Kapitel 6

1467 Worte
Rin Am nächsten Morgen um 9 Uhr ging sie in Wils Büro und starrte ihn an. Er lächelte sie an, als wäre alles in bester Ordnung: „Guten Morgen, Marrin.“ „Wirklich?“, gab sie dem Mann zurück, der versucht hatte, sie dazu zu bringen, ihr Leben wegzuunterschreiben. „Ich habe die Scheidungspapiere geändert. Entweder Calvin findet das gut und nimmt es hin, oder wir gehen vor Gericht und machen eine große Sache daraus“, erklärte sie, während sie sich vorbeugte und die Papiere auf den Schreibtisch legte. „Was?“, fragte Wil mit gerunzelter Stirn. „Die Scheidung ist in Ordnung, du bekommst alles, was du in den letzten drei Jahren hattest.“ „Ach ja?“, sagte sie und blätterte zu der Seite, auf der stand, dass ihr alles am Tag nach der offiziellen Scheidung übergeben werden sollte. Das war der Tag, an dem sie nach Italien fliegen sollte. „Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Erklärung etwas erreichen werde.“ „Natürlich wirst du das. Es ist ein rechtsgültiges und verbindliches Dokument.“ „Ach ja, und wann werde ich in dem Haus wohnen, da Calvin beschlossen hat, mich ins Ausland zu schicken, damit ich nie wieder zurückkomme?“ „Wovon redest du, Marrin, ich verstehe dich nicht“, schnaufte er. „Oh, du verstehst mich nicht, ich bin doch keine dumme Tussi, die nicht merkt, dass der Urlaub, den er mir geschenkt hat, eine Einbahnstraße ist. Es gibt kein Rückflugticket, nur einen Monat in Italien ohne Rückkehr in die Staaten. Er schickt mich für immer weg. Also, wann soll ich in diesem Haus wohnen, wenn ich nicht zurückkommen soll? Ich schätze, er hat nie gedacht, dass ich mir die geplante Reise wirklich ansehen würde.“ „Marrin, so ist es nicht.“ „Ich glaube doch. Da er mich loswerden will, werde ich gehen, aber ich habe drei Bedingungen, unter denen er mich loswerden kann. Wenn ich aus meinem Leben und von meinen Freunden verschwinden soll, weil er so klar entschieden hat, dass das in seinem besten Interesse ist, dann wohl.“ Sie blätterte zu der Seite mit den Ergänzungen, die sie erstellt hatte. „Erstens will ich den Wert des Hauses in bar, er kann das Haus behalten. Er kann damit machen, was er will“, erklärte sie knapp. „Für ihn ist es nur ein Haus, für mich ist es kein Zuhause. Sein einziger Wert ist Geld für ihn. Also Bargeld statt Haus, und ich will, dass die Abwicklung eine Woche vor meiner Abreise erfolgt, damit er mich nicht einfach pleite in einem fremden Land zurücklässt, wo ich mich nicht selbst versorgen kann.“ Sie sah, wie Wil die Stirn runzelte. Ja, sie wusste, wie man hart verhandelt. „Zweitens will ich, dass Calvin mich selbst zum Flughafen bringt und nicht irgendein Chauffeur. Er selbst hat mich dorthin gefahren. Ich will, dass er aus dem Auto steigt, mein Gepäck herausholt und es neben mich auf den Gehweg stellt. Wenn er mich wegschicken will, dann soll er das verdammt noch mal selbst tun, persönlich.“ Sie zeigte auf die Klausel. „Ich denke, das habe ich mir verdient, oder?“ „Drittens will ich, dass er mich am Flughafen zum Abschied küsst, nur einen Kuss.“ Sie murmelte vor sich hin und hasste sich dafür, dass sie das von ihm verlangte, aber dieser Mann hatte die Frechheit, sie wegschicken zu wollen, ohne ihr zu sagen, dass es für immer war. Dass er sie nicht zurückhaben wollte, hatte sie verstanden, dank seines One-Way-Flugtickets. Also würde sie ihm mit gleicher Münze heimzahlen und ihn zu etwas zwingen, das er nicht wollte. Wil starrte sie nur an. Sie wusste, dass er ihren Ehevertrag geschrieben hatte und dass darin keine Kuss-Klausel stand. „Das wird er nicht tun, Marrin.“ Wil schüttelte den Kopf. „Doch, das wird er, er ist ein Milliardär und ich eine einsame Waise, die er ausgenutzt hat. So wird es vor Gericht laufen“, sagte sie mit fester Stimme. Wil starrte sie jetzt an. „Bist du so grausam, Marrin? Dass du ihn wegen eines einzigen Kusses durch den Dreck ziehst?“ „Ja, anscheinend bin ich kleinlich, und ich bin wütend, dass er es für richtig hält, mir mein Leben und meine Freunde zu nehmen, mich an einen Ort zu schicken, wo ich die Sprache nicht spreche, und mich dort zu lassen, mich in einem fremden Land auszusetzen. Ich finde, dafür steht mir eine Entschädigung zu.“ Wil sah sie jetzt mehr als wütend an. „Deine Ausdrucksweise ist mir egal, William, es ist nur ein Kuss, und dann bin ich aus seinem Leben verschwunden und komme nie wieder zurück. Er wird als liebevoller Ehemann angesehen werden, der seine Frau auf eine Reise schickt, das ist alles. Wenn jemand das sieht, wird es seinem Ruf nicht schaden, sondern ihn wahrscheinlich nur noch liebevoller und fürsorglicher erscheinen lassen. Er kann sich damit abfinden“, schnauzte sie ihn an. „Nur ein Kuss, bevor du dich von mir scheiden lässt. Ich glaube nicht, dass das so schwer ist. Er kann es nehmen oder lassen. Ich unterschreibe das sofort vor deinen Augen, wenn er einverstanden ist.“ „Jetzt sofort?“, fragte er. „Ja“, sagte sie. „Ich werde gehen, wie er es will, und er wird mich nie wieder sehen müssen. Das letzte Mal, dass er mich jemals sehen muss, ist, wenn ich den Flughafen betrete. Ich warte, ruf ihn an.“ Sie ging hinüber und setzte sich auf die Couch in seinem Büro. Sie würde warten, es war ein verdammter Bluff, und das wusste sie. Sie würde ihn niemals vor Gericht zerren, aber sie würde ihn dazu bringen, das zu glauben, und sie würde einen einzigen Kuss von dem Mann bekommen, den sie liebte, bevor sie ging und ihn nie wieder sah. „Diese Seite von dir habe ich noch nie gesehen“, murmelte Wil. „Das haben nicht viele“, antwortete sie. „Aber ihr vergesst alle, dass ich immer auf mich allein gestellt war und mit allem fertig werde, was mir widerfährt. Auch damit, aus dem Land geworfen zu werden. Aber ich werde zu meinen Bedingungen gehen, nicht zu seinen.“ Sie hörte ihn schwer seufzen und sah, wie er Calvin anrief, um ihm zu sagen, dass sie nicht nur in seinem Büro war, sondern auch Änderungen an den Scheidungspapieren vorgenommen hatte. Er las sie vor und sah sie danach direkt an. Sie wusste, dass Calvin oben in seinem Büro im 15. Stock war. Sie glaubte nicht, dass er hierherkommen und sie anschreien würde. Sie fand ihre Forderungen auch nicht so unvernünftig. Das Einzige, was sie tatsächlich geändert hatte, war das Haus gegen Bargeld. Er hatte Milliarden. Was dieses Haus wert war, war für ihn wahrscheinlich nur Kleingeld, oder er würde es an einem Tag mit Zinsen wieder hereinholen. Es herrschte drei Minuten lang Stille, dann legte Wil auf und sah sie direkt an. „Er ist einverstanden, wird das heute selbst unterschreiben, nachdem du es getan hast, und ich werde dir deine Kopie per Kurier schicken.“ „Okay“, nickte sie, stand auf, ging hinüber, nahm den Stift, den er ihr hinhielt, und unterschrieb zum letzten Mal mit dem Namen Marrin Reeves. Sie holte ihr Kündigungsschreiben aus ihrer Handtasche und reichte es ihm. „Darum kannst du dich kümmern“, sagte sie. „Ich bin fertig hier.“ Dann drehte sie sich um und verließ das Büro. „Was ist los?“, rief er ihr nach. „Meine Kündigung“, rief sie über die Schulter zurück. Sie kehrte nach Hause zurück und sah sich ihre Finanzen an. Als Marilyn Riddley hatte sie genug Geld verdient, um sich eine Anzahlung für ein eigenes Haus leisten zu können. Sie würde sich noch heute auf die Suche machen. Und wenn die Scheidungsvereinbarung eintraf, würde sie alles auf einmal bezahlen und endlich etwas Eigenes besitzen, das ihr niemand wegnehmen konnte. Die einzige Frage war, wohin sie gehen wollte und welche Umgebung ihre Kreativität beflügeln würde. Sie wusste nur, dass sie kein Haus in der Nähe des Meeres wollte, also half ihr dieser Gedanke bei ihrer Entscheidung: kein Bundesstaat, der an das Meer grenzt. Wenn nicht das Meer, dann musste es ein Wald oder ein Berg sein, vielleicht an einem Fluss. Sie fragte sich, ob sie all das an einem neuen Wohnort finden würde. Sie würde einen ruhigen, abgelegenen Ort finden, wo niemand Calvin Reeves kannte oder wusste, wie seine Ex-Frau aussah. Sie brauchte eigentlich nur ein kleines Häuschen, wo sie mit ihren Gedanken allein sein konnte. Sie war immer allein gewesen, also würde ihr ein Leben allein mitten im Nirgendwo wahrscheinlich ganz gut gefallen. Aber wo sollte dieser ruhige Ort sein?
Kostenloses Lesen für neue Anwender
Scannen, um App herunterzuladen
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Schriftsteller
  • chap_listInhaltsverzeichnis
  • likeHINZUFÜGEN