Szene 3

1292 Worte
„6360! Aufstehen!“ Der Ton war aggressiv, befehlend und ließ keinen Widerspruch zu. Langsam richtete er sich daraufhin auf. Er wusste, dass es nicht gut war einen Ruf zu ignorieren. Sein Körper schmerzte alleine bei der Erinnerung daran und so stand er nun mit gesenktem Haupt vor seinem schlichten Bett. Das ihm gegenüber war leer. Er wusste, was sein Genosse vorhatte und hatte für ihn gebetet. „Hände auf den Rücken! Du musst mitkommen!“ Er hörte die Zellentür und im nächsten Moment hing der Duft von Parfüm in der Luft. Dieser Geruch ließ seinen Magen rotieren, denn es war noch nie etwas Gutes passiert, wenn er ihn wahrgenommen hatte. Brav legte er seine Hände auf den Rücken und im nächsten Moment war dort das kalte Eisen und er wurde aus der Zelle geführt. Er wusste, dass es falsch war, wie sie hier alle behandelt wurden, dennoch konnte er nichts dagegen tun. So oft hatte er seinem Zellengenossen erzählt, wie die Welt dort draußen war. So unendlich frei und ohne diese Gewalt. Anscheinend hatte er es einmal zu oft getan. Er ging an einigen Zellen vorbei. Vereinzelt hörte er leise Unterhaltungen darin. Sie hatten nur ihren Genossen zum Reden. Es gab keinen anderen Kontakt zu Menschen. Die Wärterinnen sprachen nur das Nötigste mit ihnen und holten sie nur für eine Sache aus der Zelle. Ein Schauer glitt ihm bei diesem Gedanken über den Rücken, doch er wusste, dass es dafür zu früh war. Er hatte noch ein paar Tage Schonfrist. Als sie im Flur ankamen, gingen sie auch in eine andere Richtung. Weg von diesem einen Raum, den er am Liebsten nie wieder sehen würde, doch dies war jetzt sein Zuhause. Er wusste, dass es keine wirkliche Freiheit gab. Nicht für jemanden wie ihn. Für einen Mann. Im nächsten Moment kam er in einem kleinen Raum an, der genauso weiß und steril wirkte, wie alles an diesem Gebäude. Die einzigen Möbelstücke hier waren ein Tisch und ein paar Stühle. Genauso wie eine verschlossene Truhe, die er am Liebsten ignorierte. Er wollte nicht wissen, was dort drinnen war. Grob drückte man ihn auf den Stuhl und befestigte seine Arme daran, bevor eine Frau neben der Tür Stellung nahm und sich die andere ihm gegenüber setzte. „So, 6360. Du weißt bestimmt, warum wir dich hierher gebracht haben, oder?“ „Nein, weiß ich nicht.“ Nie zu viel sagen. Wer zu viel sprach, konnte das Falsche sagen. „Geht dir nicht irgendetwas ab?“ „Doch, mein Zellengenosse. Ich habe ihn seit Sie ihn zum Melken abgeholt haben nicht mehr gesehen.“ „Tja, das liegt daran, dass er geflohen ist.“ Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz einen freudigen Sprung machte und schneller schlug. Sein Freund hatte es geschafft. Er war in die Freiheit gekommen und anscheinend hatten sie ihn noch nicht gefunden. Es gab also doch Hoffnung. Ein glühender Schmerz durchfuhr seinen Körper, als er einen Schlag mit dem Stock abbekam. „Die Welt dort draußen existiert für euch nicht und wir werden ihn wieder finden!“ Als hätten sie seine Gedanken gelesen, doch sie konnten die Hoffnung nicht zerschlagen, dennoch senkte er demütig seinen Kopf um weiteren Schlägen zu entkommen. „Und was wollen Sie nun von mir?“ Er hatte eine Vermutung, doch er wollte nicht zu viel von sich preis geben. Jedes Wort konnte eines zu viel sein und sein Leben zerstören. Wenn er nur wüsste, wie es sein Kumpel geschafft hatte. Sie wurden doch immer äußerst genau bewacht. „Ihr habt bestimmt geredet. Hat er dir gegenüber erwähnt, wohin er gehen wollte, wenn seine Flucht gelingen sollte? Oder anders gefragt: Hast du ihm von einen Ort erzählt, an den er gehen könnte? Schließlich kennst du die Welt, im Gegensatz zu ihm.“ „Nein, ich habe nichts gesagt und ich weiß auch nicht, wo er sein könnte.“ Erneut ein Schlag, der sein Denken für einen kurzen Moment durchbrach. „Wir können auch andere Seiten aufziehen. Sprich, wertloser Mann!“ „Ich weiß nichts.“ Es war die Wahrheit. Klar, er hatte ihm von seiner Kindheit in Freiheit erzählt, doch all diese Orte existierten nicht mehr. Er wusste, was mit Frauen passierte, die einen Mann versteckten. Sei er auch noch so jung und klein. Es war egal. An sich gab es nur zwei Optionen für eine Familie, die einen Jungen bekam: Entweder sie gaben ihn ans Zuchthaus oder töteten ihn. Nur die ganz reichen Familien konnten es sich erlauben eine Kastration zu zahlen und ihren Sohn somit zu behalten. Man schlug ihn hart gegen die Brust. „Lüg nicht! Nur du konntest ihn diesen Floh ins Ohr gesetzt haben! Er kennt die Welt außerhalb dieser Mauern gar nicht! Also, sprich endlich! Oder müssen wir deine Zunge lockern?“ Sie winkte der anderen Frau zu und diese ging zu der Truhe im Raum. Nur langsam öffnete sie sich und gab den Blick auf ein Arsenal an Folterinstrumenten frei. Er spürte, wie sein Atem stockte und die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Was wollten sie von ihm? Das war doch nicht ihr Ernst? „Ich weiß nichts! 6357 hat nichts zu mir gesagt! Nicht einmal, dass er überhaupt fliehen wollte! Bitte, glauben Sie mir!“ Sein Körper begann zu zittern, als sich seine Verhörerin ein Skalpell nahm und zu ihm zurück kam. „Ich würde dir gerne glauben, 6360. Aber ich weiß, dass du uns anlügst. Du hast ihm Informationen gegeben und die würden wir jetzt gerne hören.“ Kaum war die letzte Silbe verklungen, glitt die Klinge wie durch Butter in seine Haut und löste eine Welle aus Schmerz aus. Er konnte den Schrei nicht in seiner Kehle halten, als ein Schnitt nach dem anderen auf seinem Arm vollzogen wurde. „Ich weiß nichts. Wir haben nur ab und an über unsere Kindheit gesprochen. Sonst nichts.“ Seine Stimme zitterte unter dem Schmerz, doch er bekam nur ein enttäuschtes Seufzen. „Das glaub ich nicht. Da muss mehr sein. Sing mein Vögelchen. Sing.“ Das Messer wanderte weiter zu seiner Brust. Vergrub sich dort und öffnete neue Flüsse des roten Blutes. Er spürte, wie sich Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung über seine Wange schlängelten, doch er konnte ihnen nichts anderes sagen. Schließlich wusste er nichts. Gar nichts. Warum haben sie ihn damals nicht getötet? „Ich weiß nichts. Bitte, glauben Sie mir doch. Nur unsere Kindheit. Mehr nicht.“ Sie hörte nur kurz auf und holte einen Heizstab. Er traute seinen Augen nicht und versuchte mit dem Stuhl nach hinten zu entkommen. „Nein! So glauben Sie mir doch! Ich habe ihn nur von dieser Zeit erzählt! Keine Ortsnamen oder Menschennamen! Nichts! Selbst wenn! Sie existieren doch nicht mehr!“ Ein neuer Schmerz durchzog seinen Körper und Geist, als sich der Raum schon mit dem Geruch von verbrannter Haut füllte. „Ich weiß es. Das ist nicht alles.“ Immer wieder drückte sie den Heizstab auf seinen Körper und nach einer Weile wurde aus seinen Schreien nur noch ein Wimmern. Immer wieder wiederholte er diese Worte: „Kindheit. Nur Kindheit. Mehr nicht. Bitte. Hören Sie auf.“ Dass er dies tat, nahm er nicht mehr richtig war. Seine Welt bestand nur noch aus Schmerzen, fließenden Blut und den Geruch von verbrannter Haut. Er wollte nicht hier sein. Nur noch fliehen. Wie konnte es solch einen Ort neben seiner alten Heimat geben? Das war nicht möglich. Er spürte, wie die Dunkelheit um ihn herum immer größer wurde und sie sich langsam um seinen Geist legte. „Nur Kindheit. Mehr nicht. Bitte. Aufhören.“ Seine Wahrnehmung verschwand gänzlich, doch bevor ihn die Schwärze komplett verschluckte, sah er das Lächeln eines braunhaarigen Mädchens, das ihn mit Glück erfüllte. Wieso kam er nur als Mann auf die Welt?
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