Szene 20

1756 Worte
Man hatte sie einfach in diese kleine Zelle geworfen. Sie hatte keinen Richter zu Gesicht bekommen oder einen Moment, um sich zu rechtfertigen. Auch wusste sie nicht, wie lange sie hier bleiben musste. Es waren schon Wochen vergangen. Wenn nicht sogar ein ganzer Monat. Ihre Kameradinnen waren nicht zu hören. Sie fühlte sich alleine und langsam machten sie ihre Gedanken verrückt. Hatten sie überhaupt eine Chance? War es möglich die Männer zu befreien? Sie wusste, dass sie im gleichen Gebäude, wie die Erzeuger waren. Es gab kein richtiges Gefängnis mehr, weil sich die Verbrechen angeblich so gut wie aufgelöst hatten. Doch sie wusste, dass dies eine Lüge war. Sie wusste, dass auch Frauen zu all diesen Gräueltaten fähig waren. Schließlich spürte sie es selbst in sich. Sie würde alles dafür tun, dass dieser Wahnsinn endlich ein Ende nahm. Ging es ihren Kameradinnen gut? Hoffentlich wurde keine von ihnen hingerichtet nur um ein Statement zu setzen. Das wäre so grausam, aber... vielleicht würden dann die anderen endlich die Augen aufmachen. Tia lachte auf. Diese Hinrichtungen wurden doch niemals verkündet. Die Öffentlichkeit durfte nichts davon erfahren. Nur die Angehörigen bekam es mit, wenn sie die Urne mit der Asche ausgehändigt bekamen. Was war das nur für eine kaputte Welt? Sie musste an den Flüchtling denken und alleine bei dem Gedanken, dass er gestorben war, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Schon wieder konnte sie einen Mann nicht retten. Genauso wie ihn damals. Wieso hatten sie sich nicht besser versteckt? Dann... ja, dann wäre jetzt alles viel besser. Sie wusste nicht einmal wo sie ihn hingebracht hatten oder ob er überhaupt noch lebte. Vielleicht war er ihnen ja nicht gut genug. Aber für sie... Tia sah auf ihre Hände und erinnerte sich an sein Lächeln. Sie waren doch noch so jung gewesen, als die Wächterinnen kamen und diese Familie zerrissen. Immer wieder hatten ihre Eltern ihr gesagt, wie wichtig es sei, dass der Junge bei ihnen war und niemand von ihm erfuhr. Sie hatte darüber gelächelt, aber an diesem Tag hatte sie es begriffen. An dem Tag, als sie ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte. Tränen brannten in ihren Augen, als sie an ihre Rücken dachte. Wie sie mit gefesselten Händen abgeführt wurden. Ihre Schultern stolz nach hinten durchgedrückt und ihre Häupter erhoben. In diesem Moment und in so vielen anderen wünschte sie sich, dass sie ihre Stärke in sich tragen würde. Eine Stärke, die sie niemals gänzlich in sich spürte. Ein Seufzer stahl sich über ihre Lippen und sie sank kurz nach vorne zusammen, doch im nächsten Moment hörte sie schon, wie Schritte näher kamen. Sofort richtete sie sich auf und sah trotzig zum Gitter. Sie wollte diesen Frauen nicht die Befriedigung geben, dass sie ihr mit dieser Haft wirklich Schaden zufügten. Sie sollten spüren, sehen und wissen, dass sie Tia niemals brechen würde. Solange sie denken konnte, würde sie für das Recht der Männer einstehen. Die Wächterin blieb vor dem Gitter stehen. Sie trug eine enge, schwarze Uniform und ihr Haar war unter einer roten Baskenmütze versteckt. Wie alle hier. Wollte man so verhindern, dass man erkannte, wer dort vor einem stand? Vielleicht funktionierte das bei den Männern, doch Tia erkannte, dass es die Frau war, die sie auch festgenommen hatte, wodurch sie sich instinktiv anspannte. „Frau Fuchs, sie haben ihre Strafe endlich abgesessen. Ab jetzt sind sie wieder eine freie Frau.“ Die Wächterin trat zur Seite und Tia verließ die Zelle. Sie sah sich ruhig um. Es war ein langer grauer Gang mit vereinzelten weiteren Zellen auf der einen Seite und einigen Fenstern auf der anderen. Wahrscheinlich war sie eher außen vom Gebäude. Ob die Männer wohl weiter drinnen waren? Sollte sie vielleicht? Könnte sie die Wächterin überwältigen und weiter vordringen? Wenn sie wusste, wo man die Männer gefangen hielt, dann würde das die Erfolgschance einer Befreiungsaktion drastisch erhöhen. Dieses simple Wissen wäre wirklich perfekt, doch sie würde es nicht bekommen. Denn kaum hatten sie den langen Gang verlassen, erblickte sie mehrere Wächterinnen, die in zweier Gruppen durch das Gebäude patrouillierten. Sie unterhielten sich fröhlich und Tia spürte erneut diese Abscheu in ihrem Herzen. Wie konnten sie so glücklich mit ihrem Leben sein, wenn sie sich an diesem Leid beteiligten? Sahen sie denn nicht, was für ein großes Unrecht hier geschah? Waren sie wirklich so blind? Sie wurde grob aufgefordert weiterzugehen und nur widerwillig trennte sie sich von dem Anblick des Gangs, der definitiv tiefer in das Gebäude führte. Dorthin, wo sie hinwollte und wo Männer ihre Hilfe brauchten. Vielleicht war auch er hier. Aber ihr waren jetzt die Hände gebunden, weshalb sie sich ruhig nach draußen führen ließ. Erst als sie auf der Straße stand, blieb die Wächterin zurück und schloss die Stahltür in der großen Mauer, die das Zuchthaus umrahmte. Daneben war ein Tor, das sich aber nur für Fahrzeuge öffnete. Dieses Gebäude durfte nicht existieren. Es musste niedergebrannt werden, aber dafür mussten die Menschen erst einmal bemerken, was alles schief lief. Doch das taten sie nicht. Die Frauen, die an diesem Gebäude vorbeigingen, unterhielten sich fröhlich oder hetzten vorbei. Keine sah auch nur eine Sekunde hinüber. Nicht einmal auf Tia. Wie konnten sie alle so blind sein? Sie kannte die Antwort darauf. Schließlich hatte sie schon so oft mit einer Mitläuferin diskutiert. So oft versuchte sie diese zur Vernunft zu bringen, doch sie fühlten sich alle sicher. Es gab keine Armut, keinen Hass. Jeder hatte ein schönes Leben. Keine Kriege. Keine Morde. Nur hier und da mal ein Diebstahl. Niemand musste in Angst leben. Sie waren alle frei und für diese Freiheit mussten sie nur die Männer opfern. Ein geringer Einsatz für so manchen, doch Tia wusste es besser. Sie wusste, dass es nicht die Zukunft war. Es konnte gar nicht so sein. Die Männer hatten ihre Berechtigung hier zu sein. Genauso wie die Frauen. Sie mussten nur endlich alle an einem Strang ziehen. Aber das schien unheimlich schwer zu sein. Ein Seufzer schlich über ihre Lippen, als sie sich in Bewegung setzte und ihr Telefon herausholte. Kurzerhand wählte sie die Nummer von Thundercat. Sie wollte wissen, ob auch die anderen frei gekommen waren und wie sie weiter vorgehen wollten, doch das Freizeichen war viel zu lange zu hören und gerade wollte sie auflegen, als die Anführerin endlich schwer atmend abhob: „Ja?“ „Hi, ich bin es, Herzhase. Ich bin wieder draußen.“ Sie war froh, dass es ihrer Anführerin gut ging. Scheinbar hatte sie keine Probleme bekommen. Wenigstens etwas. Schließlich war diese Demonstration Tias Idee gewesen. Eine Bescheuerte, wenn man so rückblickend auf sie sah. Aber aus Fehlern lernte man bekanntlicher Weise und Tia war nun bewusst, dass es keinen Sinn hatte gewaltlos zu kämpfen. Sie mussten diese Regierung anders zu Fall bringen. „Das ist schön. Ich hoffe, dass sie dir nichts getan haben.“ Thundercat klang hörbar erleichtert und auch Tia entspannte sich dadurch ein wenig. „Nein, alles ist gut. Wie geht es den anderen? Hast du von ihnen schon etwas gehört?“ „Nur von ein paar. Zwei oder drei sind bis jetzt noch nicht draußen. Beziehungsweise.“ Thundercat schwieg und Tia verstand. Die Warnung und die unumstößliche Aufforderung damit aufzuhören. Endlich die Füße still zu halten und das System zu akzeptieren. Aber all das war für Tia gleichzusetzen mit dem Aufgeben der Männer und das wollte sie nicht. Sie spürte immer noch das leichte Kribbeln, wenn sie an den Flüchtling dachte. Noch nie hatte sie sich in Gegenwart einer Frau so gefühlt. Auch hatte sie nicht das Bedürfnis einer Frau auf diese Art und Weise nahe zu kommen. Kastrierte Männer sind sehr selten und tauchen auch meistens in der Masse der Frauen unter, sodass sie noch nie jemanden begegnet war, dem sie so nah sein wollte, wie diesem Flüchtling. „Was wollen wir jetzt tun?“ Tia versuchte ruhig zu bleiben und nicht zu stark an die Ermordung ihrer Kameradinnen zu denken. Sie alle kannten das Risiko und waren dennoch der Rebellion beigetreten, um mit Herzblut und absoluter Entschlossenheit für die Sache einzustehen. Auch machte sie sich keine Sorgen, dass jemand die Anführerin oder ihr Versteck verraten hatte. Sie waren alle loyal und niemand würde reden. Jede von ihnen würde lieber sterben, als ihre Kameradinnen zu verraten. Ja, da war sich Tia mehr als sicher. „Geh erst einmal nach Hause, ruh dich aus und iss etwas Vernünftiges. Die Tage werde ich mich bei euch melden und wir treffen uns, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Demonstration war ein leichter Rückschlag, aber wir werden deswegen nicht aufgeben. Also, halt dich bereit und ruh dich bis dahin aus. Ich bin stolz auf dich.“ Mit diesen Worten legte Thundercat auf und Tia hielt noch eine Weile das Telefon ans Ohr, um den letzten Satz auf sich wirken zu lassen. Thundercat war stolz auf sie. Stolz, obwohl sie doch einen Fehler begangen hatte. Das war nicht möglich. Aber sollte sie jetzt wirklich nach Hause gehen und einfach die Füße hochlegen? Das war doch ein Witz! Alles in ihr schrie danach, dass sie weitermachte. Sie konnte jetzt nicht ausruhen oder sich gar das dumme Geschwätz ihrer Mitbewohnerin anhören. Das war lächerlich! Sie umklammerte ihr Handy stärker, doch dann ließ ihre Kraft nach. Kurz wurde ihr sogar leicht schwindelig und sie sah ein, dass Thundercat vielleicht nicht ganz Unrecht hatte. Der Fraß in diesem Gefängnis war wirklich nicht gerade gesundheitsfördernd. Auch sehnte sie sich nach einem heißen Bad. Fast sofort schämte sie sich für diesen Gedanken. Wie konnte sie ihr Leben genießen, wenn die Männer litten? Aber was sollte sie tun? Alleine erreichte sie gar nichts. Hoffentlich verziehen sie ihr diesen kleinen Denkfehler. Sie seufzte und ging dann in Richtung Zuhause. Ja, ein wenig Ruhe war gar nicht schlecht. Ihre Glieder fühlten sich eh steif an und alles in ihr schrie nach einem vernünftigen Bett. Aber auch wenn es dort schrecklich war. Sie würde solange für ihre Taten hinter Gitter gehen, wie es nötig war, um die Männer zurück in die Freiheit zu führen. Schließlich waren sie doch alle Menschen, oder nicht? Und Menschen sollten gemeinsam in Freiheit und Eintracht leben. Das konnte doch nicht so unmöglich sein. Nein, daran wollte Tia nicht einmal im Traum denken. Dieses Utopia war für alle möglich und dafür würde sie bis zu ihrem letzten Atemzug kämpfen. So wie es ihr ihre Eltern beigebracht hatten. Sie würde dieses Erbe fortführen. Entweder bis die Männer frei waren oder sie ihr Leben ließ. Das waren die einzigen beiden Möglichkeiten für sie. Es gab nur diese. Keine anderen. Zumindest nicht für sie...
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