Szene 7

1638 Worte
Tia betrat ihre Wohnung und hängte den Schlüssel an einen Haken neben der Tür, bevor sie aus ihrer Winterjacke schlüpfte und die Stiefel von den Füßen strich. Draußen war es so erbärmlich kalt, dass sie erst jetzt merkte, dass ihre Finger schon leicht taub geworden waren. An sich wollte sie nur bessere Sachen für den Flüchtling holen und auch etwas mehr zum Essen, doch sie wusste noch nicht, wie sie ihr Verhalten ihrer Mitbewohnerin Franziska erklärte. Sie seufzte schwer, als sie schon die feucht fröhliche Unterhaltung aus dem Wohnzimmer hörte. Anscheinend hatten sie Besuch. Ein Umstand, der das Ganze nicht gerade besser machte, doch sie betrat dennoch das Wohnzimmer, das unmittelbar an den kleinen Flur angrenzte, der an sich wirklich nur so viel Platz hatte, dass man Schuhe und Jacken darin unterbringen konnte. „Hallo, Franzi.“ Sie lächelte künstlich und nickte auch der Schwarzhaarigen zu. Sie kannte sie, aber irgendwie wollte sie sich ihren Namen nicht merken. Er war unbedeutend für sie, denn in ihrer Welt waren sie nur bescheuerte Mitläufer, die alles nachsprachen, was ihnen die Regierung vorsagte und nicht einmal darüber nachdachten. „Oh, hallo, Tia. Schon zurück? Ich dachte, dass du länger unterwegs wärst.“ Franziska lächelte sie ehrlich an, denn auch wenn sie sich im Thema Männer nicht einig waren, so vertrugen sie sich sonst ganz gut und an sich war sie eine gute Tarnung. Niemals würde eine Rebellin bei so einer starken Verfechterin der Gesetze unterkommen oder gar mit ihr befreundet sein. „Jein. Ich bin nur kurz da, um mir etwas zum Essen zu holen, weil ich langsam Hunger bekomme, aber einen richtig schönen Platz gefunden habe, wo ich ein paar Bilder malen kann. Deswegen bin ich auch gleich wieder weg, damit ich noch so weit wie möglich komme, bevor es dunkel wird. Du verstehst?“ Sie lächelte zurück und hörte dann plötzlich wieder die Warnungen wegen dem flüchtigen Mann, wodurch sie sich darum bemühte keine Regung darauf zu zeigen. Franziska durfte niemals erfahren, dass sie zu den Rebellen gehörte. „Ja, das kenn ich von dir. Aber mach nicht zu lange. Draußen ist es aktuell nicht sicher.“ Diese Naivität tat schon fast weh, wodurch Tia die Augen verdrehte und dann verächtlich schnaubte. „Was sollte er mir schon tun? Außerdem ist es äußerst gering, dass ich ihm überhaupt begegne. Ich finde, dass sie sich viel zu sehr ankacken wegen dem einen Mann, der entkommen ist.“ „Dem einen Mann?!“ Franziskas Augen weiteten sich, als sie einen kurzen Blick mit ihrer Freundin austauschte und dann Tia ungläubig anstarrte. „Jeder Mann in Freiheit ist eine potentielle Gefahr! Die dürfen nicht frei rumlaufen! Sie wollen uns doch nur alle vergewaltigen und ermorden!“ „Ach, Franzi. Das glaubst du doch selbst nicht. Niemals dreht sich die Welt eines Menschen nur um diese zwei Dinge: Vergewaltigung und Mord. Das ist lächerlich.“ Sie winkte ab, doch Franziska wollte sie nicht gehen lassen. „Doch, Männer schon! Für die sind wir alle nur leichte Beute, die sie verschlingen können und an denen sie ihre Lust ausleben können!“ Gerade kam wieder ein Bild des Flüchtigen und Tia spürte, wie wieder Mitleid in ihrem Herzen erwachte. Dieser traurige Blick und der abgemagerte Körper. So jemand konnte doch nicht wirklich eine Gefahr sein. Niemals. „Sieh ihn dir doch an! Der ist so ausgehungert, dass er keiner Fliege etwas zu Leide tun kann! In diesen verdammten Zuchthäusern werden sie doch nur gerade so am Leben gehalten, dass sie keine Probleme machen und man sie regelmäßig melken kann.“ Sie deutete bestimmend auf das Bild und hoffte, dass sie bei den anderen beiden Frauen etwas erreichte. Doch in diesen Augen war nur Unverständnis und schon fast so etwas wie Angst, wodurch Tia schwer seufzte. „Er ist ein wenig dünn, ja. Aber er ist immer noch ein Mann und er kann uns gefährlich werden. Auch wenn er ein sehr schöner Mann ist und ich wirklich darüber nachdenke ihn als Erzeuger meiner Kinder zu nehmen.“ Franziska sah begeistert auf das Bild im Fernsehen, doch dann schüttelte sie bestimmt den Kopf. „Aber auf offener Straße möchte ich ihm dennoch nicht begegnen. Er gehört eingesperrt, wie alle Männer. Unsere Welt ist doch jetzt viel besser.“ Nur Propagandamüll. Schlichtes Nachplappern. Tia konnte es nicht mehr hören und so gern sie Franziska hatte, umso mehr hasste sie ihre Denkweise in diesem Bereich, wodurch Tia ein dunkles Knurren nicht unterdrücken konnte. „Franzi hat Recht. Männer sind schrecklich. Sie haben uns immer unterdrückt und nur für ihre Zwecke missbraucht. Uns wie Gegenstände behandelt und jetzt bekommen sie die Quittung dafür. Solch egoistische, herrschsüchtige Wesen brauchen wir hier wirklich nicht“, mischte sich jetzt auch die Besucherin ein und erneut spannte sich Tias Körper an. Wie konnte man nur so blind sein? „Es gibt auch herrschsüchtige Frauen.“ Sie wollte noch mehr sagen, doch die ihr namentlich Unbekannte unterbrach sie sofort: „Das kann sein. Aber sie führen keine Kriege. Man einigt sich anders. Es ist friedlich. Alles ist perfekt. Es gibt keine Armut mehr. Kein Leid mehr. Wir leben in Utopia und wenn dafür nur die Männer verschwinden müssen, dann ist das in meinen Augen ein sehr geringes Opfer.“ „Nur?! Nur die Männer verschwinden?! Männer sind Menschen wie wir! Warum vergessen das alle?“ Tia wollte noch mehr sagen, doch der Blick der Schwarzhaarigen wurde drohend. Ihre grünen Augen wurden fast zu Schlitzen und sie spannte sich ein wenig an. „Bist du etwa? Gehörst du etwa zu den Rebellen und setzt dich für die Befreiung der Männer ein?“ Tia gefror das Blut in den Adern und sie konnte spüren, wie ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich, doch bevor sie etwas sagen konnte, begann Franziska sie zu verteidigen: „Ach, Anna, da denkst du falsch. Tia ist viel zu ängstlich um an solchen Aktionen teilzunehmen. Sie ist eine ruhige Frau, die den lieben langen Tag am liebsten malen würde. Sie denkt nur, dass es anders gehen sollte, aber niemals würde sie aktiv gegen die Regierung vorgehen. Schließlich ist sie ja nicht auf den Kopf gefallen.“ Franziska lachte peinlich berührt auf und Tia spürte, wie sich die Situation langsam zu entspannen begann. Auch wenn sie ihrer Mitbewohnerin dankbar war, dass sie Tia verteidigt hatte. So wurde sie den Frust in ihrem Inneren nicht los. Es war lächerlich. Warum sahen das so wenige? Es konnte doch nicht der Ernst dieser Welt sein? Frauen laufen an Mülltonnen vorbei in denen tote, männliche Säuglinge liegen. Nicht einmal sauber gemacht sind sie. Zerfressen von Maden und noch mit der Nabelschnur dran. Niemand macht sich auch nur im Ansatz die Mühe anders damit umzugehen. Es waren nur Fehler, die passierten ab und an. Tia wusste nicht genau, wie das sein konnte, weil ihr diese Art der Zeugung unnatürlich und abartig vorkam, wodurch sie sich nicht allzu stark damit beschäftigt hatte, aber irgendein System war durchaus dahinter. „Ja, ich finde nur, dass man nicht gleich alles glauben soll, was man so hört. Aber ich weiß, dass die Regierung nur unser Bestes will. Daher werde ich mich ihr nicht in den Weg stellen.“ Das war ihr einstudierter Text, wenn sie Gefahr lief enttarnt zu werden. Denn schließlich war die Regierung doch so souverän und offenherzig. Jeder konnte seine Meinung kundtun ohne etwas zu fürchten. Zumindest wurde das immer behauptet. Tia selbst bemerkte es aber, dass die großen Kritiker immer mehr verschwanden. Stück für Stück tauchten sie plötzlich nicht mehr auf und waren nicht mehr zu erreichen. Wie vom Erdboden verschluckt, bis man dann von ihrem Selbstmord berichtete. Diese Anna sah sie immer noch skeptisch an, doch dann lächelte sie. Ein Lächeln, das Tia einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Sie glaubte ihr nicht. Das spürte Tia ganz deutlich, dennoch erwiderte sie es und ging dann zurück an ihr eigentliches Vorhaben. Ruhig packte sie ein paar Nahrungsmittel in eine Tüte. Genauso wie einen warmen Parker. Dabei sah sie nicht einmal zu den beiden Freundinnen zurück. Sie hörte nur ihr Getuschel. Einzelne Wortfetzen erreichten sie. Es ging um Nachwuchs. Scheinbar dachten sie tatsächlich darüber nach der Einladung zu folgen. Alleine bei dem Gedanken daran grauste es sie schon. Wie konnte man so nur schwanger werden wollen? Klar, sie wünschte sich auch ein Kind, doch sie wollte in diese verquere Welt kein Leben setzen. Erst musste alles wieder richtig laufen, dann konnte man über Nachwuchs nachdenken. „Ich bin dann wieder weg. Bis heute Abend.“ Sie lächelte noch einmal zu Franziska, als diese ihren Gruß auch schon erwiderte: „Ja, bis heute Abend. Pass bitte auf dich auf. Das Monster läuft immer noch frei herum. Die Warnung ist noch nicht aufgehoben.“ Lächerlich. All das war so lächerlich. Sie kannte den Flüchtling und er konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Wie so viele andere Männer wohl auch. Denn auch wie bei den Frauen gab es sanftmütige und aggressive Menschen. So viele unterschiedliche Wesenszüge und Bestrebungen waren möglich, doch Tia war sich sicher, dass sich jeder Mensch wünschte in grenzenloser Freiheit zu leben. Frei von Ketten. Keine Gitterstäbe vor den Augen. Mehr als eine Nummer oder gar ein Objekt zu sein. Ja, einfach leben zu dürfen. Ohne Angst zu haben oder verstümmelt zu sein. Einfach frei zu sein. Ja, jeder hatte dieses Recht und Tia würde es mit ihren Rebellenkolleginnen für die Männer zurückholen oder dabei sterben. Denn sie wollte nicht tatenlos da sitzen und dabei zusehen, wie man das andere Geschlecht immer mehr ausmerzte und wie Objekte, die nur einen Nutzen hatten, missbrauchte. Sie würde dafür kämpfen und dann würde sie sich einen Mann suchen, um ein Kind zu zeugen, wie es die Natur vorgesehen hatte. Ein Kind, dem sie die wunderbare und wahre gerechte Welt zeigen konnte. Eine Gerechtigkeit, die sie wieder möglich gemacht hatte...
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