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Blaise
Als sie auf die Berge zuflogen, betrachtete Blaise die dichte Regenwand. Das war mit Abstand der stärkste Regen der letzten zwei Jahre, und er ergoss sich jetzt großflächig über das Land von Koldun, versorgte die trockene Erde unter ihm mit Leben. Dank Gala schien die Dürre endlich vorbei zu sein.
Gala saß ruhig an ihn geschmiegt da. Ihr schlanker Körper zitterte, und er wusste, dass sie gerade erneut das Grauen der Schlacht erlebte. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich heran, um sie zu beruhigen, so gut er konnte.
»Gala«, sagte er ruhig, »das ist nicht deine Schuld.«
Sie nickte, aber ihr Gesichtsausdruck war immer noch düster. Er wusste, dass sie es rational verstand. Aber Logik und Rationalität hatten nichts mit den Gefühlen zu tun, die sie gerade empfand. Trotz ihrer unglaublichen Fähigkeiten war seine Kreation genauso verletzlich wie ein Mensch, was die Verarbeitung eines Traumas betraf.
Auf der anderen Seite der vergrößerten Chaise schliefen Esther und Maya eng aneinandergedrängt, völlig erschöpft von den aufreibenden Geschehnissen. Sie waren von einem Kreis aus Löwen umgeben, die sich erstaunlich gut benahmen und selbst auf das gegenseitige Anbrüllen verzichteten. Blaise wusste nicht, welchen exakten Einfluss Gala auf diese Tiere hatte, aber allein ihre Gegenwart schien sie zu beruhigen und in einen unnatürlich friedlichen Zustand zu versetzen.
Nachdem sie einige Stunden lang geflogen waren, begann der Regen nachzulassen, und Blaise konnte sehen, wie die Spitzen der Berge majestätisch in der Ferne aufstiegen. Auch Galas Stimmung schien sich ein wenig zu heben. Sie schaute sich jetzt die Landschaft an, die sich unter ihnen befand, und er konnte sehen, dass ein Teil ihrer Lebensfreude langsam zurückkehrte.
»Das sind die westlichen Wälder«, erklärte er ihr, als sie gerade die grüne Masse unter ihnen betrachtete. »Die Bäume hier wachsen so dicht, dass man den Boden nicht mehr sehen kann. Sie sagen, dass in ihnen immer dunkle Nacht herrscht, auch wenn es gerade mitten am Tag ist.«
Sie blickte ihn an. »Wirklich? Bist du jemals in ihnen gewesen?«
»Nein.« Blaise schüttelte den Kopf. »Kaum jemand hat sie betreten. Einige wenige waren in den Ausläufern der Wälder, aber niemand hat sich jemals weiter hineingewagt und ist auch wieder herausgekommen.«
Ihre blauen Augen weiteten sich. »Warum? Was befindet sich darin?«
Blaise lächelte über die Faszination auf ihrem Gesicht. »Die Bauern haben ihre Legenden und ihren Aberglauben. Doch niemand weiß es wirklich. Die Pferde weigern sich, in diese Wälder zu gehen – sie riechen etwas Gefährliches, denke ich.«
»Oh? Was könnte das denn sein?«
»Na ja, die örtlichen Bauern sprechen von übernatürlichen Kreaturen …«
»Übernatürliche Kreaturen?«
Blaise grinste. »Ja. Aber natürlich ist das nur ein Aberglaube. Es ist wahrscheinlicher, dass die Pferde auf eine konkretere Gefahr reagieren. Einige Zauberer vermuten, dass es in diesen Wäldern giftige Pflanzen und Insekten geben könnte. Vielleicht auch einige wilde Tiere.«
»Ich denke, das ergäbe mehr Sinn«, erwiderte Gala langsam. »Ist das der Grund dafür, weshalb so wenige Menschen in die Berge gehen? Weil es so schwierig ist, diesen Wald zu durchqueren?«
»Ja, genau. Es hat mich mehr als überrascht, zu hören, dass es überhaupt jemandem gelungen ist, dorthin zu gelangen. Es gibt nicht nur die Wälder und Sümpfe in diesen Ausläufern Kolduns, sondern auch Stürme, die manchmal über die Berge hinwegfegen und das Fortkommen in diesem Gebiet sehr gefährlich gestalten. Mit der fliegenden Chaise ist das jetzt natürlich viel einfacher.« Blaise runzelte die Stirn, während er über das Ganze nachdachte. »Eigentlich überrascht es mich, dass dieses Gebiet in den letzten Jahren nicht intensiver erforscht worden ist.«
Diese Berge, die ihr Land umgaben, waren lange Zeit als ein Segen und gleichzeitig als ein Fluch angesehen worden. Sie beschützten das Innenland Kolduns vor den heftigen Ozeanstürmen, aber sie verhinderten gleichzeitig, dass irgendjemand die andere Seite ihrer hohen, unbezwingbaren Gipfel erkundete. Blaise hatte sich immer vorgestellt, es müsse dort draußen, auf der anderen Seite des Ozeans, andere Länder geben, aber niemand hatte das jemals beweisen können.
Gala nickte abwesend, während ihre Augen an den fernen Bergspitzen hingen. »Wann, denkst du, werden wir dort sein?«, fragte sie. »Ich möchte mir gerne die Gipfel aus der Nähe ansehen – sie sind so wunderschön.« Ihr sichtbar angespannter Körper strafte ihre Worte Lügen, und Blaise verstand, dass ihre natürliche Neugier nicht der einzige Grund für ihren Wunsch war, zu den Bergen zu gelangen. Sie brauchte einen neuen Anfang, einen Ort, der sich weit weg von den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Tages befand.
»Ich werde einen Zauber schreiben, der uns schneller dorthin bringt«, erwiderte er und griff nach seinem Beutel. Er hatte immer noch ein paar fertige Zauberkarten von seinen Bemühungen, zu Gala zu gelangen, und er brauchte nicht lange dafür, einen Zauberspruch zu finden, der ihre Reisezeit durch einige Teleportationssprünge verkürzen würde.
Er nahm seinen Deutungsstein heraus und steckte die erste Karte hinein. Nur einen Augenblick später befanden sie sich schon einige Kilometer näher an den Bergen.
»Ich mag es, wenn du zauberst«, bemerkte Gala und schaute ihn an. »Es ist so präzise, so kontrolliert.«
Blaise lächelte sie an. »Du wirst es genauso machen, wenn du erst einmal Übung darin hast.«
Sie schluckte, und ihr Blick wandte sich wieder den Bergen zu. »Ich weiß nicht, ob das stimmt. Meine Magie ist zu unvorhersehbar. Ich verletze Menschen mit ihr. Ich habe diese ganzen Männer getötet …«
»Nein«, widersprach ihr Blaise. »Du hast dich verteidigt. Sie waren Soldaten der Zauberwache und nicht irgendwelche unschuldigen Bürger. Sie würden nicht einen Augenblick lang zögern, dich und jeden anderen zu töten, der sich ihnen in den Weg stellt. Hast du eine Ahnung, wie viele Bauernaufstände sie zerschlagen haben? Wie viele Leben sie ausgelöscht haben? Diese Männer leben und sterben mit dem Schwert. Es wurde Zeit, endlich einmal auf einen würdigen Gegner zu stoßen.« Blaise konnte einfach kein Mitgefühl für die Soldaten empfinden, die versucht hatten, Gala umzubringen. Jedes Mal, wenn er daran dachte, sah er rot. Er wollte jeden in Stücke reißen, der versuchte, ihr wehzutun, und dieser Drang war so gewaltig, dass es ihm Angst machte.
Er zog sie näher an sich heran und streichelte ihr Haar, um seinem Bedürfnis nach körperlicher Nähe nachzugeben. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und schlang ihre Arme um seine Taille. Blaise verstand, dass sie diese Nähe genauso brauchte wie er … dass sie sich durch seine Berührung genauso geborgen fühlte wie er.
Er ließ seinen Arm um sie geschlungen, während er fortfuhr, die Karten in den Stein zu laden. Als er alle Teleportationssprünge aufgebraucht hatte, waren sie nur noch wenige Kilometer von den gewaltigen Gipfeln der Berge entfernt.