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CHLOE
Mein Herz schlägt ungleichmäßig, während ich dabei zusehe, wie sich die Tür hinter Nikolais großer, breitschultriger Gestalt schließt. Meine Stirn kribbelt immer noch an der Stelle, wo seine Lippen meine Haut berührt haben, auch wenn sich in meinem Kopf die rauen, qualvollen Schreie des Mannes abspielen, den er gefoltert hat.
Wie kann ein rücksichtsloser Killer so fürsorglich und zärtlich sein?
Ist irgendetwas davon echt – oder ist es nur eine Maske, die er trägt, um den Psychopathen in seinem Inneren zu verstecken?
Ich bin eigentlich nicht hungrig – mir ist etwas schlecht von der Narkose –, aber ich brauche ein paar Minuten für mich. Alles passierte so schnell, dass ich keine Chance hatte, meine Fragen zu formulieren, geschweige denn, zu versuchen, irgendwelche Antworten zu finden. In einem Moment spreizte einer der Mörder meiner Mutter voller Lust in seinen gefühllosen, dunklen Augen meine Beine, und im nächsten lag das Gehirn seines Partners überall auf dem Waldboden, und Nikolai schlitzte meinen Angreifer auf und drohte, ihm die Eingeweide herauszuschneiden.
Ich schlucke einen Anflug von Übelkeit hinunter und unterdrücke die Erinnerung. So brutal Nikolais Verhörmethoden auch waren, sie brachten doch einige Ergebnisse, und nachdem der Schock abgeklungen ist und sich mein Verstand vom Dunst der Narkose befreit hat, kann ich endlich über die Auswirkungen dessen nachdenken, was ich erfahren habe.
Sie waren da, um euch beide zu töten, hatte Nikolai mir im Auto gesagt, bevor er mich fragte, ob mir der Name Tom Bransford etwas sagt.
Was er auch tut.
Weil er in letzter Zeit überall in den Nachrichten war.
Mit unsicherer Hand greife ich zur Fernbedienung, mache den Fernseher an und schalte einen Nachrichtensender ein.
Natürlich berichten sie über die Vorwahldebatten, die Bransford zu gewinnen scheint, da er in allen Umfragen vorne liegt.
Mein Inneres kocht, während ich sein Bild auf dem Bildschirm betrachte. Wenn Nikolai die Wahrheit sagt, ist das der Mann, der für den Mord an meiner Mutter verantwortlich ist.
Mit seinen fünfundfünfzig Jahren ist der kalifornische Senator jung und schlank und versprüht Charme und Charisma. Sein dichtes, goldblondes Haar ist kaum mit Grau durchzogen, seine Augen sind strahlend blau und sein Lächeln ist strahlend genug, um ein Lagerhaus zu beleuchten.
Kein Wunder, dass man ihn mit John F. Kennedy vergleicht – er könnte der noch schönere Bruder des toten Präsidenten sein.
Ich suche nach Zeichen des Bösen in seinem ebenmäßigen Gesicht und finde keine. Aber dann wiederum … warum sollte ich? Wie gut Bransford auch aussehen mag, er kann Nikolais dunkel-magnetischer Anziehungskraft nicht das Wasser reichen, und ich weiß, wozu er fähig ist. Ich bin auch nicht die Einzige, die von Nikolai geblendet ist. Selbst als ich von der Narkose benebelt war, konnte ich die begehrlichen Blicke nicht übersehen, die die Krankenschwestern ihm heimlich zuwarfen.
Ich war noch nie mit meinem Arbeitgeber in der Öffentlichkeit unterwegs, aber ich stelle mir vor, dass links und rechts Höschen fallen, wenn er die Straße entlanggeht.
Ein bizarrer Anflug von Eifersucht befällt mich bei dem Gedanken, und ich merke, dass ich von der eigentlichen Frage abgelenkt werde.
Warum?
Warum sollte ein führender Präsidentschaftskandidat mich und meine Mutter töten wollen?
Das ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen. Mom hätte nicht weiter von der Politik entfernt sein können, wenn sie im Amazonas-Dschungel gelebt hätte, und Gott weiß, dass ich das Zeug nicht verfolge. So peinlich es auch ist, das zuzugeben, aber bei der letzten Wahl habe ich nicht einmal gewählt, da ich zu sehr damit beschäftigt war, das College zu beginnen. Bransford habe ich auch noch nie getroffen. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter, und seines ist einprägsamer als die meisten.
Vielleicht war Mom ihm irgendwo begegnet? Vielleicht in dem Restaurant, in dem sie arbeitete?
Theoretisch ist das möglich. Das gehobene Hotel, an das das Restaurant angeschlossen ist, wird von allen möglichen VIPs besucht. Vielleicht hatte Bransford dort während eines Besuchs in Boston übernachtet, und Mom wurde Zeuge, wie er etwas tat, was er nicht hätte tun sollen.
Aber warum sollte er mich dann auch noch töten wollen? Es sei denn … er hat Angst, dass Mom mir erzählt hatte, was immer sie über ihn wusste?
Heilige Scheiße. Vielleicht hat sie irgendwelche Beweise in ihrer Wohnung versteckt und er denkt, ich weiß, wo sie sind.
Aufgeregt setze ich mich auf, nur um mit einem Stöhnen zurück auf den Kissenberg zu fallen. Die Betäubung lässt definitiv nach, denn diese Bewegung schmerzt. Sehr sogar. Es fühlt sich an, als würden heiße Messer in meinen Arm einsinken, und dem Rest meines Körpers geht es nicht viel besser.
Es ist, als ob ich von einem echten LKW umgerissen worden wäre, anstatt von einem Attentäter in der Größe eines LKWs.
Bevor ich zu Atem kommen und mich wieder konzentrieren kann, öffnet sich die Tür, und Nikolai kommt mit einem Tablett mit abgedecktem Geschirr herein.
Mein Herz beginnt zu rasen, und das bisschen Atem, das ich noch hatte, entweicht aus meinen Lungen.
Ohne den Schleier des Schocks, der meine Sinne trübt und die Ablenkung durch das medizinische Personal, das um mich herumwuselt, ist seine Wirkung auf mich verheerend und erschreckend stark. Ich habe noch nie einen Mann gekannt, der meinen Körper dazu bringen kann, zu reagieren, nur weil er einen Raum betritt. Und es ist nicht nur sein Aussehen; es ist alles an ihm, von der rohen, animalischen Intensität in seinen markanten bernstein-grünen Augen bis hin zu der Aura der Macht, die er so bequem wie einen seiner maßgeschneiderten Anzüge trägt.
Im Moment ist er legerer gekleidet, mit einer dunklen Jeans und einem hellblauen Button-up-Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt sind. Er muss sich umgezogen und geduscht haben, während ich operiert wurde. Nicht nur seine Kleidung ist anders als im Auto, sondern auch der Fleck auf seinem Wangenknochen ist verschwunden, und sein rabenschwarzes Haar ist nass nach hinten geglättet, was die scharfe Symmetrie seiner markanten Gesichtszüge offenbart.
Gierig fahren meine Augen über sein Gesicht, von den dicken schwarzen Augenbrauen bis hin zu der vollen, sinnlichen Form seines Mundes. Ausnahmsweise ist er nicht auf seine dunkle, zynische Art gekrümmt – stattdessen ist das Lächeln auf seinen Lippen warm, voller beunruhigender Zärtlichkeit.
»Ich habe Pavel gebeten, ein paar Reste aufzuwärmen und eine Auswahl an verschiedenen Snacks vorzubereiten«, sagt er und durchquert den Raum in meine Richtung, während ich reflexartig den Fernseher ausschalte. Seine tiefe, rau-seidige Stimme ist wie eine Liebkosung für meine Ohren, so viel angenehmer als die schrillen Töne des Nachrichtensprechers. Er stellt das Tablett auf meinen Nachttisch, setzt sich neben mich und fängt an, die Teller einen nach dem anderen abzudecken. »Ich dachte mir, dass du vielleicht mit etwas Übelkeit zu kämpfen hast, deshalb habe ich hier auch ein paar einfache Toasts.«
Wow. Könnte er noch rücksichtsvoller sein? Hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er tötet und foltert, hätte ich ihm niemals solche Grausamkeiten zugetraut – trotz der dunklen, gefährlichen Aura, die ich immer wieder bei ihm wahrnahm.
»Danke«, murmele ich und versuche, nicht daran zu denken, wie seine Hände ein Messer geschwungen haben, um einen Mann aufzuschlitzen, während er mir das Tablett entgegenhält und mich auswählen lässt, was ich möchte. Es gibt alles, von aufgeschnittenem Obst über gefüllte Blintze bis hin zu Aufschnitt und verschiedenen Käsesorten. Aber mir ist immer noch schlecht, vor allem, weil die grausamen Bilder nicht aus meinem Kopf verschwinden wollen, also nehme ich nur den einfachen Toast und eine Handvoll Weintrauben.
Er sieht mir mit einem zufriedenen halben Lächeln beim Essen zu, und ich versuche, nicht daran zu denken, wie warm angenehm ich mich durch dieses Lächeln fühle – und das nicht nur auf eine sexuelle Art und Weise. Es ist eine Illusion, dieses Gefühl der Sicherheit und des Trostes, das er mir gibt, ein Überbleibsel aus der Zeit, als ich dachte, er sei ein guter Mann, der nur Schwierigkeiten hatte, eine Basis mit seinem kleinen Sohn zu finden.
Ich fing an, mich in diesen Mann zu verlieben.
Nein. Ich belüge mich selbst. Ich habe mich in ihn verliebt, so sehr, dass ich trotz Alinas erschreckender Enthüllungen, die mir in den Ohren klangen, mein Auto wendete und auf dem Weg zurück war, als die Attentäter mich überfielen.
Seine eigene Schwester sagte mir, dass er ein Monster sei, und ich glaubte ihr nicht. Ich wollte ihr nicht glauben.
Das will ich immer noch nicht.
»Wo ist Slava? Wie geht es ihm?«, frage ich und entscheide mich damit für das unverfänglichste Thema, das mir einfällt. Es gibt so viele Dinge, die wir besprechen müssen, von Bransfords Motivationen bis hin zu der Frage, ob ich hier eine Gefangene bin oder nicht, aber ich bin noch nicht bereit, das zu tun.
Vor allem die letzte Frage ist im Moment zu beunruhigend, um darüber nachzudenken.
»Er ist gerade von einem Spaziergang mit Lyudmila zurückgekehrt«, antwortet Nikolai. »Alina hat ihn vor unserer Ankunft wegbringen lassen.«
»Ah, gut.« Ich war besorgt, dass das Kind uns von seinem Fenster aus gesehen haben könnte. »Was wirst du ihm erzählen … du weißt schon …?« Ich zeige mit der linken Hand auf meine Schlinge.
»Wir werden einfach sagen, dass du auf einen Ast gefallen bist.« Sein Kiefer strafft sich. »Mir wäre es lieber, er wüsste nicht, dass du ihn verlassen hast.«
»Ich habe ihn nicht …« Ich halte inne, denn genau das habe ich. Ich wollte zurückkommen, aber Nikolai weiß das nicht. Ich habe auch nicht vor, es ihm zu sagen.
Ich will nicht, dass er weiß, wie leicht er mich getäuscht hat, und dass ein Teil von mir sich selbst jetzt noch weigert, zu glauben, dass er ein ebenso skrupelloser Killer ist wie die Männer, die meine Mutter ermordet haben.
Seine Tigeraugen verengen sich mit spekulativem Interesse. »Du hast was nicht?«
»Nichts.« Das Wort kommt zu schnell aus meinem Mund. Ich rede weiter, um es zu überspielen. »Ich meinte nur, ich habe nicht ihn verlassen.«
Es ist, als würde eine Gewitterwolke über Nikolais Gesicht ziehen, die alles Licht und alle Wärme ausblendet. Sein Blick wird verschlossen, und seine umwerfenden Gesichtszüge nehmen eine statuenhafte Härte an. »Ah. Du hast mich verlassen. Wegen dem, was Alina dir erzählt hat.«
Ich schlucke trocken. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich schon bereit bin, darüber zu reden, aber es sieht so aus, als hätte ich keine Wahl. Ich ignoriere den pochenden Schmerz in meinem Arm und drücke mich in eine aufrechtere Position. »Hat sie gelogen?« Meine Stimme zittert leicht. »Hat sie sich das alles ausgedacht?«
Er blickt mich an, und die Stille dehnt sich zu schmerzhaft langen Sekunden aus. »Nein«, sagt er schließlich. »Hat sie nicht.«
Etwas in mir verdorrt. Bis zu diesem Moment hatte ich immer noch die Hoffnung, dass seine Schwester sich geirrt hat, dass er trotz dessen, was er den beiden Attentätern angetan hat, nicht seinen eigenen Vater umgebracht hat. Aber jetzt gibt es keinen Raum mehr für Zweifel.
Der Mann vor mir hat gerade zugegeben, seinen Vater ermordet zu haben.
»Was ist passiert? Warum …« Meine Stimme versagt. »Warum hast du das getan?«
Er antwortet für einen weiteren langen, nervenaufreibenden Moment nicht. Sein Gesicht ist das eines Fremden, dunkel und verschlossen. »Weil er es verdient hat.« Seine Worte fallen wie ein Hammer, schwer und brutal. »Weil er ein Molotow war. Wie ich.«
Ich befeuchte meine trockenen Lippen. »Ich verstehe das nicht.« Mein Herz pocht gegen meinen Brustkorb, jeder Schlag hallt in meinen Ohren wider. Ein Teil von mir will die Sache beenden und schreiend weglaufen, während ein anderer, unendlich viel törichterer Teil, sich danach sehnt, meine Handfläche über die harte, kompromisslose Linie seines Kiefers zu legen und mit meiner Berührung Trost zu spenden.
Denn unter dieser harten, emotionslosen Fassade verbirgt sich Schmerz.
Das muss er.
Er öffnet seinen Mund, um zu antworten, als jemand an die Tür klopft. Das Geräusch ist leise, zaghaft, aber es tötet den Moment so sicher wie ein Pistolenschuss.
Nikolai springt auf und geht zur Tür, um sie zu öffnen.
»Konstantin ist am Telefon«, sagt Alina von der Tür her. »Sein Team hat etwas gefunden.«