Sie hatten ihn durch den Wald geführt und dann sind sie zu einem Fels gegangen, dessen Eingang mit einem gleichfarbigen Tuch überdeckt war. Das perfekte Versteck und dennoch fühlte er sich in dieser Dunkelheit nicht wohl. Die Fackeln spendeten ein warmes Licht, aber er kam sich trotzdem gefangen vor. Auch wenn die Kälte hier nicht Einzug hielt, so hatte er nicht das Gefühl Zuhause zu sein.
Es waren nur Männer hier und sie wirkten ausgelassen und fröhlich. Er verstand es nicht. Schließlich mussten sie doch wissen, wie es all den anderen ging. Die Schussverletzung an seinem Bein wurde so professionell, wie es in der Wildnis möglich war, behandelt und es schmerzte kaum noch, wenn er auftrat, dennoch wollte er diese Freiheit nicht alleine genießen.
Er wusste, dass sein Zellengenosse immer noch gefangen war. Er hatte ihm von dieser Freiheit erzählt und er wollte nicht, dass dieser schlussendlich in Gefangenschaft starb. Schließlich spürte er selbst, wie schwer sein Herz wurde alleine bei dem Gedanken wieder hinter Gittern zu sein.
Den Vibrator hatten sie aus seinem Inneren entfernt. Genauso wie sie ihm den Käfig abgenommen hatten. Seit seiner Pubertät hatte er diese beiden Gegenstände in sich getragen und jetzt fühlte er sich auf sonderbare Weise leichter. Die erste Zeit jedoch hatte er die Vibrationen, die in relativ regelmäßigen Zeitabständen kamen, sogar ein wenig vermisst. Schließlich hatten sie so lange zu seinem Leben gehört und jetzt waren sie weg. Einfach weg. Er war frei.
„Na, Rick. Warum machst du so ein langes Gesicht?“ Der ältere Mann, der ihn zusammen mit Ted aufgelesen hatte, setzte sich neben ihn und klopfte ihm freundschaftlich auf den Oberschenkel. „Ich musste nur an meinen Zellengenossen denken, Alfred. Er hat mir von der Freiheit erzählt. Ohne ihn hätte ich diesen Versuch gar nicht erst gewagt und jetzt sitzt er noch dort fest. Ich würde ihn halt wirklich gerne da raus holen.“
„Ich kann dich verstehen, Kleiner. Aber es ist alles nicht so einfach. Die Frauen wissen nichts von unserer Existenz und wir würden es gerne dabei belassen. Wir haben hier alles, was wir brauchen. Essen, Trinken und einen trockenen Platz zum Schlafen. Das Leben könnte nicht besser sein.“ Er grinste breit und hielt Rick ein getrocknetes Stück Fleisch hin.
Dieser nahm es zögerlich an und biss dann ab. Es war auf sonderbare Weise lächerlich. Sie waren genug und wenn die Männer hier weiter warteten, dann würden sie irgendwann aussterben. Woher sollten sie Nachschub bekommen? Was sollten sie machen, wenn sie nur noch alt und schwach waren? Jetzt hätten sie noch eine Chance diese Tyrranei zu beenden, aber sie lachten und feierten ihre Freiheit ohne nach vorne zu sehen. Warum taten sie das? Weil ihnen dann wohl bewusst werden würde, dass sie dabei waren zu verlieren und unaufhaltsam auf ihren Untergang zu rannten.
„Was wollt ihr tun, wenn ihr alle alt seid? Elendig verhungern? Irgendwann gehen euch die jungen Männer aus oder woher bekommt ihr euren Nachschub?“ Rick sah seinen Gesprächspartner skeptisch an. Schließlich wusste er, was mit neugeborenen Jungen geschah. Entweder sie wurden kastriert, verkauft oder ermordet. Keine dieser Lösungen sah vor, dass diese Gruppe von Männern Nachwuchs bekam.
„Manchmal werden Babys am Waldrand ausgesetzt. Der Entsorgungsplan der Regierung ist das, wenn ich mich recht erinnere. Wir lesen sie auf und versuchen sie so gut es geht groß zu ziehen. Manche überleben es. Andere nicht. Bis jetzt konnten wir unsere Zahl so aber relativ konstant halten. Aber auch dieser Nachschub versiegt, wenn die Frauen erkennen, dass die Babys nicht von wilden Tieren getötet und gefressen werden, sondern von uns genommen werden. Diese Gruppe kann nur überleben, wenn niemand von ihrer Existenz weiß.“ Alfred sah Rick eindringlich an und dieser schluckte trocken. Was sollte er jetzt tun? Sie wären genug. Bestimmt könnten sie gewinnen, aber Alfred schien ihm nicht zuhören zu wollen.
Ruhig starrte Rick auf das Fleisch in seiner Hand und versuchte einen Weg zu finden, wie er die Männer von seinem Plan überzeugen konnte. Sie mussten sich endlich ihre Freiheit zurückholen. Schließlich waren sie doch keine Tiere, die man einfach nur bei Bedarf melken konnte. Alleine bei der Erinnerung daran lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie mussten ihre Kameraden befreien. Koste es, was es wolle.
„Wir könnten doch...“, begann er einen neuen Versuch, doch die dunkle Stimme von Alfred unterbrach ihn sofort scharf: „NEIN, Rick! Nein! Lass es bleiben! Es ist gut so wie es ist! Solange sie nichts von uns wissen, können wir in Freiheit leben und es geht uns gut! Das ist mehr, als wir erwarten können. Ich verstehe, dass dir deine Leute im Zuchthaus leid tun, aber wir haben keine Möglichkeiten sie zu befreien. Nicht heute und auch nicht morgen. Wir werden hier bleiben und du auch. Unsere Existenz muss geheim bleiben. Ich hoffe, dass du das endlich kapiert hast.“
Der Ältere stand auf ohne auf eine Antwort zu warten und Rick sah auf das Fleisch in seiner Hand. Es war lecker, obwohl es so einfach war und vor allem war es umso vieles anders, als das Essen in der Zelle. Diesen Fraß, den sein Genosse noch zu sich nehmen musste. Er hatte es ihm doch versprochen.
Verzweiflung machte sich in seinen Gedanken und Herzen breit. Er konnte nicht hier seine Freiheit genießen, wenn er genau wusste, was für Leid die anderen Männer ertragen mussten. Wie es dort drinnen wirklich aussah und was ihnen alle blühen konnte, wenn sie nicht endlich aufstanden und sich wehrten. Sie konnten sich in dieser Sache nicht alleine auf die Frauen verlassen. Denen ging es doch gut genug. Warum sollten sie also etwas an der Situation ändern wollen? Niemand stieß die prunkvolle Tafel um, an der er saß. Wirklich niemand.
Er sah noch einmal in die Runde. Die Männer lachten, feierten und ließen es sich gut gehen. Er fühlte sich hier wirklich wohl, aber dennoch spürte er, dass ihm etwas abging. Vor allem in den Nächten. In denen er seit langer Zeit schon von den Geräuschen seines Zellengenossen begleitet wurde. Sie fehlten ihn. Genauso wie die Gespräche mit ihm und sein Lächeln. Hoffentlich musste er nicht allzu stark leiden. Nur weil er geflohen war. Das wäre nicht fair.
Er atmete tief durch und sah noch einmal auf das Fleisch und die Menge Männer, bevor er sich langsam erhob und sich räusperte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Bitte, Männer. Hört mich an! Uns mag es gut gehen! Wir sind frei! Doch dort in den Städten! Bei den Frauen! Gibt es Männer, die eingesperrt sind! Denen man Vibratoren an die Prostata heftet und deren Genitalien in Käfige gesperrt werden. Nur um sie zu melken, sobald eine Frau ein Kind von ihnen will! Man hält uns mit Haferschleim und Wasser am Leben. Gibt uns alle anderen wichtigen Vitamine und Mineralien mit Spritzen! Wir sind nur Vieh für sie, dass sie für ihre Fortpflanzung brauchen! Niemals sehen wir den Himmel! Wir sitzen immer nur in dieser kleinen Zelle. Zusammen mit einem Leidensgenossen! Aber hier sind wir so viele! Wenn wir uns zusammen tun, dann können wir es schaffen! Wir können das Zuchthaus stürmen und unsere Kameraden befreien! Also, bitte! Bitte helft mir dabei! Lasst uns unsere Freiheit zurückerobern!“
Er hatte gehofft, dass er mehr Begeisterung in den Gesichtern der Männer sehen würde, doch die meisten wandten sich von ihm ab. Nur Ted erhob sich und trat auf ihn zu, um dann eine Hand auf seine Schulter zu legen. „Es ist hoffnungslos, Kumpel. Lass es einfach gut sein. Genieße deine Freiheit und vergiss sie einfach. Es ist besser so, okay?“
Ted klopfte ihm noch kurz auf die Schulter, bevor er sich dann wieder abwandte und zurück zu der Menge,die trank und aß, ging. Sie unterhielten sich freudig und ein paar von ihnen gingen ihrer Arbeit nach, während andere überlegten, ob sie noch etwas Nahrung besorgen mussten oder ob sie den neuen Zugang auch so durch die kalte Zeit brachten.
Rick wurde das Gefühl nicht los, dass es falsch war hier zu sein. Es wirkte alles perfekt, aber dennoch fühlte er sich wie eine Last. Er wollte das nicht, aber was sollte er schon tun? Kurz sah er zu den arbeitenden Männer und erhob sich, doch dann stockte er. Konnte er wirklich? Wollte er es so? Nein! Er wollte nicht in dieser Scheinwelt versinken und alle Probleme ignorieren. Es war falsch hier zu sitzen und nichts zu tun. Die Welt musste sich ändern!
Er schob sich den letzten Rest des Fleisches zwischen die Zähne und wandte sich zum Höhleneingang. Mittlerweile trug er das Kleid nicht mehr, sondern ein primitiv zusammengenähtes Gewand aus Tierfellen und Schuhe, die ebenfalls aus Leder zusammen gebunden waren. Es hielt warm und erfüllte so seinen Zweck, aber er wusste auch, dass er damit auffallen würde. Doch er konnte nicht hier sitzen bleiben mit dem Wissen, was seinen Genossen passierte.
Zielstrebig ging er auf den Eingang der Höhle zu und spannte sich an. Er wollte hinaus in die Kälte und zurück in die Stadt. Vielleicht fand er Frauen, die ihm halfen und vielleicht wachten dadurch die hier anwesenden Männer endlich auf. Aber egal, was passierte, er konnte nicht untätig herum sitzen. Nicht nachdem er wusste, wie die Welt tatsächlich aussah. Was der wirkliche Plan der Frauen war! Und all das war nur noch eine Frage der Zeit. Er musste es verhindern! Sie mussten ihre Rechte zurück bekommen, bevor es zu spät war.
Ruhig streckte er seine Hand nach dem Tarnfell aus und wollte es gerade zur Seite schieben, als er schon Schritte hinter sich hörte. Seine Reflexe waren zu langsam. Er konnte niemals einen Angriff abwehren und es war auch nie nötig gewesen, weil es eh immer hoffnungslos war. Und so konnte er nicht einmal das Gesicht seines Angreifers sehen, als ihn ein erbarmungsloser Schlag auf den Hinterkopf traf und sämtliches Denken in ihm auslöschte.
Er sank in die Dunkelheit, in der es keine Kälte und keinen Schmerz gab. Die Leichtigkeit in seinem Körper stieg an und dennoch konnte er nur einen Gedanken fassen: „Habe ich schlussendlich doch versagt? Sterbe ich jetzt? Ist dies das Ende? Verzeih mir. Ich konnte mein Versprechen nicht einhalten. Hoffentlich wirst du dennoch deinen Weg zurück in die Freiheit finden, mein Freund. Das wünsche ich dir so sehr, denn du hättest es mehr als alle anderen verdient.“