Rin
Sie schlenderte auf der Verlobungsfeier von Wil und Anabell herum und unterhielt sich mit allen, die sie ansprachen. Sie hatte erkannt, dass mit der Unterzeichnung der Scheidungspapiere von Calvin und ihr die Ehe nun endgültig beendet war. Sie musste nicht mehr jeden Moment des Abends an Calvins Seite stehen und die liebevolle Ehefrau spielen, um die er sie gebeten hatte und die sie vor drei Jahren akzeptiert hatte, also entschied sie sich, es nicht zu tun.
Obwohl er auf der Party angekommen war und direkt auf sie zugegangen war, wie er es normalerweise tat, wenn sie getrennt zu einer Veranstaltung kamen. Er hatte das getan, was er in den letzten drei Jahren immer getan hatte, er war in die Rolle gefallen, die er sich selbst zugeteilt hatte, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. Er hatte einen Arm um ihre Taille gelegt und seine Hand auf ihre Hüfte gelegt. Eine klare Demonstration, dass sie Mann und Frau waren, für alle um sie herum sichtbar. Nur waren sie das nicht mehr.
Sie hatte eine Kopie der unterschriebenen Scheidungspapiere per E-Mail erhalten, noch bevor sie das Haus verlassen hatte, um zu Wil und Anabells Verlobungsfeier zu gehen, zusammen mit dem Brief des Richters, in dem das Datum der Scheidungsvereinbarung festgelegt war; alles war unter Dach und Fach.
Die Einladung zu dieser Party hing an ihrem Kühlschrank, und sie hätte sie fast vergessen. Sie hatte sie heute Morgen gelesen, als sie sich nach der Arbeit bei Calvin etwas zu trinken aus dem Kühlschrank holte, und hatte sogar überlegt, ob sie heute Abend hingehen sollte, aber die Einladung war an sie beide adressiert. Außerdem mochte sie Anabell, und sie trafen sich zweimal pro Woche zum Kaffee, manchmal auch zum Abendessen.
Warum sollte sie sich also den Anblick ihrer Freundin auf ihrer Verlobungsfeier versagen?
Nur damit Calvin sich wohlfühlt und sie nicht mehr sehen muss. Die Party war groß und fand in Wils Penthouse-Wohnung statt, die genauso groß und luxuriös war wie die von Calvin, sodass sie sich theoretisch einfach in verschiedene Richtungen bewegen konnten und sich wahrscheinlich gar nicht begegnen würden.
Wil wollte kein Haus und keinen Garten, und seine Wohnung lag in der Nähe seines Büros und des Gerichts. Anabell schien das auch nichts auszumachen, obwohl diese Wohnung vier Schlafzimmer hatte – für den Fall, dass sie mal eine Familie gründen wollten.
Sie spürte Blicke auf sich, als sie sich alleine auf der Party bewegte. Es war ziemlich nervig zu wissen, dass er sie beobachtete, wo er doch derjenige war, der die Scheidung wollte. Sie beobachtete ihn nicht, um ihm zu zeigen, dass sie sich an die Scheidung hielt.
Irgendwann lehnte sich Anabell an sie, hakte ihren Arm ein, so wie sie es zuvor mit Calvin gemacht hatte, und flüsterte ihr zu: „Was hat er gemacht?“ Sie standen auf dem Balkon, wo sie sich hingestellt hatte, um Calvins Blick zu entgehen und frische Luft zu schnappen.
„Die Aussicht ist echt schön“, sagte Rin und lächelte sie an.
„So schlimm, was? Er ist...“
„Das ist egal, Anabell, das ist dein Abend mit Wil“, lächelte sie sie an. „Hab Spaß und kümmere dich nicht um Dinge, die nichts mit dir und Wil zu tun haben. So sollte eine Verlobungsfeier sein. Hast du mein Geschenk schon aufgemacht?“
„Noch nicht“, lächelte Anabell. „Wir könnten jetzt die Geschenke auspacken“, schlug sie vor und zog Rin zurück ins Haus. Sobald sie die Balkontür hinter sich geschlossen hatten, spürte sie Calvins Blick auf sich. Sie ignorierte ihn, während Anabell sie zu einem Stuhl schob und allen sagte, es sei Zeit, die Geschenke auszupacken.
Sie ließ sich auf die Armlehne eines Stuhls fallen und stellte zu ihrem Ärger fest, dass Calvin einen Moment später direkt hinter ihr stand. Sein Mund berührte sanft ihr Ohr. „Du solltest nicht so offensichtlich genervt sein, das steht dir nicht“, flüsterte er.
Sie presste die Kiefer aufeinander und fragte sich, was ihn bloß dazu brachte, zu glauben, es sei in Ordnung, ihr so nahe zu sein. Sie drehte ihr Gesicht zu ihm, das nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, und hörte Anabell rufen: „Küss das Mädchen, sie wird dir verzeihen.“
Ein halbes Lachen entfuhr ihr, als sie ihn fast schon herausfordernd anstarrte. Das war das Lustigste, was sie in diesem Moment je gehört hatte, auch wenn gleichzeitig Schmerz ihr Herz berührte. Weil er das niemals tun würde, wandte sie ihr Gesicht von ihm ab und schüttelte den Kopf in Richtung Anabell. „Öffne endlich deine Geschenke“, sagte sie und ignorierte Calvin, der direkt hinter ihr stand.
Rin wollte ihm sagen, er solle sie nicht anfassen. Als seine Hand sanft auf ihren nackten Arm fiel, schien es, als würde er den ganzen Abend den liebevollen, vernarrten Ehemann spielen, und wenn sie in diesem Moment aufgestanden wäre und von ihm weggegangen wäre oder seine Hand weggeschoben hätte, hätten alle in diesem Raum gewusst, dass sie sich tatsächlich stritten. Das war in ihrem Ehevertrag nicht erlaubt, der eigentlich erst mit der Scheidung endete; darin stand, dass man sich nicht in der Öffentlichkeit ungebührlich benehmen durfte.
Andererseits waren sie geschieden, die Papiere waren unterschrieben und sie warteten nur noch auf die Abkühlungsphase, sozusagen. Ihr Blick wanderte zu seiner Hand auf ihrem Arm, während seine Finger sanft darüber strichen, wie sie es immer taten. War es wirklich noch wichtig, was andere dachten? Sie würden es alle bald erfahren.
„Tu es nicht“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Lass uns jetzt nicht die Party ruinieren.“
Ein paar Minuten später stand sie auf, es gab viele Geschenke auszupacken, und ging ins Badezimmer. Dort stand sie und starrte ihr Spiegelbild an. Sie lächelte nicht, sondern sah sogar genervt aus, wie sie bemerkte.
„Du schaffst das“, flüsterte sie sich zu. „Es ist nicht anders als damals, als du zum ersten Mal neben ihm standest und nicht wusstest, ob du dich an seinen Arm lehnen solltest. Reiß dich zusammen.“ Sie straffte die Schultern, ging zurück ins Zimmer, setzte sich direkt vor Calvin und lächelte. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, glücklich zu wirken, auch wenn sie es nicht war. Jetzt war es an der Zeit, das wieder anzuwenden. Anabell holte ihr Geschenk hervor und las die Karte laut vor, zögerte dann am Ende und sagte schließlich: „Von Marrin und Calvin.“ Rin wusste jedoch, dass sein Name nicht auf der Karte stand. Sie sah auch, dass Wil sie ansah, und lächelte ihn an. Er konnte sehen, dass Calvins Name nicht da stand, und er wusste sogar, warum sie ihn nicht darauf geschrieben hatte, Anabell jedoch nicht. Marrin hatte ihn erst heute geschrieben, mit schönen Worten darüber, wie glücklich sie sein würden, und ihn mit „Marrin“ unterschrieben, ohne ihren Nachnamen und den von Calvin, obwohl sie normalerweise „Marrin & Calvin Reeves“ geschrieben hätte.
Sie sah zu, wie Anabell das Geschenk öffnete, und sah, wie ihre Augen leuchteten. „Wo hast du das her? Es ist schon ausverkauft. Ich habe nirgendwo ein Exemplar bekommen.“
Es war die neueste Hardcover-Ausgabe ihres neuen Buches „Born Light & Dark“, ein Fantasy-Liebesroman, der erste Teil ihrer dreiteiligen Reihe. „Mach es auf“, sagte Rin.
„Nein, das kannst du nicht.“ Anabell öffnete den Einband, hielt sich die Hand vor den Mund und sah zu Will auf. Er lächelte sie an und las die Worte, die Anabell nicht aussprechen konnte.
„Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung, Anabell und William. Lasst eure Liebe füreinander immer strahlen, taucht ein in eure Leidenschaft und schafft euch ein glückliches, liebevolles Leben mit vielen sinnlichen, heißen Erinnerungen, Marilyn Riddley.“
„Wie?“, brachte Anabell schließlich heraus.
„Ich hab meine Mittel...und nein, es war nicht Calvin“, sagte sie, um sicherzugehen, dass niemand im Raum dachte, er hätte das getan. „Ich habe sie vor ein paar Tagen getroffen, ich kenne sie aus dem College, habe sie angerufen und ihr gesagt, dass du ein großer Fan bist, und sie hat mir das aus ihrem persönlichen Bestand gegeben.“
„Es war ihr Buch. Das war Marilyn Riddley?“ Anabell wandte ihren Blick dem Buch zu. „Ich werde niemals eine Seite umknicken.“
„Bücher sind zum Lesen da, nicht zum Verstauben. Ich bin mir sicher, dass sie wollte, dass du das liest.“ Sie streckte die Hand aus und tippte auf die Unterseite der Seite, wo in winziger Handschrift die Worte „Lies mich, M.R.“ standen.
Anabell umarmte sie fest. „Ich liebe es, und ich kann nicht glauben, dass du sie kennst.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Die Welt ist manchmal klein. Frag nicht. Ich werde dich nicht zu ihr mitnehmen. Das macht sie nicht, sie ist ein bisschen zurückgezogen. Lebt allein und abgeschieden von der Welt.“
Eine Stunde später verabschiedete sich Rin von Anabell und Wil, verließ die Wohnung und trat in den Flur, wo sie leise seufzte. Endlich war sie außer Sichtweite von Calvin. Sie ging zum Aufzug und drückte den Knopf, doch dann hörte sie, wie sich die Tür öffnete und schloss, und Calvin sagte: „Du solltest nicht ohne mich gehen, das ist ein bisschen unhöflich.“
„Warum? Wir sind getrennt gekommen, bleib hier. Es ist ja nicht so, als wüssten sie nicht, dass du hier in der Stadt wohnst und ich eine Stunde entfernt...Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ich vor dir gehe.“ Und das war es auch nicht.
„Nein, aber ich bringe dich immer zur Tür. Du hast mir nicht mal gesagt, dass du gehst“, murmelte er.
„Muss ich das noch tun?“ Sie sah ihn direkt an. Sie hatte ihn noch nie so zu ihr murmeln hören. Das war neu für sie. „Ich dachte, wir wären...“
Er hatte seinen Arm um ihren und zog sie von der Tür zu Wils Wohnung weg, bevor sie das Wort „geschieden“ herausbringen konnte. Er zog sie bis ins Treppenhaus und schlug die Tür zu. Dann drehte er sich um und sah auf sie herab. „Ich will nicht, dass du das in der Öffentlichkeit sagst, das geht niemanden etwas an, Rin. Es wird auch noch nicht bekannt gegeben.“