Szene 29

1389 Worte
Es dauerte keine drei Tage, da waren an jeder Hauswand Plakate zu sehen, die Bilder zeigten, auf denen Frauen von Männern misshandelt wurden oder in denen gepriesen wurde, dass Männer nur für den Nachwuchs gebraucht wurden, aber ansonsten für nichts gut waren. Außer eine wandelnde Gefahr zu sein. Alle Männer gehörten weggesperrt. Jedes vierte Plakat war ein Aufruf für Spenden, dass die Eizellenverschmelzung endlich praktikabel wurde und man die Männer gänzlich vernichten konnte. Denn sie würden sonst nur ein unnötiges Risiko sein und die Welt war doch definitiv besser dran ohne sie. Tia wollte zuerst der Straße fern bleiben, doch Thundercat hatte sie zu einem Treffen gebeten und so stand sie nun in der gut besuchten Fußgängerzonen. Frauen liefen an ihr vorbei. Unterhielten sich. Genossen ihr Leben. Lachten und blieben nur ab und an stehen, um die Plakate zu begutachten. Es hätten ihre dort sein müssen. Ihre Botschaft hätte von den Wänden in die Menge schreien sollen. Aber nun waren sie nur noch zu zweit. Die anderen wurden festgenommen. Fast jede Frau, die bei den Plakaten geholfen hatte, saß erneut hinter Gittern. Der Gedanke ließ Schuldgefühle im Herzen von Tia erwachen, doch sie schluckte diese herunter und lächelte sogar leicht, als sie Thundercat durch die Menge schreiten sah. Jetzt, wo sie sein Geheimnis kannte, wirkte er anders auf sie. Bevor er das gesagt hatte, hätte sie ihre Hand ins Feuer gehalten, dass er eine Frau war, aber jetzt erkannte sie die feinen Unterschiede, die er nun einmal nicht verbergen konnte. Wie der leicht andere Gang oder gar seine Körperhaltung. Es waren nur minimale Fehler, doch wenn man wusste, dass man darauf achten musste, dann waren sie da. Sonst schien er sich perfekt zu tarnen. „Hallo.“ Er wirkte kühl, aber lächelte dann kurz und sie erwiderte kurz seine Begrüßung, bevor sie sich fast synchron zu den Plakaten umdrehten. „Warst du schon ein wenig hier unterwegs?“ Tia schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, ich wollte hier auf dich warten und die Plakate, die ich hier sehe, reichen mir vollkommen.“ Jeder angezogene, freie Mann wirkte auf den Plakaten bedrohlich und gefährlich. Er hielt meistens eine Waffe in der Hand mit der er eine Frau verletzte. Seine Miene war niemals freundlich, sondern immer voller Aggressivität und Gefahr. Würde Tia keine anderen Erinnerung an das andere Geschlecht haben, dann würde sie jetzt auch vor den Männern Angst bekommen. Und auch die Plakate auf denen die Männer nackt, demütigt kniend hinter Gitter saßen, nahmen ihr nicht das beklemmende Gefühl, dass von ihnen eine unbeschreibliche Bedrohung ausging. Wie musste es dann auf die anderen wirken? Bestimmt ließen sie sich von ihrer Angst treiben, anstatt nachzudenken und vielleicht endlich einmal die Wahrheit zu sehen. „Die haben überall Stände, an denen sie Frauen ansprechen und sie aufklären, wie gefährlich Männer doch seien und ihnen erklären, wie wichtig es sei, dass man endlich zwei Eizellen miteinander verschmelzen kann, damit man dieses gefährliche Geschlecht endlich ausmerzen kann.“ Thundercats Stimme triefte nur so vor Verachtung und Hass. Auch sein Blick, der sonst immer sehr warmherzig wirkte, war kühl und verschlossen. Tia glaubte sogar ein leises Zähneknirschen zu hören. Sie konnte seine Anspannung durchaus verstehen, aber was sollten sie tun? Sobald sie auch nur daran dachten diesen dagegen zu reden, würden sie doch sofort zu ihren Kameradinnen in den Knast wandern und ob das wirklich so sinnvoll wäre. Daran zweifelte Tia in diesem Moment direkt. „Hast du es dir angehört?“ Sie sah ihn ruhig an und unterdrückte den Impuls nach seinen geballten Fäusten zu greifen. Irgendwie spürte sie zwar, dass sie ihm näher sein wollte, aber ihr war es auch bewusst, dass dies nur so war, weil er ein Mann war. Sie sehnte sich nach dieser Nähe, seit er ihr weggenommen wurde. Aber es war falsch und half keinem von ihnen. „Ja, ich wurde angesprochen und dachte mir, dass es nicht schaden kann. Ein wenig Wissen was der Feind so vorhat und es gefiel mir wirklich nicht. Sie sind nicht mehr so weit weg zwei Eizellen miteinander zu verschmelzen und daraus ein fähiges Leben zu ziehen. Wir haben nicht mehr so viel Zeit, wie wir gerne hätten.“ Thundercats Anspannung war mittlerweile fast greifbar und Tia konnte nicht leugnen, dass er sogar leicht bedrohlich wirkte. „Was sollen wir jetzt tun?“ Tias Stimme war leise und sie sah sich kurz um. Wenn es die Falschen hörten, dann würden sie ebenfalls Probleme bekommen. „Und meinst du nicht, dass unsere Flyer die ein oder andere zum Nachdenken angeregt hat? Vielleicht gibt es sogar Frauen, die nun die Diskussion mit der Regierung suchen.“ „Ja und nein. Es gibt durchaus Frauen, die darüber nachdenken, ob es richtig ist, was hier geschieht, aber sie wissen auch, dass jede Gegenbewegung strafbar ist und als Verrat gesehen wird. Die Meisten werden die Füße still halten, aber wer weiß. Vielleicht bekommen wir demnächst Zuwachs. Aktuell können wir eh nichts tun und müssen warten bis der Großteil unserer Gruppe wieder auf freien Fuß ist. Bis dahin solltest du die freie Zeit einfach genießen und dich ein wenig auf dein Leben konzentrieren. Sobald ich Nachricht von der Freilassung der anderen erfahre, werde ich es dir sagen und ein Treffen starten. Also, Herzhase, pass auf ich auf.“ Zum Abschied drückte er ihre Schulter und als sie dann nur nickte, ging er auch schon wieder. Tia konnte ihm nur hinterher sehen. Das enge Kleid und die leichte Übergangsjacke schien alles perfekt zu betonen. Es wirkte, als würde darunter ein wunderschöner Frauenkörper stecken. Aber Tia wusste es besser. Sie war wohl eine der wenigsten, die dieses Wissen besaß und kurz überlegte sie sich, wie sein Leben wohl war. Ein Seufzer stahl sich über ihre Lippen und sie sah sich um. Diese Plakate konnte man kaum ignorieren so riesig waren sie und Tia wurde das Gefühl nicht los, als würde man sie damit erdrücken. Es war lächerlich. Das wusste sie, aber es war dennoch da. Eiskalt schlich es sich in ihr Herz und ließ es langsam gefrieren. Solange ging diese Grausamkeit schon und das Getuschel um sie herum hieß nichts Gutes. „Wie kann man sich nur für diese Monster einsetzen?“ „Hattest du auch so einen komischen Zettel im Briefkasten?“ „Mir doch egal, was mit ihnen geschieht. Sterben sollen sie alle. Sie wollen doch eh nur über uns herrschen und uns erniedrigen.“ „Eigentlich haben sie es doch nicht anders verdient.“ „So haben sie doch wenigstens noch einen Nutzen und hey, sorgen müssen sie sich doch auch um nichts.“ „Warum sollten wir sie befreien? Uns geht es doch so ganz gut.“ „Also, mir fehlen sie nicht.“ „Mir auch nicht.“ Tia wollte nicht mehr weiter zuhören. Das konnte doch nicht deren Ernst sein? Hat die Regierung sie wirklich schon wieder auf ihre Seite gezogen? Woher kam dieser Irrsinn? Es war lächerlich! So unsagbar lächerlich! Bemerkten sie denn nicht, wie sie dadurch dabei waren allesamt unterzugehen!? Tia hätte am Liebsten geschrien, doch sie blieb stumm und unterdrückte auch den Impuls einen der Stände zu überfallen und ihnen mal die Wahrheit zu sagen. Thundercat hatte Recht. Alleine war sie nur eine Verrückte. Sie mussten auf ihre Kameradinnen warten und dann konnten sie sich überlegen, wie es weiterging. Es musste doch möglich sein. Irgendeinen Weg musste es doch geben, dass dieser Wahnsinn endlich aufhörte, oder etwa nicht? War das ihre Zukunft? Ohne Männer? Nur noch Frauen? Konnte das wirklich gut gehen? Tia zweifelte daran, denn sie war sich mehr als sicher, dass dieses Loch, das sie in ihrem Inneren spürte, viele Frauen in sich trugen. Aber da sie keinem Mann begegnet waren, begriffen sie auch nicht, woher es kam. Sie begriffen nicht, was es hieß sich wirklich zu verlieben und zwar, weil man diesen einen Menschen bei sich haben wollte und nicht, weil man einfach nicht mehr alleine sein wollte. Tia kannte dieses Gefühl und auch wenn es am Anfang wunderschön war, so zerfraß es sie nun innerlich. Aber trotzdem wollte sie diese Erfahrung nie wieder missen wollen. Würde man sie noch einmal wählen lassen, sie würde sich immer wieder für dieses kurze Glück entscheiden. Denn in dieser Zeit hatte sie das Gefühl endlich richtig zu leben. So wie sie es sich wünschte und bedingungslos glücklich zu sein. So unendlich glücklich...
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