar nicht erst nah genug heran. Aber genau dafür werde ich zur Ärztin ausgebildet: Um Wölfen in genau solchen Situationen zu helfen.
Langsam pirscht Annika sich voran, jede Bewegung bedacht, die Muskeln unter ihrem rotbraunen Fell gespannt. Als wir näher kommen, erkenne ich es an den leisen Lauten: Es ist ein Wolf. Doch was genau tut er? Ist er in einer Falle gefangen und versucht verzweifelt, sich zu befreien? Oder steckt er in einer Grube, die eines der Rudel gegraben hat, um Feinde zu fangen und zu verhören?
„Bitte sei vorsichtig, Annika. Wir dürfen nicht entdeckt werden“, flüstere ich in Gedanken und halte den Atem an.
„Ich bin immer vorsichtig, Yara“, antwortet sie ruhig, bevor sie sich weiter durch das Unterholz schiebt.
Als wir näher kommen, kriecht Annika auf dem Bauch weiter, vorsichtig wie eine Jägerin auf der Pirsch. Plötzlich dreht der Wind, und ein Duft trifft mich mit der Wucht eines Donnerschlags: Teakholz, rauchig und verführerisch. Eine seltsame Hitze breitet sich in meinem Körper aus, lässt meine Sinne aufleben und mein Herz schneller schlagen.
„Gefährte“, haucht Annika ehrfürchtig.
„Was?“ Mein Herz setzt einen Schlag aus.
„Das ist unser Gefährte, Yara. Unser Gefährte ist verletzt.“
Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Das hier ist kein gewöhnlicher verletzter Wolf – es ist unser Gefährte. Mein Gefährte. Alles in mir sträubt sich gegen diese schockierende Erkenntnis. Ich kann ihn nicht einfach hier sterben lassen, aber ich kann auch nicht riskieren, dass er mich entdeckt und zu seinem Rudel bringt. Wenn er das tut, ist alles vorbei – mein Studium, mein neues Leben, meine Flucht vor Simon.
Für einen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, bin ich wie gelähmt, unfähig, mich zu bewegen. Dann fällt mir auf, dass der Wolf aufgehört hat, sich zu bewegen.
Annika hält den Atem an, jeder Muskel in ihrem Körper angespannt wie bei einer Raubkatze, die auf den Sprung wartet.
Ein leises Schnauben durchbricht die Stille – rau, aber beruhigend. Es ist keine Drohung, kein Knurren. Es klingt eher wie eine Bitte, ein verzweifelter Hilferuf.
Annika kriecht vorsichtig durch die Büsche, bis wir ihn endlich sehen können. Verdammt noch mal! Sein Bein steckt in einer Bärenfalle, das Metall hat sich grausam in sein Fleisch gegraben. Kein Wunder, dass er in Wolfsform geblieben ist – eine Verwandlung hätte sein Bein zerfetzt.
„Ich kann nicht fassen, dass er nicht vor Schmerz schreit“, murmelt Annika fassungslos.
Sie hat recht. Sein Bein ist völlig zertrümmert. Knochen ragen durch die aufgerissene Haut, und Blut tränkt den Boden unter ihm.
„Du musst ihm helfen, Yara. Er ist unser Gefährte. Bitte!“ Annikas Stimme zittert vor Dringlichkeit, beinahe flehend.
„Ich weiß. Und ich werde ihm helfen. Aber nur, wenn er es zulässt“, antworte ich, meine Entschlossenheit wächst.
Das Letzte, was ich will, ist, mich vor einem Fremden zu entkleiden – selbst wenn er mein Gefährte ist. Aber ich habe keine Wahl. Wenn ich mit ihm sprechen und ihm helfen will, muss ich die Verwandlung zulassen.
Meine Knochen verschieben sich, und ich kehre zurück in meine menschliche Form. Vor mir liegt der schwarze Wolf, seine leuchtend grünen Augen ruhen auf mir – intelligent, durchdringend und voller Schmerz.
„Hey, Großer“, beginne ich mit sanfter Stimme, die ich bewusst beruhigend halte. „Ich sehe, dass du in einer Falle gefangen bist. Ich möchte dir helfen. Ich weiß, dass du dich nicht verwandeln kannst, sonst reißt du dir das Bein ab. Das muss höllisch wehtun. Aber ich will versuchen, dir zu helfen, wenn du es zulässt.“
Langsam trete ich näher, jede Bewegung bedacht und vorsichtig. Gefährte oder nicht, er ist ein verletzter Wolf, und verletzte Tiere sind unberechenbar. Ich strecke meine Hand aus, lasse ihn mich beschnuppern, damit er sieht, dass ich keine Bedrohung bin.
„Ich bin Ärztin … na ja, fast. Ich studiere, um Menschen und Wölfen zu helfen. Ich will dir nichts tun. Lässt du mich versuchen, dich zu befreien?“
Der Wolf schnuppert an meiner Hand und drückt dann sanft seine Schnauze dagegen. Mein Herz schmilzt. Vorsichtig lasse ich meine Finger durch sein Fell gleiten. Als ich an eine verkrustete Stelle komme, die nach Blut riecht, zucke ich zusammen. Ich will gar nicht wissen, was noch in seinem Fell steckt, aber ich kann mir denken, dass es Reste von Eingeweiden und Knochen sind.
Ich sehe auf, suche den Mondschein, der durch die Baumkronen fällt. „Kannst du ein Stück nach rechts rücken? Ich brauche mehr Licht, um die Falle besser zu sehen.“
Der Wolf humpelt langsam zur Seite, seine Augen behalten mich im Blick – wachsam, aber ohne Aggression.
„Verdammte Drecksfalle“, murmele ich, als ich die Metallzähne untersuche. „Wie können sie einander nur so etwas antun?“
Ich sehe ihn erneut an. „Ich weiß, wie ich dich befreien kann, aber das wird wehtun. Sehr. Danach werde ich mir dein Bein genauer ansehen.“
Mit festem Griff lege ich meine Hände an die Falle. Annika bietet mir ihre Stärke, und ich bin bereit. „Versuch nicht zu beißen – und, wenn möglich, nicht zu schreien. Wer weiß, ob jemand in der Nähe ist.“
Er schnauft leise – einverstanden.
„Eins … zwei … drei!“
Mit all unserer Kraft drücken wir die Falle auf. Der Wolf jault auf, ein scharfer Laut, der in der Nacht verhallt. Doch er humpelt schnell aus der Falle, hält sein verletztes Bein in der Luft.
Dann dreht er sich um, sieht mich einen Moment lang an, bevor seine Knochen zu knacken beginnen. Vor mir steht ein Mann – groß, muskulös, mit einer Präsenz, die mir den Atem raubt.