Kapitel 4

2276 Worte
4 CHLOE Als Nikolai zurückkommt, ist mein Magen wie verknotet, und der Toast, den ich gegessen habe, liegt wie ein Stein darin. Ich weiß, dass Konstantin sein älterer Bruder ist, das technische Genie der Familie, und ich vermute stark, dass das Etwas, das sein Team gefunden hat, sich auf meine Situation bezieht. Jetzt, wo ich die Chance hatte, darüber nachzudenken, ist Konstantin wahrscheinlich der Grund, warum Nikolai von Anfang an all diese Dinge über mich wusste – wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich während meines Monats auf der Flucht nichts auf meinen höchst privaten sozialen Medien gepostet hatte. Durch ihn bekam Nikolai auch Zugang zu den Polizeiakten und entdeckte, dass sie verändert wurden, um den Mord an meiner Mutter noch mehr wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Konstantin und sein Team müssen die Ressourcen sein, die Nikolai während der Autofahrt hierher erwähnte, der Vorteil, den er gegenüber Bransford hat. Auf jeden Fall ist Nikolais Gesicht grimmig, als er auf der Kante meines Bettes Platz nimmt und meine linke Hand fest umfasst. Seine Berührung wärmt mich und ruft gleichzeitig eine Gänsehaut hervor. »Chloe, zajchik …« Sein Ton ist besorgniserregend sanft. »Es gibt etwas, was du wissen solltest.« Mein Herz, das bereits in meiner Brust rast, macht einen Rückwärtssalto. Sein Blick ist nicht mehr der eines Fremden, stattdessen liegt Mitleid in seinen goldenen Tigeraugen. Was auch immer er sagen wird, ist schrecklich, das kann ich sehen. »Wie viel weißt du über die Umstände deiner Empfängnis?«, fragt er mit derselben sanften Stimme. »Hat deine Mutter jemals darüber gesprochen?« Es ist, als würde ein eisiger Wind durch mein Inneres fegen und jede Zelle auf dem Weg dorthin einfrieren. »Meine Empfängnis?« Meine Stimme klingt, als käme sie aus einem anderen Teil des Raumes, von einer anderen Person. Er kann nicht meinen, was ich denke, was er sagt. Auf keinen Fall ist Bransford … »Vor vierundzwanzig Jahren lebte deine Mutter in Kalifornien«, sagt Nikolai leise. »In San Diego.« Ich nicke automatisch. So viel hatte mir meine Mutter erzählt. Sie hat überall in Südkalifornien gelebt, um genau zu sein. Nachdem das Missionarsehepaar, das sie aus Kambodscha adoptiert hatte, bei einem Autounfall ums Leben kam, wanderte sie von einer Pflegefamilie zur nächsten, bis sie sich mit siebzehn Jahren emanzipierte – im selben Jahr, in dem sie mich zur Welt brachte. »Sie war nicht die Einzige, die zu der Zeit in San Diego lebte«, fährt Nikolai fort. »Das tat auch ein gewisser brillanter junger Politiker, bei dessen lokalem Wahlkampf sie sich freiwillig meldete, um zusätzliche Punkte für amerikanische Geschichte zu bekommen.« Der eisige Wind in mir verwandelt sich in einen Wintersturm. »Bransford.« Meine Stimme ist kaum ein Flüstern, aber Nikolai hört sie und nickt, drückt sanft meine Hand. »Genau der.« Ich starre ihn an und koche gleichzeitig mit Emotionen und Taubheit über. »Was willst du damit sagen?« »Deine Mutter hat versucht, Selbstmord zu begehen, als sie sechzehn war. Hast du davon gewusst?« Mein Kopf nickt wie von selbst. Als ich ein Kind war, hatte Mom immer Armbänder und Armreifen um ihre Handgelenke getragen, auch zu Hause, sogar beim Kochen und Putzen und Baden von mir. Erst als ich fast zehn Jahre alt war, kam ich zu ihr, um mich umzuziehen, und entdeckte die schwachen weißen Linien an ihren Handgelenken. Sie setzte sich zu mir und erklärte mir, dass sie als Teenager eine schwierige Zeit durchgemacht hatte, die darin gipfelte, dass sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. »Sie sagte, es sei ein Fehler gewesen.« Mein Hals ist so eng, dass jedes Wort auf dem Weg nach draußen an ihm kratzt. »Sie sagte mir, sie sei froh, dass sie versagt hatte, denn kurz darauf erfuhr sie, dass sie schwanger war. Mit mir.« Seine Augen werden undurchsichtig. »Ich verstehe.« Er versteht? Was? Plötzlich wütend, reiße ich meine Hand aus seinem Griff, setze mich ganz auf und ignoriere die begleitende Welle von Schwindel und Schmerz. »Was genau willst du mir damit sagen? Was hat ihr Selbstmordversuch mit Bransford zu tun? Hat er auch damals versucht, sie zu töten? Ist das seine verdammte Masche?« »Nein, zajchik.« Nikolais Blick füllt sich wieder mit diesem beunruhigenden Mitleid. »Ich fürchte, dieser Versuch war nicht inszeniert. Aber es gibt Grund zu der Annahme, dass Bransford dafür verantwortlich war. Laut den Krankenhausunterlagen, die das Team meines Bruders ausgegraben hat, war deine Mutter in diesem Jahr zweimal in der Notaufnahme: einmal wegen des Selbstmordversuchs, und zwei Monate zuvor als Opfer einer Vergewaltigung.« Ein Vergewaltigungsopfer? Ich starre ihn an, und schwarze Flecken sprenkeln die Ränder meines Blickfeldes. »Willst du damit sagen, dass Bransford sie vergewaltigt hat?« »Sie hat nie Anzeige erstattet oder ihren Angreifer benannt, also können wir es nicht mit Sicherheit wissen, aber ihr erster Besuch in der Notaufnahme fiel mit dem letzten Tag ihrer Freiwilligenarbeit beim Wahlkampf zusammen. Sie ging danach nie wieder zurück – und neun Monate später, fast auf den Tag genau, brachte sie ein kleines Mädchen zur Welt. Dich.« Die schwarzen Punkte vervielfachen sich und nehmen immer mehr Platz ein. »Nein. Nein, das ist nicht … Nein.« Ich schwanke, als der Raum in meiner Sicht verschwimmt. Nikolais starke Arme liegen bereits um mich. »Hier, lehn dich zurück.« Ich werde zurück auf den Kissenberg gedrückt. »Nimm ein paar tiefe Atemzüge.« Seine warme Handfläche streicht mein Haar von meiner klammen Stirn. »Genau, genau so«, murmelt er, während ich versuche zu gehorchen und flach in meine unnatürlich steifen Lungen atme. »Es ist okay, zajchik. Einfach atmen …« Das Schwindelgefühl lässt langsam, aber sicher nach, und als Nikolai sich zurückzieht, funktioniert mein Gehirn wieder – und ich beginne zu verarbeiten, was er mir gesagt hat. Mom war vergewaltigt worden. Neun Monate später wurde ich geboren. Ich möchte kotzen. Ich möchte meine Haut blankschrubben und meine DNA in Desinfektionsmittel kochen. »Sie hat nie …« Meine Stimme stockt. »Sie hat nie über meinen Vater gesprochen. Nicht ein einziges Mal. Und ich habe gefragt, immer wieder.« Nikolai nickt und beobachtet mich mit dem gleichen beunruhigenden, mitfühlenden Blick. Die Worte kommen immer wieder aus meinem Mund, wie Wasser, das aus einem defekten Rohr austritt. »Sie erzählte mir, dass es eine schwierige Zeit in ihrem Leben war. Sie hat die Highschool abgebrochen. Sie bekam einen Job als Kellnerin und beantragte die rechtliche Volljährigkeit, wegen der Schwangerschaft und so.« Er nickt wieder und lässt mich das selbst zusammenpuzzeln – und das tue ich. Denn zum ersten Mal ergibt so vieles mit meiner Mutter Sinn. Es war mir immer ein Rätsel, wie sie schwanger werden konnte, denn soweit ich wusste, war sie das genaue Gegenteil eines wilden Teenagers. Obwohl Mom selten über sich selbst sprach, hatte ich genug erfahren, um zu wissen, dass sie eine Einser-Schülerin war, bevor sie die Schule abbrach, zu ruhig und introvertiert, um auf Partys zu gehen und mit Jungs zu flirten. Sie hatte auch kein Interesse daran gezeigt, sich als Erwachsene zu verabreden. Sie hatte nie einen einzigen Freund mit nach Hause gebracht, hat mich nie mit einem Babysitter allein gelassen, um auszugehen und Spaß zu haben. Als Kind dachte ich, dass das normal sei, aber als ich älter wurde, wurde mir klar, wie seltsam es für eine hübsche junge Frau war, so zurückgezogen zu leben. Es war, als hätte sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt … oder sich nie von dem Trauma der Vergewaltigung erholt. »Denkst du …« Ich schlucke die saure Galle in meiner Kehle herunter. »Meinst du, er wusste es? Dass sie schwanger war? Dass es mich gab?« Ich dachte immer, mein Vater hätte sich einfach aus der Verantwortung gestohlen, obwohl Mom das nie direkt gesagt, sondern nur angedeutet hatte. Ich dachte mir, dass er selbst ein Teenager war, jemand, der einfach noch nicht bereit war, Vater zu sein. Aber das – das ändert alles. Mom hat ihm vielleicht nicht einmal von meiner Existenz erzählt. Warum sollte sie das tun, wenn er sie vergewaltigt hat? Nur … er muss es jetzt wissen. Weil er sie getötet und versucht hat, dasselbe mit mir zu machen. Oh Gott. Ich kann einen Schwall von Erbrochenem kaum zurückhalten. Mein biologischer Vater ist nicht nur ein Vergewaltiger – er ist auch ein Mörder. Nikolai nimmt wieder meine Hand in seine, seine Berührung ist schockierend warm auf meiner eisigen Haut. »Ich denke, er musste es wissen«, sagt er und gibt meine Gedanken wieder. »Vielleicht nicht von Anfang an, aber später ganz sicher.« »Weil er versucht hat, uns zu töten.« »Ja – und wegen des Stipendiums, das du bekommen hast.« Ich blinzele und begreife zunächst nicht. Dann dringen seine Worte durch. »Du meinst … er hat für mein College bezahlt?« »Konstantin spürt die genaue Quelle dieser Gelder auf, aber ich bin mir fast sicher, was er aufdecken wird.« Nikolais Blick ist düster auf mein Gesicht gerichtet. »Es war ein privates Stipendium, zajchik, das nur für einen Empfänger bestimmt war: dich. Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, dass deine Freundin sich dafür beworben hat und die Stelle nicht bekommen hat, obwohl sie sogar qualifizierter war als du? Das liegt daran, dass es nie für sie bestimmt war. Das Geld war die ganze Zeit für dich.« Scheiße. Er hat recht. Meine Freundin Tanisha war die Abschiedsrednerin unserer Klasse mit perfekten Bewerbungstestergebnissen, aber sie bekam nicht das Vollstipendium für Middlebury – ich schon. Ich habe sogar Nikolai erzählt, wie seltsam das war. Aber … »Ich verstehe das nicht. Warum sollte er das tun? Warum sollte er für meine Ausbildung bezahlen, wenn er mich und meine Mutter hasst? Wenn er … geplant hat, uns zu töten?« Ich kann die letzten Worte kaum aussprechen. Nikolai drückt meine Hand. »Ich weiß es nicht genau, aber ich habe eine Theorie. Ich glaube, deine Mutter hat ihn irgendwann kontaktiert und ihm von dir erzählt. Und ich glaube, sie hat ihn bedroht. Es war wahrscheinlich etwas in der Art von ›wenn du nicht das Geld für die Ausbildung unserer Tochter zur Verfügung stellst, werde ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen‹.« »Du denkst, sie hat ihn erpresst?« Auf Nikolais Nicken hin sinke ich tiefer in die Kissen und schüttele den Kopf. »Nein. Nein, du liegst falsch. Mom hätte das nicht getan. Sie ist nicht – sie war keine …« Zu meiner Schande füllen sich meine Augen mit Tränen, und meine Kehle schnürt sich zu, als mich eine Welle erdrückender Trauer unvorbereitet erwischt. »Kriminelle? Erpresserin?« Nikolais tiefe Stimme ist sanft, während sein Daumen meine Handfläche in beruhigenden Kreisen massiert. Taktvoll wartet er, bis ich mich unter Kontrolle habe, dann sagt er leise: »Du darfst nicht vergessen, zajchik, sie war vor allem eine Mutter. Eine alleinerziehende Mutter, die als Kellnerin arbeitete und deren Verdienst nicht einmal einen Bruchteil der exorbitanten Kosten einer College-Ausbildung in diesem Land hätte decken können. Was hättest du getan, um die Zukunft deines Kindes zu sichern?« Ich hätte alles getan, was getan werden müsste – und höchstwahrscheinlich hat Mom das auch. »Wenn das wahr ist, warum hat er dann gewartet?«, frage ich verzweifelt. Ein kindlicher Teil von mir hofft immer noch, dass das alles ein riesiges Missverständnis ist, dass mein biologischer Vater kein Monster ist. »Warum zahlte er für alle vier Jahre meiner Ausbildung und versuchte dann, uns zu töten? Wenn er das Geld schon ausgegeben hatte …« »Es ging nicht um das Geld. Er ist reich genug, um für zehn uneheliche Töchter zu bezahlen.« Nikolais Ton wird härter. »Es geht um seine Karriere. Seine Präsidentschaftskandidatur.« Natürlich. Während einige Politiker von Skandalen profitieren, ist Bransford eine amerikanische Ikone der Mittelklasse, mit einem blitzsauberen Ruf, der einen solchen Schlag nicht überleben würde. Trotzdem, wenn das alles stimmt, gibt es etwas, was nicht vollständig Sinn ergibt. Ich kann verstehen, dass Mom eine Bedrohung für ihn war, da sie jederzeit mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit hätte gehen können. Aber warum will er mich töten? Wie niederträchtig muss man sein, um Attentäter auf sein eigenes Kind anzusetzen? Vor allem, wenn es nichts über dich weiß? Aber dann verstehe ich es plötzlich. »Ich bin der wandelnde Beweis für sein Verbrechen, nicht wahr?«, sage ich und blicke Nikolai an. »Ein einziger DNA-Test, und er ist weg vom Fenster. Selbst wenn er versucht, zu behaupten, dass es einvernehmlich war, war Mom zum Zeitpunkt meiner Empfängnis noch minderjährig. Sechzehn Jahre alt im Gegensatz zu seinen über dreißig.« Nikolai nickt. »Zumindest ist er der Vergewaltigung schuldig. Es ist der seltene Fall, dass nicht sein Wort gegen ihres steht. Egal wie er versucht, es zu drehen, was er getan hat, es ist ein Vergehen.« »Und er weiß wahrscheinlich nicht, dass Mom mir nie von ihm erzählt hat. In seinem Kopf könnte ich jeden Moment auftauchen und ihn öffentlich als meinen Vater bezichtigen.« »Ich fürchte ja, zajchik.« Er legt den Kopf schief und mustert mich aufmerksam. »Geht es dir gut?« Ich nicke automatisch, dann schüttele ich den Kopf. »Nein. Nein, es geht mir nicht gut. Ich brauche eine Minute.« Oder zehntausend Minuten. Oder den Rest meines Lebens. Mein biologischer Vater ist ein Vergewaltiger und ein Mörder, der mich umbringen will. Ich weiß nicht, wie ich das überhaupt verarbeiten soll. Mit verständnisvollem Blick drückt Nikolai wieder meine Hand, dann legt er seine Handfläche über meinen Kiefer und beugt sich vor, um mit seinem Daumen über meine Wange zu streichen. »Ich werde dich ausruhen lassen, zajchik«, murmelt er, und sein Atem dringt warm und leicht süß an meine Lippen. »Wir reden weiter, wenn es dir besser geht.« Er überbrückt den kleinen Abstand zwischen uns und küsst mich. Seine Lippen sind sanft auf meinen, zärtlich, doch ich kann den hungrigen Besitzanspruch unter der Zurückhaltung spüren. Sie erschreckt mich fast so sehr wie die instinktive Reaktion meines Körpers. Ich kann Bransford mit seiner Hilfe entkommen, aber ich werde ihm nicht entkommen können. Dem Teufel kann man nicht entkommen.
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