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NIKOLAI
Meine Schwester fängt mich ab, sobald ich aus Chloes Zimmer trete. Sie muss die ganze Zeit im Flur gewartet haben.
»Wie geht es ihr?«
»Sie wird überleben, aber nicht dank dir.« Mein Tonfall ist hart, aber das ist mir scheißegal.
Es ist Alinas Schuld, dass wir in diesem Schlamassel stecken. Sie hat Chloe erzählt, dass ich unseren Vater getötet habe. Sie gab ihr die Autoschlüssel und ermöglichte ihr damit die Flucht.
Bei meinen Worten zuckt Alina zusammen, aber sie bleibt stehen. Ihr Gesicht ist immer noch blass und aufgedunsen, aber ihre grünen Augen sind klar, und sie riecht nicht mehr nach einem Drogencocktail. »Ich meine, wie ist ihr Zustand? Was hat der Arzt gesagt?«
Ich seufze und fahre mir mit einer Hand durch die Haare. »Sie hatte Glück. Die Kugel ging direkt durch ihren Arm und verfehlte nur knapp den Knochen. Sie hat eine ganze Menge Blut verloren, aber nicht genug, um eine Transfusion zu benötigen. Außerdem hat sie einen verstauchten Knöchel. Ansonsten hat sie nur blaue Flecken und Schürfwunden am ganzen Körper.«
»Kolya …« Meine Schwester sieht so unglücklich aus, wie ich sie noch nie gesehen habe. »Es tut mir wirklich leid. Ich wusste nichts von dem …«
»Hör auf damit.« Ich bin nicht in der Stimmung, mir ihre Entschuldigungen und Rechtfertigungen anzuhören. Sie hat vielleicht nicht gewusst, dass die Mörder Chloe jagen, aber das entschuldigt nicht, was sie getan hat. Auch nicht die Tatsache, dass sie high von ihren Medikamenten war. Bevor ich etwas sage, was ich später bereue, frage ich: »Wo ist Slava?«
»Lyudmila ist mit ihm die Wachen besuchen. Ich habe sie gebeten, ihn vorerst aus dem Weg zu halten, da … du weißt schon.« Sie winkt in Richtung Chloes Tür.
»Gute Idee.« Ich weiß, dass ich meinen Sohn nicht verhätscheln sollte, aber es widerstrebt mir seltsamerweise, ihn der brutalen Realität unseres Lebens auszusetzen, so wie es unser Vater mit mir getan hat. Jagen und Fischen ist eine Sache – ich bin froh, dass Pavel Slava das beibringt, zusammen mit anderen vielleicht überlebenswichtigen Dingen – aber ich möchte lieber nicht, dass er seine Lehrerin blutverschmiert sieht.
Irgendwann wird er lernen, was es heißt, ein Molotow zu sein, aber jetzt noch nicht.
Alina sieht erleichtert über mein Lob aus. »Also, was ist passiert?«, fragt sie und folgt mir, als ich in mein Zimmer gehe. »Wer hat die Attentäter auf sie angesetzt?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Eine, die ich selbst noch verdaue. »Es genügt, zu wissen, dass sie immer noch in Gefahr ist.«
Alina ergreift meinen Ärmel und hält mich fest. »Du hast also nicht …?«
»Das habe ich.« Ich schoss einem der Attentäter eine Kugel ins Gehirn und verwundete den anderen so schwer, dass er kurz darauf starb – aber nicht, bevor ich nicht einen Namen aus ihm herausbekommen hatte.
Einen Namen, mit dem ich immer noch versuche klarzukommen.
Meine Schwester schaut mich stirnrunzelnd an. »Aber du glaubst, es kommen noch mehr.«
»Da bin ich mir ganz sicher.«
»Warum? Wer ist sie, Kolya?«
»Genau das will ich herausfinden.«
Ich ziehe mich aus ihrem Griff, gehe in mein Zimmer und schließe die Tür.
* * *
Obwohl Chloe immer noch bewusstlos ist, will ich unbedingt zu ihr zurück, also dusche ich schnell und ziehe mich um. Dann schicke ich eine Nachricht an Konstantin, in der ich ihn auf den neuesten Stand bringe und sein Team von Hackern bitte, den Mann zu überprüfen, den der Attentäter als seinen Auftraggeber genannt hat.
Tom Bransford.
Der Präsidentschaftskandidat, der der Vater von Chloe sein könnte.
Den letzten Teil weiß sie noch nicht, und ich weiß nicht, ob ich etwas über meinen Verdacht sagen soll, bis ich konkretere Beweise habe. Im Moment sind die Beweise bestenfalls Indizien, und wenn ich mich irre, hat Chloe noch mehr Grund, mich für ein verdrehtes Monster zu halten.
Was ich auch bin. Aber ich will einfach nicht, dass sie so über mich denkt.
Meine Brust zieht sich zusammen, als ich an das süße, strahlende Lächeln denke, das sie mir schenkte, bevor die Medikamente in der Infusion wirkten. Ich will mehr davon, und nicht den leeren, verängstigten Blick, den sie im Wald hatte, als ich mit der Waffe in der Hand auf sie zukam, nachdem ich einen ihrer Angreifer getötet und den anderen verwundet hatte.
Ich will nie wieder diesen Blick auf ihrem Gesicht sehen.
Alina ist weg, als ich auf den Flur trete und zurück in Chloes Zimmer eile. Ich weiß, dass es ihr gut geht, wenn der Arzt und die Schwestern sie beobachten, aber ich kann nichts gegen die Angst tun, die in jedem Moment, in dem ich sie nicht im Blick habe, an mir nagt. Sie war so verdammt nah dran, zu sterben. Wenn ich ein paar Minuten später aufgetaucht wäre, wenn Konstantins Team nicht in der Lage gewesen wäre, sich in den NSA-Satelliten zu hacken, um ihre genaue Position herauszufinden, wenn die Kugel ihren Körper ein paar Zentimeter weiter links durchschlagen hätte – es gibt eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, wie das anders hätte ausgehen können.
Eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, wie ich sie hätte verlieren können.
»Sie sollte in ein paar Minuten zu sich kommen«, informiert mich der Arzt, als ich ihr Zimmer betrete. Er ist einer der besten Unfallchirurgen im Staat. Pavel hat ihn und sein Team mit einem Hubschrauber aus Boise einfliegen lassen, für eine exorbitante Gebühr, die sowohl ihre Dienste als auch ihre Diskretion erkauft.
»Gut. Danke.« Ich ignoriere die Blicke der beiden Krankenschwestern und nähere mich Chloe. Mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich die gräuliche Färbung ihrer gebräunten Haut bemerke. Sie haben das Blut und den Dreck von ihrem Gesicht und ihren Armen gewaschen und ihr einen Krankenhauskittel angezogen, aber ihr Haar ist immer noch verfilzt, mit ein paar Zweigen und Blättern in den goldbraunen Strähnen.
Ich entferne den Schmutz und lasse ihn auf den kleinen Tisch neben ihrer Trage fallen. Ich hasse es, sie so zu sehen, so klein und zerbrechlich und verwundet. Ich würde alles dafür geben, wenn ich die Kugel für sie hätte abfangen können, oder noch besser, wenn ich ein paar Stunden früher aufgewacht wäre und sie davon abgehalten hätte, zu gehen.
Ich streiche zärtlich mit meinen Knöcheln über ihren zarten Kiefer. Ihre Haut ist weich und warm. Ich kann mich nicht zurückhalten, mit meinem Daumen über ihre leicht geöffneten Lippen zu streichen. Weiche, puppenhafte Lippen, die obere etwas voller als die untere. Sündige Lippen, die einen Heiligen verführen könnten – nicht, dass ich einer wäre oder jemals einer war.
Ich ziehe meine Hand weg, bevor mein Körper unangemessen reagieren kann. Ich gehe zu einem Stuhl in der Ecke des Raumes und setze mich hin, um zu warten, während der Arzt im Badezimmer verschwindet. Die Krankenschwestern packen die Ausrüstung zusammen – sobald Chloe wieder zu Bewusstsein kommt und stabil ist, werden sie gehen.
Wie der Arzt gesagt hatte, vergehen nur wenige Minuten, bevor Chloe sich rührt und ein leises Geräusch ihren Lippen entweicht, während sie die Augenlider öffnet. Ich bin sofort auf den Beinen und durchquere den Raum in ihre Richtung.
»Hi«, murmelt sie schläfrig und blinzelt zu mir hoch. »Haben sie schon …«
»Ja, zajchik.« Ich umfasse sanft ihre linke Hand, wobei ich darauf achte, die Infusion in ihrem Arm nicht zu berühren. Ihre zarten Finger sind kalt in meinen, obwohl das Laken sie bis zur Brust bedeckt. »Wie fühlst du dich? Möchtest du etwas trinken?«
Sie blinzelt wieder, immer noch deutlich benommen, also drücke ich einen Knopf, um die Liege in eine halb sitzende Position zu heben, und dann halte ich einen Becher Wasser mit einem Strohhalm an ihre Lippen. Sie saugt gierig daran, was mich zum Lächeln bringt.
Der Arzt eilt herbei, und ich trete zurück, um ihn und sein Team arbeiten zu lassen. Die Krankenschwestern legen Chloes rechten Arm in eine Schlinge, während er ihr ein paar Fragen stellt und ihre Werte misst. Dann entfernen sie die Infusion und alle Überwachungsgeräte.
Sie wurde als wach und stabil eingestuft.
»Nehmen Sie das je nach Bedarf gegen die Schmerzen«, sagt der Arzt und legt eine Packung Tabletten auf den Tisch. »Und achten Sie darauf, dass der Verband nicht nass wird. Er muss alle vierundzwanzig Stunden gewechselt werden.« Er blickt zu mir, und ich nicke.
Ich habe ziemlich viel Erfahrung mit Schusswunden und übernehme gerne die Rolle von Chloes Krankenschwester. Worüber ich nicht glücklich bin, sind die Schmerzmittel, aber ich weiß, dass sie sie brauchen wird.
Ihre Verletzung ist vielleicht nicht lebensbedrohlich, aber sie wird trotzdem höllisch wehtun.
»Ich mach das«, sage ich, als die Krankenschwestern Chloe hochheben, vermutlich, um sie in ihr Bett zu bringen. Ich scheuche sie weg, hebe sie vorsichtig hoch und trage sie selbst hinüber – keine schwierige Aufgabe, denn sie ist kaum schwerer als Slava. Obwohl sie in der Woche, in der sie hier war, wie ein Holzfäller gegessen hat, ist mein Zajchik immer noch viel zu dünn von dem Monat auf der Flucht.
Chloe zuckt zusammen, als ich sie hinlege, und ich spüre es wie einen Stich in den Magen. Ich war noch nie zuvor so sehr mit einer anderen Person verbunden, dass ich ihren Schmerz als meinen eigenen empfand. Wenn es irgendeinen Zweifel in meinem Kopf darüber gab, was sie mir bedeutet, verschwand er in dem Moment, als ich sah, dass ihr Toyota aus der Garage verschwunden war.
Ich hatte noch nie so viel Wut und Angst verspürt wie in dem Moment, als ich erfuhr, dass die Attentäter in der Gegend waren – als ich dachte, ich würde sie nicht rechtzeitig finden.
Mein Bauch rumort, und ich schiebe den Gedanken beiseite, bevor ich versucht bin, Alina zu erwürgen. Das Wichtigste ist jetzt, dass Chloe hier bei mir in Sicherheit ist. Ich habe Pavel bereits gesagt, dass er unsere Sicherheitsvorkehrungen verstärken soll, für den Fall, dass die Attentäter herausgefunden haben, wer Chloe angeheuert hat, und diese Information an ihren Auftraggeber weitergegeben haben, bevor ich sie gefunden habe. Ich bezweifele es – derjenige, den ich gefoltert habe, schien keine Ahnung zu haben, wer ich bin –, aber ich werde kein Risiko eingehen.
Außerdem gibt es immer die Bedrohung durch die Leonows. Alexej wird jetzt noch wütender sein, da wir den lukrativen tadschikischen Atomreaktorvertrag von Atomprom, dem Unternehmen seiner Familie, gestohlen haben.
Ich verdränge auch diesen Gedanken und konzentriere mich darauf, Chloe auf ein paar Kissen zu stützen und sie mit einer Decke zuzudecken, während der Arzt und sein Team die Trage und die gesamte Ausrüstung aus dem Raum fahren.
Eine Minute später sind wir endlich allein.
Ich setze mich auf die Kante ihres Bettes und nehme ihre kleine Hand in meine. »Liegst du bequem, zajchik?«, frage ich und reibe ihre kalte Handfläche. »Kann ich dir etwas bringen? Etwas zu trinken oder zu essen? Ich kann mir vorstellen, dass du Hunger hast.«
Sie schluckt und nickt. »Etwas Essen wäre toll.« Sie sieht jetzt wacher aus, und ihre großen, braunen Augen sind deutlich vorsichtiger. Ihre Angst hat eine zweischneidige Wirkung auf mich. Sie lässt meine Brust schmerzen, während sie den primitiven, verdrehten Teil von mir erweckt, der sie jagen und markieren will, um sie auf die brutalste Art und Weise zu beanspruchen.
Ich unterdrücke den dunklen Instinkt, hebe ihre Hand an meine Lippen und küsse ihre Knöchel. »Ich werde dir etwas bringen. Willst du etwas zur Unterhaltung, während du wartest? Ein Buch oder …«
»Ich werde einfach fernsehen.«
Ich lächele und reiche ihr die Fernbedienung. »Okay. Ich bin gleich wieder da.«
Ich beuge mich vor, gebe ihr einen schnellen Kuss auf die Stirn und verlasse eilig das Zimmer.